Eine Stadt im Ausnahmezustand

Der Journalist Jochen Kalka lebt mit seiner Familie in Winnenden. Seine Töchter waren während des Amoklaufs ganz in der Nähe, wenn auch nicht unmittelbar betroffen. Dass sie trotzdem - wie viele im Ort - von den Ereignissen versehrt sind, davon erzählt dieses Buch.
Das Massaker an der Albertville-Realschule von Winnenden vom 11. März 2009 war das bisher letzte große Schulmassaker in Deutschland. Ein 17-Jähriger tötete 15 Menschen und verletzte 11 weitere zum Teil schwer, bevor er sich selber umbrachte. Die Tat löste politische Debatten über Waffengesetze, Killerspiele, den Zustand der Jugend und der Gesellschaft im Allgemeinen sowie über die Rolle der Medien bei der Berichterstattung aus. Mehrere Bücher wurden seither darüber geschrieben, und eine Stiftung gegen Gewalt an Schulen gegründet, das "Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden".

Der Journalist Jochen Kalka hat nun ein weiteres Buch über Winnenden geschrieben. Kalka lebt mit seiner Familie in Winnenden, er ist einer der vielen nur indirekt betroffenen Einwohner der Stadt: seine Frau ist Lehrerin an einer anderen Schule, seine Töchter waren zum Alarmzeitpunkt zwar ganz in der Nähe, aber in anderen Schulen, in ihren Klassenzimmern eingesperrt. Dass sie alle, wie die meisten Menschen in Winnenden, trotzdem zutiefst von den Ereignissen versehrt sind, davon erzählt er in seinem Buch.

Kalka zeichnet darin in oft fast impressionistischer Weise das erste Jahr nach dem Amoklauf auf, er beschreibt den Tathergang sowie alle weiteren damit verbundenen Ereignisse, die ihm folgen: von den offiziellen Gedenkfeiern über die weitschweifigen politischen und medialen Diskussionen bis zu den vielen kleinen Momenten des Schreckens, der Erinnerung, des Verarbeitens und des Nicht-Verarbeiten-Könnens.

Immer wieder bezieht Kalka aber auch ganz klar Position, insbesondere zu zwei Themen: erstens kritisiert er die unzureichenden Waffengesetze in Deutschland, etwa was die sichere Aufbewahrung von Waffen betrifft, sowie die Selbstherrlichkeit der Schützenvereine, die von sich behaupten, "überwiegend" verantwortlich mit Waffen umzugehen. Aber überwiegend reicht eben nicht, so Kalka, angesichts der Toten.

Zweitens attackiert er scharf das Vorgehen der Medien, die unmittelbar nach den Morden in beispielsloser Weise aufdringlich, grenzüberschreitend berichtet und sich in völlig unverantwortlicher Weise einer Täterfaszination hingegeben hätten. Von 129 Beschwerden beim Deutschen Presserat innerhalb des Jahres gingen allein 47 auf die Berichterstattung zu Winnenden zurück.

In Kalkas Buch kommt der Täter bezeichnenderweise kaum vor, und auch im Opferleid suhlt er nicht: Worum es ihm geht, ist der psychische Zustand einer ganzen Stadt. Diesen zeichnet er minutiös nach – eine bescheidene Technik, die aber angesichts der Unbegreiflichkeit solcher sinnloser Gewalttaten angemessen erscheint. Trotzdem: auch hier ist ein Journalist am Werk, auch Kalkas Buch wird mit seinem Erscheinungstermin pünktlich zum zweiten Jahrestag des Massakers und der medialen Aufmerksamkeit profitieren. Man muss Kalka aber zugute halten, dass er trotz kleiner Ausrutscher ins Pathetische oder Polemische insgesamt auf mehr als 200 Seiten einen überaus sachlichen, zurückhaltenden Tonfall pflegt, und gerade in dieser Zurückhaltung liegt die große Stärke und Überzeugungskraft seines Buches.

Besprochen von Catherine Newmark

Jochen Kalka, Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen,
DVA, München 2011, 240 Seiten, 17,99 Euro


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"Die Kinder sagen A statt Amoklauf"
Interview mit dem Autor Jochen Kalka (DLF)
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