Sprecher: Viktor Neumann
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Dorothea Westphal
Gemeinsam lesen statt einsam lesen
29:10 Minuten
Die Bewohnerinnen einer Stadt nehmen sich alle das gleiche Buch vor und kommen darüber ins Gespräch: Das ist die Idee der Initiative "Eine Stadt liest ein Buch", die mittlerweile in Frankfurt, Würzburg und zahlreichen anderen Städten stattfindet.
Bei der Initiative "Eine Stadt liest ein Buch" lesen Städter dasselbe Buch, um mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen. Die Lektüre als Anlass zum Stadtgespräch – diese Initiative ist mehr als eine Marketingstrategie.
Alle lesen dasselbe Buch
"Unsere Leseaktion in Würzburg entstand eigentlich über die Idee, die Generationen zusammenzubringen beim Lesen", sagt die Buchhändlerin Elisabeth Stein-Salomon.
Und die Dramaturgin Bettina Jantzen ergänzt: "Der Impuls war, sich auf verschiedensten Ebenen mit der Stadt zu vernetzen und gemeinsam ins Gespräch zu kommen und Literatur als Ausgangspunkt zu nehmen, zum Kennenlernen und zum Austausch."
Der Gleichklang einer Stadt
"Unser großes Anliegen ist ja, dass die Stadt mitzieht: die Stadt im Sinne von Stadtgesellschaft", erzählt die Autorin Carola Kupfer.
Und so stellen die lokalen Festivals "Eine Stadt liest ein Buch" einen Roman, eine Autorin, einen Autor vor, richten sich an alle Einwohner und wollen sie auf diese Weise zusammenbringen.
Es wird nicht nur gesellig gelesen, sondern viel mehr. Und das verändert im erwünschten Idealfall alle Beteiligten: Man wächst zusammen – die Leser, das Buch, die Stadt.
Der Gleichklang einer Stadt durch ein Buch – das klingt nach dem Wunschtraum von Autoren und Verlegern. In Potsdam träumte ihn 2018 tatsächlich eine Schriftstellerin.
"Die Inspiration für dieses Veranstaltungsformat", erinnert sich Bettina Jantzen, "kam von der Autorin Antje Ravic Strubel, die hier in Potsdam auch lebt und schreibt".
Traum in der Badewanne
In Frankfurt war es ein Verleger. Die Lektorin Sabine Baumann weiß sogar, wo er träumte:
"Klaus Schöffling hatte diese Idee in der Badewanne. Er hat sich damals Gedanken gemacht über Valentin Sengers 'Kaiserhofstraße 12'. Er hat damals gedacht: Wie kann man dieses Buch nicht nur einfach wieder neu auflegen, schön mit einem Nachwort von Peter Härtling, der damals noch lebte. Ja, dann gibt es Rezensionen und so weiter. Das ist alles ganz nett. Aber es ist irgendwie, wie man heute sagen würde, nicht nachhaltig, es verklingt dann auch wieder. Irgendwann kommt die nächste Neuerscheinung, und dann ist es vorbei. Und er hat sich gedacht: Wie wäre das, wenn eine ganze Stadt richtig in ein intensives Gespräch über dieses Buch eintritt."
Für Verlage lukrativ
Klaus Schöffling begann, für sein Projekt zu werben. Im Frühjahr des Jahres 2010 wurde der Tagtraum Wirklichkeit mit Sengers "Kaiserhofstraße 12". "Frankfurt liest ein Buch" ist die langlebigste städtische Lesekampagne in Deutschland.
Es folgten andere Titel – nicht alle aus dem Schöffling Verlag. Allerdings übernahm Schöffling in vier Fällen den Nachdruck des ausgewählten Titels, weil der ursprüngliche Verlag nicht nachdrucken wollte oder konnte. Das ist durchaus lukrativ: 12.000 Exemplare wurden von Silvia Tennenbaums "Straßen von gestern" verkauft, das Frankfurt 2012 las. Auch die Buchhändlerin Elisabeth Stein-Salomon berichtet von erstaunlichen Verkaufszahlen in Würzburg.
"Von Leonhard Frank, 'Die Jünger Jesu', gab es vorher schon eine Auflage. Ich glaube, da waren 1100 gedruckt worden. Und das waren noch ungefähr hundert übrig nach 20 Jahren. Und dann haben wir eine Neuauflage gedruckt und waren dann bei etwa 10.000 Stück, die wir tatsächlich verkauft haben in dem Jahr 2014."
Alle sollen lesen
"Wir wollen die Leute animieren zu lesen", erzählt die Regensburgerin Carola Kupfer: "Das steht über allem. Natürlich, das ist uns einfach wichtig. Das ist mir persönlich auch ein Anliegen, Bildung durch Lesen, um es mal so ganz platt zu sagen."
Veranstaltungen für Schülerinnen und Schüler bilden den Kern der Lesekampagnen auch in Würzburg und Frankfurt. Und das nordrheinwestfälische Siegen konzentriert sich seit 2009 ausschließlich auf Schüler. Ansonsten sprechen die städtischen Initiativen alle Bürger an, junge und ältere. Einige Monate vor den Aktionstagen wird das Buch ausgewählt. Die Organisatoren rühren die Trommel, hängen Plakate in der Stadt auf. Buchhandlungen und Bibliotheken legen das "Stadtbuch" aus.
In der Lokalzeitung erscheinen Artikel, eine Stadt wird eingestimmt. Dann folgt eine Auftaktveranstaltung, nach Möglichkeit mit Autor oder Autorin, am Ende eine Finissage, und dazwischen zehn bis 110 Veranstaltungen aller Art in ein oder zwei Wochen.
Ein Buch wird Talk of the Town
Wenn ein Buch Talk of the Town werden soll, dann muss es heraus aus der Nische derer, die es ohnehin schätzen und mit ihm sowieso leben. Also heraus aus der Buchhandlung, der Bibliothek, dem Literaturhaus und dem Lesesessel.
Bettina Jantzen sagt: "Das Konzept war: Wir wollten an Orte gehen, an denen normalerweise keine Lesungen stattfinden. Und Carola Kupfer ergänzt: "Und wir wollten halt ganz bewusst öffnen und sagen, wir finden andere Formate, die andere Zielgruppen aktivieren."
Lesungen und Gespräche in Fernzügen, auf einem Apfelbauernhof, einem Schiff, in einer Druckerei, einer Kirche, im Bildhaueratelier, in einer Vermittlungsstelle für Pflegekinder, in mehr oder weniger geräumigen Wohnzimmern, in WG-Küchen.
Auf ungewöhnliche Orte und Darbietungsformen muss man erst einmal kommen. Die buchaffinen Initiatoren, die auffälligerweise fast ausschließlich Initiatorinnen sind, sind darauf angewiesen, dass andere mitziehen und Begeisterung, Zeit, Arbeitskraft und – nicht zuletzt – Ideen mitbringen.
Allein könnten zwei Potsdamerinnen, zehn Regensburgerinnen und selbst 18 Würzburgerinnen, alle ehrenamtlich tätig, nicht bis zu 110 Programmpunkte stemmen. Der bescheidene Etat umfasst meist nur einige 10.000 Euro, die von der Stadt, manchmal dem Land und lokalen Unternehmen kommen.
Lesen im Lockdown
Regensburg las 2020 Benedict Wells Roman "Vom Ende der Einsamkeit" über drei Kinder, die früh ihre Eltern verlieren. Die persönlichen Eindrücke sollten in einer "Bibliotherapeutischen Sprechstunde" besprochen werden, ein "Speeddating" verhieß den Teilnehmern das Ende ihrer persönlichen Einsamkeit, und ein Vortrag versprach, die enge Beziehung zwischen Autor und Verlag zu beleuchten. Der erste Corona-Lockdown machte aus dem Programm Makulatur, in Regensburg ebenso wie in Frankfurt.
Die meisten Veranstaltungen mussten 2020 ausfallen, auch die offenbar beliebten Tanzabende. Passend zum Einsamkeitsthema hatte Regensburg den "Ball der einsamen Herzen" feiern wollen, Frankfurt dafür den "Kriminaltango" – denn am Main las man nicht Benedict Wells, sondern Erich Kubys "Rosemarie" über das Leben und Sterben der geheimnisvollen Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt.
Beide Städte holten kleine Teile des Programms im Oktober 2020 nach, unmittelbar vor dem zweiten Lockdown.
In Jahren ohne Virus überziehen die Lesekampagnen ihre Stadt mit einem Netz von Veranstaltungen verschiedenster Art. Viele Menschen machen sich das jeweilige Buch auf vielerlei, nicht selten ungewöhnliche Weise zu eigen.
"Wenn ich jetzt durch die Stadt laufe, dann sehe ich immer Orte, an denen der Roman spielt", sagt Elisabeth Stein-Salomon. "Und es gibt mir wirklich eine unheimliche Verortung in der Stadt und eine Tiefe."
Hoffen auf den Sommer
Vom Coronavirus lassen sich die städtischen Initiativen jedenfalls nicht stoppen. Frankfurt hat das Frühjahrsprogramm mit Eva Demskis Roman "Scheintod" über die 70er-Jahre in den Juli verschoben, ebenso wie Würzburg*), das Max Mohrs 1933 erstmals erschienen Roman "Frau ohne Reue" liest, wie Elisabeth Stein-Salomon erzählt: "Nachdem wir im letzten Jahr ebenso ausgebremst wurden mit unserer Aktion – die Programme waren gedruckt, die Plakate, alles war verteilt –, wollen wir jetzt in diesem Jahr ab Mitte Juli noch einmal neu durchstarten mit vielen kleineren, coronagerechten Veranstaltungen, eben dann in größeren Räumen oder auch im Freien."
(DW)
*) Wir haben die Ortsangabe in Text und Audio korrigiert.