"Eine sehr ernsthafte Krise, weil es eine Vertrauenskrise ist"
"Die Bischöfe müssen aufpassen, dass sie überhaupt noch einen Zusammenhang mit dem Volk haben", warnt der Theologe Hand Küng. Viele Menschen in den Gemeinden sagten heute "Ich glaube an Gott trotz der katholischen Kirche." Von Papst Benedikt XVI. fordert Küng, die ihm zur Verfügung stehenden großen Chancen endlich zu nutzen.
Ita Niehaus: Die Gotteshäuser sind leer, der sexuelle Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche bestimmt immer wieder die Schlagzeilen, ein Bischof muss zurücktreten, weil er Kinder geschlagen hat. Immer mehr katholische Gläubige haben das Vertrauen in ihre Kirche verloren, verlassen sie. Und die Forderungen nach Aufbruch und Erneuerung werden auch immer lauter. Die katholische Kirche hat wahrhaft ein paar Probleme. Nur ein paar Probleme oder steckt sie in einer tiefen Krise? Und wenn ja, wie kommt sie raus aus dieser Situation? Darüber sprach ich vor dieser Sendung mit dem katholischen Tübinger Theologen und Kirchenkritiker Professor Dr. Hans Küng. Herr Professor Küng, wie tief geht die Krise der katholischen Kirche?
Hans Küng: Ja, von hier aus es ist schon eine sehr ernsthafte Krise, weil es eine Vertrauenskrise ist. Die Hierarchie ist durch diese ganzen Misstrauensfälle in Misskredit gekommen, weil man das alles geduldet hat, weil man die Priester einfach wieder weiter in eine andere Pfarrei verpflanzt hat und so weiter. Das hat ungeheuer geschadet, aber es stimmt auch etwas an der Spitze nicht.
Papst Benedikt hat zu viele Dinge gemacht, die im Volk nicht verstanden wurden, und insofern würde ich nun allerdings einen Unterschied machen zwischen der katholischen Kirche aus der großen Glaubensgemeinschaft einerseits und dem römischen System andererseits. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Niehaus: Die Menschen wollen Orientierung, Kirche muss auch sinnstiftend tätig sein, muss Antworten geben können auf drängende Fragen. Erreicht die katholische Kirche die Gläubigen noch?
Küng: Jedenfalls nur mit Schwierigkeiten. Sie ist sehr oft ein Hindernis, um überhaupt den Glauben zu verstehen. Früher konnte man sagen, etwa wie der Kirchenlehrer Augustin, ich würde nicht an Gott glauben, wenn es nicht die katholische Kirche gäbe, heute sagen viele, ich glaube an Gott trotz der katholischen Kirche.
Niehaus: Sind die Kardinäle und Bischöfe, die Kirchenoberen also, überhaupt noch mit der Basis verbunden, wissen die noch, was die Menschen bewegt, was sie von ihrer Kirche erwarten?
Küng: Ich glaube, dass sie viel zu abgehoben leben. Natürlich reden sie mit Leuten, das ist klar, aber wenn so ein Bischof auf Firmenreise kommt und offiziell auftritt, dann ist der da immer eine besondere Gestalt und findet also viel Verneigung und manchmal auch also, ja, kurze Gespräche. Jedenfalls haben viele Menschen den Eindruck, dass die Hierarchie abgehoben ist und sie nicht versteht. Ich komme ja gerade vom Ökumenischen Kirchentag in München zurück, und da hat man immer wieder Beifall bekommen, wenn man irgendeine kritische Anmerkung machte. Und insofern müssen die Bischöfe aufpassen, dass sie überhaupt noch einen Zusammenhang mit dem Volk haben. Wir können keine Menschen mit fürstbischöflichen Tendenzen haben, die einfach meinen, sie könnten machen, wie sie wollen. Sie hören einfach zu wenig auf die Klagen des Volkes. Es sind viele Reformanliegen verbreitet, aber von den Bischöfen hört man nichts dazu.
Niehaus: Und in den Gemeinden, in vielen Gemeinden wird ja auch schon lange über diese Reformen, wie etwa die Abschaffung des Zölibats oder die Gleichberechtigung der Frau diskutiert. Und auf dem Ökumenischen Kirchentag vor Kurzem wurde ja auch zu einem Aufbruch der Christen aufgerufen. Was müsste denn nun als Erstes geschehen, um dieser schweren Krise erfolgreich zu begegnen?
Küng: Es müsste jedenfalls mal mit den Bischöfen ehrlich über die Situation geredet werden. Man hat jahrelang überhaupt das Thema Zölibat tabuisiert, man hat die Kritiker, die das angepackt haben, schlechtgemacht. Es müsste offen diskutiert werden und dann müssen einfach die Anliegen mal ernst genommen werden. Eine katholische Kirche, die sich auf die Bibel beruft, kann doch nicht ständig gegen die Bibel handeln, wo ganz klar afirmiert ist, dass ein Bischof, ein Priester eine Frau haben kann. Wie kann man denn das einfach verbieten? Das ist eine Angelegenheit, die wirklich grundsätzlich aufgearbeitet werden muss.
Niehaus: Sie kennen Papst Benedikt gut, haben mit ihm zusammengearbeitet. Glauben Sie, dass er in der Lage ist, sozusagen das Ruder herumzuwerfen, Akzente zu setzen, die die Glaubwürdigkeit der Kirche wieder herstellen können?
Küng: Ja, das wäre natürlich dringend notwendig, und er hätte ja juristisch gesehen alle Vollmacht. Er könnte bei diesem absolutistischen System, das wir haben, morgen kommen und sagen, ich habe mir das alles überlegt und wir wollen doch also jetzt die Frage der Ehelosigkeit eine freiwillige Sache machen, wie das im Neuen Testament von Paulus gesagt ist. Der eine hat eben dieses Charisma, diese Gabe, und der andere eine andere. Das könnte er. Aber ob er die Kraft findet, ob er nicht so lang in dieser vatikanischen Atmosphäre gelebt hat, das ist ein kleiner Staat für sich und auch eine Mentalität für sich. Es ist die Frage, ob er da durchbrechen kann. Ich hatte angenommen, er würde jetzt auch die Kurve kriegen, um wieder auf das Zweite Vatikanische Konzil einzuschwenken, aber faktisch hat er gerade das Gegenteil getan, er hat vier schismatische Bischöfe, die außerhalb der katholischen Kirche geweiht wurden, hat er aufgenommen, obwohl die ganz klar gegen das Zweite Vatikanum eingestellt sind und dazu noch antisemitische Tendenzen gezeigt haben.
Niehaus: Vor Kurzem haben Sie auf die Frage, ob Sie selbst gerne Papst geworden wären, den reformierten Theologen Karl Barth zitiert: "Einen Tag wäre ich gerne Papst geworden, dann hätte ich alles geregelt." Das hört sich ja so an, als wollten Sie den Papst abschaffen, wenn man alles an einem Tag regeln kann?
Küng: Nein, nein, ich will ihn nicht abschaffen, ich möchte im Gegenteil, dass er seine Aufgabe ernst nimmt. Das Papstamt oder, wie wir lieber sagen von der Bibel her, ein Petrusamt in der Kirche, das ein inspirierendes, rekurrierendes Zentrum sein könnte, hätte ja wahnsinnige Möglichkeiten. Und ich bedaure das eben, dass ein Papst sich einfach begnügt mit den üblichen Audienzen und Ansprachen und all dem, was halt nun mal damit verbunden ist im Vatikan, aber dass er die großen Chancen nicht sieht, die er haben könnte, wenn er zum Beispiel jetzt die Mischehenfrage mal endlich regeln würde, dass er die Wiederverheirateten und Geschiedenen zu den Sakramenten wieder zulässt, Kommunion zulässt, wenn er die unselige Enzyklika gegen die Pille Humanae Vitae revidieren würde, wenn er die Frauenordination zugestehen würde, wenn er überhaupt eine Aufwertung der Frauen in der Kirche vornehmen würde und wenn er vor allem auch, was ja viele Protestanten ebenso bewegt, nun die Abendmahlsgemeinschaft zwischen Katholiken und Evangelischen ermöglichen würde. Das wären doch alles gewaltige Chancen, und leider hängt das alles bei uns in diesem absolutistischem System an einem Mann. Und wenn der das nicht einsieht, so passiert halt nichts. Das ist, warum wir derartig in die Klemme geraten sind.
Niehaus: Was hätten Sie denn an dem einen Tag als Papst als Erstes geregelt?
Küng: Na ja, das habe ich immer gesagt, das ist nicht das Wichtigste, was man als Erstes macht, wenn man nur etwas macht. Und bisher hat man halt nichts gesehen davon, dass irgendeine entscheidende kühne Tat erfolgt ist.
Niehaus: Damit sich endlich was bewegt, haben Sie ja sogar die Bischöfe sozusagen zum Widerstand gegen den Papst aufgefordert. Wie weit müsste man denn gehen? Darf es jetzt noch Tabuthemen geben?
Küng: Es darf überhaupt keine Tabuthemen geben, man soll einfach mal über alles reden. Und jedenfalls die Reformanliegen, die ich genannt habe, sind ja ganz allgemeine Reformanliegen, sind ja nicht meine Spezialitäten. Die Bischöfe müssen schon ernst nehmen, dass weltweit hier nun ein anderer Wind weht. Wenn ich denke, nicht wahr, ich habe gerade gelesen von den Vereinigten Staaten die neueste Umfrage: Drei Viertel, also drei von vier, drei Viertel der amerikanischen Katholiken halten es für möglich, Gute in der katholischen Kirche zu sein, guter Katholik zu sein und doch nicht dem Papst zu gehorchen. Das sollte doch eigentlich aufhorchen lassen.
Niehaus: Sie persönlich sind ja trotz aller Kritik, glaube ich, nie auf die Idee gekommen, die katholische Kirche zu verlassen. Was ist an der katholischen Kirche, dass ein so kritischer Mensch wie Sie, mit Verlaub, treu zu ihr hält?
Küng: Nun, wissen Sie, ich bin ja nicht wegen der Hierarchie und wegen dem Papst katholisch, sondern wegen der großen Glaubensgemeinschaft, die also nun bei allen Schwächen und dunklen Seiten eine doch großartige Geschichte hat. Wenn ich das durch die 2000 Jahre ansehe, was da alles nun Gutes geschehen ist durch diese gläubigen Menschen. Und um deretwillen kann ich halt diese Kirche nicht aufgeben. Und dann das Zweite ist: Ich kann in dieser Kirche immer noch die christliche Botschaft hören, das Evangelium. Das ist eine befreiende Botschaft, eine hilfreiche, erfreuliche Botschaft, und die möchte ich auch nicht aufgeben.
Niehaus: Seit Jahrzehnten engagieren Sie sich für Reformen innerhalb der katholischen Kirche, viel hat sich nicht bewegt. Ist die katholische Kirche überhaupt reformierbar?
Küng: Ja, viel hat sich bewegt. Wenn ich das denke, ich habe ja schon am Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren teilgenommen, wie die Kirche da vorher aussah und wie jetzt, das kann man etwa zum Beispiel am Wortgottesdienst sehen. Wir haben heute doch einen Gottesdienst, der, wenn er gut gestaltet ist, wirklich die Menschen einbezieht. Man kann auch nicht übersehen, dass das Verhältnis zwischen katholischen und evangelischen Christen sich ganz wesentlich verbessert hat. In den oberen Regionen hat man noch nichts gelernt, in den oberen Etagen der Kirchenhierarchie, aber unten in den Gemeinden herrschen doch gute Beziehungen unter den Gemeinden. Und vor allem herrschen ganz anders gute Beziehungen zwischen den Seelsorgern, den Pfarrern und auf beiden Seiten. Es kommt heute keinem vernünftigen katholischen Pfarrer in den Sinn, seinen Kollegen aus der evangelischen Kirche nach römischer Doktrin als ungültig amtierenden Amtsbruder anzusehen, das ist ja doch Unsinn. Also es haben sich viele Dinge geändert, und die Kirche selber hat ja auch noch eine Wende vollzogen, die glücklicherweise nicht rückgängig gemacht werden kann, gegenüber dem Judentum, gegenüber dem Antisemitismus, aber auch gegenüber dem Islam, den anderen Weltreligionen, ja, der modernen säkularen Welt überhaupt.
Niehaus: Damit sich noch mehr bewegt, muss die Erneuerung also von unten kommen, weil sie quasi nur von unten kommen kann?
Küng: Ja, sie muss von unten kommen. Wissen Sie, von oben haben wir eine Revolution im elften Jahrhundert erlebt, am Anfang des zweiten Jahrtausends. Da hat die sogenannte Reform Gregors VII., die gregorianische Reform uns diesen Absolutismus des Papstes gebracht, den er gegen die deutschen Kaiser – Canossa ist da ein Symbol auch dafür – erkämpft hat. Da hat er uns einen forcierten Radikalismus gebracht, der gegen die Laien eingestellt ist, und er hat uns auch damals im elften Jahrhundert das Zölibatsgesetz gebracht und vieles anderes, das ganze Kirchenrecht ist da gegründet worden. Wenn wir es besser machen wollen, dann muss sich wieder die offizielle Kirche nach dem Evangelium richten, nach dem, was Jesus selber täte, wenn er hier wäre, wenn er zurückkäme, und nicht nach diesen mittelalterlichen Gesetzen, nach dem mittelalterlichen Kirchenrecht, nicht wieder, wie Papst Benedikt es wieder gezeigt hat, Rückkehr zur mittelalterlichen Liturgie, Theologie, Kirchenverfassung. Das ist nicht der richtige Weg. Der Weg nach vorne geht wieder von unseren Ursprüngen her im Geiste des Evangeliums nach vorn.
Niehaus: Die Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" fordert eine breite Beteiligung von Gläubigen und Reformgruppen am kirchlichen Erneuerungsprozess. Wird sich die katholische Kirche darauf einlassen oder wird das Ganze wieder einmal hinter verschlossenen Türen stattfinden, was meinen Sie?
Küng: Also es macht wieder den Anschein, als ob die Bischöfe, die ja einiges hören konnten, wenn sie die Ohren offen hatten auf dem zweiten Ökumenischen Kirchentag, dass man jetzt das wieder – zum Teil wenigstens – einfach mal aussitzen will. Man hat zwar einen Ausschuss gegründet, um diese Dinge zu diskutieren, aber ich bin doch recht besorgt, man hat eigentlich von offizieller Seite kein Echo bekommen auf die zahlreichen Reformforderungen. Die ganzen Sexualmissbräuche, die ganze Vertuschungsaktion und alles das, was da vonseiten Roms falsch gemacht wurde gegenüber Muslimen, gegenüber den Juden, gegenüber den Anglikanern, gegenüber den evangelischen Kirchen, die man nicht mal als Kirchen anerkennen will, das alles hat viele Leute alarmiert und sie sagen, wir wollen nicht zurück zur vorkonziliaren Kirche, wir wollen wieder eine Kirche haben, an der man Freude haben kann und in der man gerne mitmacht.
Niehaus: Noch mal zurück zur Erneuerung von unten: Wie könnte so eine Beteiligung denn überhaupt aussehen?
Küng: Ja nu, es gibt ja in vielen Gemeinden doch sehr aktive Mitglieder, jedenfalls muss man aufstehen und nicht rausgehen, das ist das Wichtige. Wäre ich da einfach wie andere frühzeitig weggegangen, dann hätte ich ja gar keine Kraft entwickeln können. Draußen kann man nichts machen, man muss sich eben aktiv beteiligen und versuchen, unter Umständen einfach in Gruppen schon einiges zu erreichen, was man in der Gemeinde nicht kann, oder in der Gemeinde das zu erreichen, was man in der Diözese nicht kann. Also da sind doch sehr viele Möglichkeiten gegeben. Und vor allem sollten sich die, die anderer Meinung sind, die Reformen wollen, auch in der Öffentlichkeit zu Worte melden – Leserbriefe und lauter Möglichkeiten, die heute ein Christ hat, mit dem Internet … Es ist ja nicht mehr so, dass man den Leuten den Mund verbinden kann.
Niehaus: Also nicht länger klagen, selbst etwas tun.
Küng: Genau so.
Niehaus: Der Theologe Professor Dr. Hans Küng über die katholische Kirche zwischen Krise und Erneuerung. Vielen Dank!
Hans Küng: Ja, von hier aus es ist schon eine sehr ernsthafte Krise, weil es eine Vertrauenskrise ist. Die Hierarchie ist durch diese ganzen Misstrauensfälle in Misskredit gekommen, weil man das alles geduldet hat, weil man die Priester einfach wieder weiter in eine andere Pfarrei verpflanzt hat und so weiter. Das hat ungeheuer geschadet, aber es stimmt auch etwas an der Spitze nicht.
Papst Benedikt hat zu viele Dinge gemacht, die im Volk nicht verstanden wurden, und insofern würde ich nun allerdings einen Unterschied machen zwischen der katholischen Kirche aus der großen Glaubensgemeinschaft einerseits und dem römischen System andererseits. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Niehaus: Die Menschen wollen Orientierung, Kirche muss auch sinnstiftend tätig sein, muss Antworten geben können auf drängende Fragen. Erreicht die katholische Kirche die Gläubigen noch?
Küng: Jedenfalls nur mit Schwierigkeiten. Sie ist sehr oft ein Hindernis, um überhaupt den Glauben zu verstehen. Früher konnte man sagen, etwa wie der Kirchenlehrer Augustin, ich würde nicht an Gott glauben, wenn es nicht die katholische Kirche gäbe, heute sagen viele, ich glaube an Gott trotz der katholischen Kirche.
Niehaus: Sind die Kardinäle und Bischöfe, die Kirchenoberen also, überhaupt noch mit der Basis verbunden, wissen die noch, was die Menschen bewegt, was sie von ihrer Kirche erwarten?
Küng: Ich glaube, dass sie viel zu abgehoben leben. Natürlich reden sie mit Leuten, das ist klar, aber wenn so ein Bischof auf Firmenreise kommt und offiziell auftritt, dann ist der da immer eine besondere Gestalt und findet also viel Verneigung und manchmal auch also, ja, kurze Gespräche. Jedenfalls haben viele Menschen den Eindruck, dass die Hierarchie abgehoben ist und sie nicht versteht. Ich komme ja gerade vom Ökumenischen Kirchentag in München zurück, und da hat man immer wieder Beifall bekommen, wenn man irgendeine kritische Anmerkung machte. Und insofern müssen die Bischöfe aufpassen, dass sie überhaupt noch einen Zusammenhang mit dem Volk haben. Wir können keine Menschen mit fürstbischöflichen Tendenzen haben, die einfach meinen, sie könnten machen, wie sie wollen. Sie hören einfach zu wenig auf die Klagen des Volkes. Es sind viele Reformanliegen verbreitet, aber von den Bischöfen hört man nichts dazu.
Niehaus: Und in den Gemeinden, in vielen Gemeinden wird ja auch schon lange über diese Reformen, wie etwa die Abschaffung des Zölibats oder die Gleichberechtigung der Frau diskutiert. Und auf dem Ökumenischen Kirchentag vor Kurzem wurde ja auch zu einem Aufbruch der Christen aufgerufen. Was müsste denn nun als Erstes geschehen, um dieser schweren Krise erfolgreich zu begegnen?
Küng: Es müsste jedenfalls mal mit den Bischöfen ehrlich über die Situation geredet werden. Man hat jahrelang überhaupt das Thema Zölibat tabuisiert, man hat die Kritiker, die das angepackt haben, schlechtgemacht. Es müsste offen diskutiert werden und dann müssen einfach die Anliegen mal ernst genommen werden. Eine katholische Kirche, die sich auf die Bibel beruft, kann doch nicht ständig gegen die Bibel handeln, wo ganz klar afirmiert ist, dass ein Bischof, ein Priester eine Frau haben kann. Wie kann man denn das einfach verbieten? Das ist eine Angelegenheit, die wirklich grundsätzlich aufgearbeitet werden muss.
Niehaus: Sie kennen Papst Benedikt gut, haben mit ihm zusammengearbeitet. Glauben Sie, dass er in der Lage ist, sozusagen das Ruder herumzuwerfen, Akzente zu setzen, die die Glaubwürdigkeit der Kirche wieder herstellen können?
Küng: Ja, das wäre natürlich dringend notwendig, und er hätte ja juristisch gesehen alle Vollmacht. Er könnte bei diesem absolutistischen System, das wir haben, morgen kommen und sagen, ich habe mir das alles überlegt und wir wollen doch also jetzt die Frage der Ehelosigkeit eine freiwillige Sache machen, wie das im Neuen Testament von Paulus gesagt ist. Der eine hat eben dieses Charisma, diese Gabe, und der andere eine andere. Das könnte er. Aber ob er die Kraft findet, ob er nicht so lang in dieser vatikanischen Atmosphäre gelebt hat, das ist ein kleiner Staat für sich und auch eine Mentalität für sich. Es ist die Frage, ob er da durchbrechen kann. Ich hatte angenommen, er würde jetzt auch die Kurve kriegen, um wieder auf das Zweite Vatikanische Konzil einzuschwenken, aber faktisch hat er gerade das Gegenteil getan, er hat vier schismatische Bischöfe, die außerhalb der katholischen Kirche geweiht wurden, hat er aufgenommen, obwohl die ganz klar gegen das Zweite Vatikanum eingestellt sind und dazu noch antisemitische Tendenzen gezeigt haben.
Niehaus: Vor Kurzem haben Sie auf die Frage, ob Sie selbst gerne Papst geworden wären, den reformierten Theologen Karl Barth zitiert: "Einen Tag wäre ich gerne Papst geworden, dann hätte ich alles geregelt." Das hört sich ja so an, als wollten Sie den Papst abschaffen, wenn man alles an einem Tag regeln kann?
Küng: Nein, nein, ich will ihn nicht abschaffen, ich möchte im Gegenteil, dass er seine Aufgabe ernst nimmt. Das Papstamt oder, wie wir lieber sagen von der Bibel her, ein Petrusamt in der Kirche, das ein inspirierendes, rekurrierendes Zentrum sein könnte, hätte ja wahnsinnige Möglichkeiten. Und ich bedaure das eben, dass ein Papst sich einfach begnügt mit den üblichen Audienzen und Ansprachen und all dem, was halt nun mal damit verbunden ist im Vatikan, aber dass er die großen Chancen nicht sieht, die er haben könnte, wenn er zum Beispiel jetzt die Mischehenfrage mal endlich regeln würde, dass er die Wiederverheirateten und Geschiedenen zu den Sakramenten wieder zulässt, Kommunion zulässt, wenn er die unselige Enzyklika gegen die Pille Humanae Vitae revidieren würde, wenn er die Frauenordination zugestehen würde, wenn er überhaupt eine Aufwertung der Frauen in der Kirche vornehmen würde und wenn er vor allem auch, was ja viele Protestanten ebenso bewegt, nun die Abendmahlsgemeinschaft zwischen Katholiken und Evangelischen ermöglichen würde. Das wären doch alles gewaltige Chancen, und leider hängt das alles bei uns in diesem absolutistischem System an einem Mann. Und wenn der das nicht einsieht, so passiert halt nichts. Das ist, warum wir derartig in die Klemme geraten sind.
Niehaus: Was hätten Sie denn an dem einen Tag als Papst als Erstes geregelt?
Küng: Na ja, das habe ich immer gesagt, das ist nicht das Wichtigste, was man als Erstes macht, wenn man nur etwas macht. Und bisher hat man halt nichts gesehen davon, dass irgendeine entscheidende kühne Tat erfolgt ist.
Niehaus: Damit sich endlich was bewegt, haben Sie ja sogar die Bischöfe sozusagen zum Widerstand gegen den Papst aufgefordert. Wie weit müsste man denn gehen? Darf es jetzt noch Tabuthemen geben?
Küng: Es darf überhaupt keine Tabuthemen geben, man soll einfach mal über alles reden. Und jedenfalls die Reformanliegen, die ich genannt habe, sind ja ganz allgemeine Reformanliegen, sind ja nicht meine Spezialitäten. Die Bischöfe müssen schon ernst nehmen, dass weltweit hier nun ein anderer Wind weht. Wenn ich denke, nicht wahr, ich habe gerade gelesen von den Vereinigten Staaten die neueste Umfrage: Drei Viertel, also drei von vier, drei Viertel der amerikanischen Katholiken halten es für möglich, Gute in der katholischen Kirche zu sein, guter Katholik zu sein und doch nicht dem Papst zu gehorchen. Das sollte doch eigentlich aufhorchen lassen.
Niehaus: Sie persönlich sind ja trotz aller Kritik, glaube ich, nie auf die Idee gekommen, die katholische Kirche zu verlassen. Was ist an der katholischen Kirche, dass ein so kritischer Mensch wie Sie, mit Verlaub, treu zu ihr hält?
Küng: Nun, wissen Sie, ich bin ja nicht wegen der Hierarchie und wegen dem Papst katholisch, sondern wegen der großen Glaubensgemeinschaft, die also nun bei allen Schwächen und dunklen Seiten eine doch großartige Geschichte hat. Wenn ich das durch die 2000 Jahre ansehe, was da alles nun Gutes geschehen ist durch diese gläubigen Menschen. Und um deretwillen kann ich halt diese Kirche nicht aufgeben. Und dann das Zweite ist: Ich kann in dieser Kirche immer noch die christliche Botschaft hören, das Evangelium. Das ist eine befreiende Botschaft, eine hilfreiche, erfreuliche Botschaft, und die möchte ich auch nicht aufgeben.
Niehaus: Seit Jahrzehnten engagieren Sie sich für Reformen innerhalb der katholischen Kirche, viel hat sich nicht bewegt. Ist die katholische Kirche überhaupt reformierbar?
Küng: Ja, viel hat sich bewegt. Wenn ich das denke, ich habe ja schon am Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren teilgenommen, wie die Kirche da vorher aussah und wie jetzt, das kann man etwa zum Beispiel am Wortgottesdienst sehen. Wir haben heute doch einen Gottesdienst, der, wenn er gut gestaltet ist, wirklich die Menschen einbezieht. Man kann auch nicht übersehen, dass das Verhältnis zwischen katholischen und evangelischen Christen sich ganz wesentlich verbessert hat. In den oberen Regionen hat man noch nichts gelernt, in den oberen Etagen der Kirchenhierarchie, aber unten in den Gemeinden herrschen doch gute Beziehungen unter den Gemeinden. Und vor allem herrschen ganz anders gute Beziehungen zwischen den Seelsorgern, den Pfarrern und auf beiden Seiten. Es kommt heute keinem vernünftigen katholischen Pfarrer in den Sinn, seinen Kollegen aus der evangelischen Kirche nach römischer Doktrin als ungültig amtierenden Amtsbruder anzusehen, das ist ja doch Unsinn. Also es haben sich viele Dinge geändert, und die Kirche selber hat ja auch noch eine Wende vollzogen, die glücklicherweise nicht rückgängig gemacht werden kann, gegenüber dem Judentum, gegenüber dem Antisemitismus, aber auch gegenüber dem Islam, den anderen Weltreligionen, ja, der modernen säkularen Welt überhaupt.
Niehaus: Damit sich noch mehr bewegt, muss die Erneuerung also von unten kommen, weil sie quasi nur von unten kommen kann?
Küng: Ja, sie muss von unten kommen. Wissen Sie, von oben haben wir eine Revolution im elften Jahrhundert erlebt, am Anfang des zweiten Jahrtausends. Da hat die sogenannte Reform Gregors VII., die gregorianische Reform uns diesen Absolutismus des Papstes gebracht, den er gegen die deutschen Kaiser – Canossa ist da ein Symbol auch dafür – erkämpft hat. Da hat er uns einen forcierten Radikalismus gebracht, der gegen die Laien eingestellt ist, und er hat uns auch damals im elften Jahrhundert das Zölibatsgesetz gebracht und vieles anderes, das ganze Kirchenrecht ist da gegründet worden. Wenn wir es besser machen wollen, dann muss sich wieder die offizielle Kirche nach dem Evangelium richten, nach dem, was Jesus selber täte, wenn er hier wäre, wenn er zurückkäme, und nicht nach diesen mittelalterlichen Gesetzen, nach dem mittelalterlichen Kirchenrecht, nicht wieder, wie Papst Benedikt es wieder gezeigt hat, Rückkehr zur mittelalterlichen Liturgie, Theologie, Kirchenverfassung. Das ist nicht der richtige Weg. Der Weg nach vorne geht wieder von unseren Ursprüngen her im Geiste des Evangeliums nach vorn.
Niehaus: Die Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" fordert eine breite Beteiligung von Gläubigen und Reformgruppen am kirchlichen Erneuerungsprozess. Wird sich die katholische Kirche darauf einlassen oder wird das Ganze wieder einmal hinter verschlossenen Türen stattfinden, was meinen Sie?
Küng: Also es macht wieder den Anschein, als ob die Bischöfe, die ja einiges hören konnten, wenn sie die Ohren offen hatten auf dem zweiten Ökumenischen Kirchentag, dass man jetzt das wieder – zum Teil wenigstens – einfach mal aussitzen will. Man hat zwar einen Ausschuss gegründet, um diese Dinge zu diskutieren, aber ich bin doch recht besorgt, man hat eigentlich von offizieller Seite kein Echo bekommen auf die zahlreichen Reformforderungen. Die ganzen Sexualmissbräuche, die ganze Vertuschungsaktion und alles das, was da vonseiten Roms falsch gemacht wurde gegenüber Muslimen, gegenüber den Juden, gegenüber den Anglikanern, gegenüber den evangelischen Kirchen, die man nicht mal als Kirchen anerkennen will, das alles hat viele Leute alarmiert und sie sagen, wir wollen nicht zurück zur vorkonziliaren Kirche, wir wollen wieder eine Kirche haben, an der man Freude haben kann und in der man gerne mitmacht.
Niehaus: Noch mal zurück zur Erneuerung von unten: Wie könnte so eine Beteiligung denn überhaupt aussehen?
Küng: Ja nu, es gibt ja in vielen Gemeinden doch sehr aktive Mitglieder, jedenfalls muss man aufstehen und nicht rausgehen, das ist das Wichtige. Wäre ich da einfach wie andere frühzeitig weggegangen, dann hätte ich ja gar keine Kraft entwickeln können. Draußen kann man nichts machen, man muss sich eben aktiv beteiligen und versuchen, unter Umständen einfach in Gruppen schon einiges zu erreichen, was man in der Gemeinde nicht kann, oder in der Gemeinde das zu erreichen, was man in der Diözese nicht kann. Also da sind doch sehr viele Möglichkeiten gegeben. Und vor allem sollten sich die, die anderer Meinung sind, die Reformen wollen, auch in der Öffentlichkeit zu Worte melden – Leserbriefe und lauter Möglichkeiten, die heute ein Christ hat, mit dem Internet … Es ist ja nicht mehr so, dass man den Leuten den Mund verbinden kann.
Niehaus: Also nicht länger klagen, selbst etwas tun.
Küng: Genau so.
Niehaus: Der Theologe Professor Dr. Hans Küng über die katholische Kirche zwischen Krise und Erneuerung. Vielen Dank!