"Eine ständige subversive Provokation"
Der Germanist Frank Hörnigk hat die Bedeutung des Werks des Dramatikers Heiner Müller gerade für die heutige Zeit hervorgehoben. Der Autor, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, sei nicht nur in der DDR von Intellektuellen beachtet und geliebt worden, sagte Hörnigk: "Müller hat seine Zukunft nicht hinter sich. Und wir haben ihn auch nicht hinter uns."
Joachim Scholl: Er war wohl mit Abstand der weltweit bekannteste Autor der DDR, seine Stücke machten international Sensation, er selbst wurde zu einem Markenzeichen für gesellschaftskritisches, innovatives Theater: Heiner Müller. Heute wäre der Autor des "Lohndrückers", der "Hamletmaschine" oder von "Germania 3", um nur wenige der zahlreichen Stücke zu nennen, heute wäre Heiner Müller 80 Jahre alt geworden. Zuletzt in den 1990er-Jahren war er ein gefragter Gast in Interviews und Talkshows, immer gut für ein bissiges Bonmot, so zum Beispiel dieses über den Unterschied von Trivialliteratur in Ost und West:
"In der DDR gab es eine ideologische Trivialliteratur oder Trivialkunst, eine ideologisch definierte. In der Bundesrepublik gibt es eine kommerziell definierte Trivialliteratur. Wir waren insofern vielleicht da in einer besseren Lage, weil die wurden von niemandem gelesen hier und die in der Bundesrepublik wird von den meisten Leuten gelesen."
Heiner Müller, am Vorabend der Deutschen Einheit übrigens, am 2. Oktober 1990, auf der Bühne des Berliner Ensembles im Gespräch mit der amerikanischen Publizistin Susan Sontag. Heute wäre Heiner Müller 80 Jahre alt geworden. Im Studio ist jetzt der Germanist Frank Hörnigk. Er hat die Werkausgabe von Heiner Müller betreut, die letzten drei Bände von zwölf sind jetzt erschienen. Herr Hörnigk, willkommen im "Radiofeuilleton".
Frank Hörnigk: Danke Ihnen sehr.
Scholl: Diese drei Bände, Herr Hörnigk, enthalten ausschließlich Gespräche aus drei Jahrzehnten, von 1965 bis 1995, dem Todesjahr von Heiner Müller. Wir haben ihn gerade gehört mit seinem ja doch recht sarkastischen Witz, der schon repräsentativ ist für Heiner Müller, wenn er öffentlich sprach.
Hörnigk: Nicht immer. Das lag natürlich auch an den Zeiten, die sehr unterschiedlich waren. Ob Sarkasmus möglich und geeignet erschien, im Abendlicht der DDR 1989 in dieser Runde, es ist mir klar, dass es sarkastisch sein musste. Vor Girnus sitzend in dem ersten Gespräch dieser drei Bände, dem Chefredakteur von "Sinn und Form", anlässlich seiner "Bau"-Katastrophe - Heiner Müllers "Bau" war auf dem elften Plenum des ZK der SED 1965 entschieden kritisiert worden . . .
Scholl: das Stück
Hörnigk: . . . war das kein sarkastischer Ton. Da war es ein Ton der Verteidigung vor einem Tribunal. Also, ich will sagen, es gab nicht immer den sarkastischen Ton. Richtig ist aber, dass diese durch Anekdoten, durch Sarkasmen, durch Pointen gestützte Rede für ihn ganz häufig interessant war.
Scholl: War er auch so im persönlichen Umgang, Sie kannten ihn gut über die Jahre?
Hörnigk: Ich habe ihn im persönlichen Umgang nie sarkastisch erlebt. Er war ein leiser, immer lobender Mensch. Er hat mit vielen ganz jungen Leuten, die alle so schreiben wollten wie er und das glaubten, in seiner Wohnung stundenlang gesessen und das über Jahre immer wieder, und war liebevoll, fast unkritisch. Er konnte niemandem wehtun. Der Sarkasmus war eine andere Ebene seiner Öffentlichkeit.
Scholl: Lassen Sie uns ein wenig Rückschau halten auf das Werk, Herr Hörnigk. Man hat Heiner Müller in der DDR ja zunächst auch als Renegaten behandelt, dann wurde er gefeiert 1958 mit seinem ersten Stück "Der Lohndrücker", zwei Jahre später warf man ihn aber schon wieder aus dem Schriftstellerverband. Dann wurde er wieder gespielt mit Adaptionen antiker Dramen. Es war immer so ein Auf und Ab in seiner DDR-Karriere. Die Staatsführung wusste nie so recht, wie mit einem umzugehen ist, der sich einerseits klar zum Sozialismus bekannte, aber in den Stücken die real existierende Praxis immer wieder aufs Korn nahm. Er saß eigentlich immer zwischen den Stühlen.
Hörnigk: Er saß, ja, ich weiß nicht, zwischen den Stühlen, er saß nie auf Stühlen, also immer irgendwo im leeren Raum, übrigens auch im Westen. Also das ist natürlich markant. Das Theater Heiner Müllers war nie ein Theater der großen Formen in dem Sinne, dass es staatstheaterhaft betrieben werden konnte. Es war immer ein Theater der Avantgarde, für Minderheiten. Und das macht seine Bedeutung aus. Und insofern ist er in der DDR natürlich ein einerseits beachteter, in intellektuellen Milieus sehr beachteter und geliebter Autor gewesen, aber er war natürlich eine ständige subversive Provokation.
Scholl: Heiner Müller zum 80. Geburtstag. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist Frank Hörnigk, der Herausgeber der Gesamtausgabe von Heiner Müllers Werk. In den 80er-Jahren wurde Heiner Müller regelrecht zum Kult im Westen. Seine Stücke machten wirklich weltweit Furore, kann man sagen. Müller wurde zu einem Markenzeichen. Wie selbst hat er eigentlich diese doch auch überraschende Resonanz reflektiert? Erfährt man da in den Gesprächen was darüber?
Hörnigk: Ja, natürlich. Die Gespräche, also seit den 70er-Jahren übrigens schon, reflektieren ja diese internationale Reputation, die er gewann im Avantgarde-Theater, vor allen Dingen Westeuropas, aber auch der USA ganz wesentlich. Susan Sontag war übrigens die erste Regisseurin in dieser Rolle, die Müller in den USA präsentiert hat, also das nur nebenbei.
Er hat das natürlich wahrgenommen, und es ist interessant: Aus einer DDR-Perspektive kam Müller als zuvor verbotener Autor nunmehr als internationaler Star zurück. Das hat auch seinen Raum in der DDR innerhalb der Theateröffentlichkeit, aber auch der politischen Öffentlichkeit insgesamt deutlich stärker markiert. Übrigens auch in der Bundesrepublik. Also das deutsch-deutsche Problem Heiner Müller wurde, wenn man so will, aufgeladen durch Internationalität.
Scholl: Es hatte ja auch zur Folge, dass die Staatsmacht in der DDR also gewissermaßen vor dem Weltruhm eingeknickt ist. Man hat ihm Privilegien verschafft, er genoss Reisefreiheit. Man kürte ihn so zum Staatsdichter, war stolz auf ihn, konnte sich auch relativ sicher sein, dass er jetzt nicht im Ausland schlecht über die DDR redete. Andererseits wurde er auch unter Kollegen zum Zankapfel, man sah in ihm einen Opportunisten. Es gab Vorwürfe, er sei ein informeller Mitarbeiter, was nie bewiesen wurde. Es gibt kein Dokument, das das beweist. Man könnte umgekehrt sagen, er war sehr, sehr clever darin, sich einen künstlerischen Freiraum zu verschaffen. Wie sehen Sie das?
Hörnigk: Ich würde denken, dass man auch hier die Zeiten nicht durcheinanderbringen sollte. Das haben Sie nicht getan. Aber ich will an ein Bild erinnern: Als Müller 1995 zu Grabe getragen wurde …
Scholl: 3000 Gäste.
Hörnigk: Ja, das ist für einen deutschen Intellektuellen ganz ungewöhnlich. Ich sah 1980 im Fernsehen die Beerdigung von Sartre und war angerührt, natürlich wegen des Todes, aber ich war angerührt, dass da in Frankreich ein Intellektueller, ein kritischer Mann so geehrt wurde. Das hat in Deutschland, in unseren Zeiten jedenfalls, niemand erlebt. Heiner Müllers Beerdigung, wenn man so will, war ein Symbol großer Wahrnehmungsintensität, und zwar durch die Parteien hindurch. Also es gibt nicht in diesem Moment seines Todes eine solche Art der denunziatorischen Differenzierung. Das ist dann in dieser Zeit entstanden, aber vor allen Dingen später.
Scholl: Man hat Heiner Müller als öffentliche Person am Ende vor allem so im Gedächtnis: schwarz gewandet, mit Zigarre und Whiskeyglas, karg vor sich hin brummend vom Ingrimm der Geschichte, von der Fatalität, also ein dunkel raunendes Orakel. Stimmt dieses Bild vielleicht so gar nicht?
Hörnigk: Das Bild ist auch richtig. Man kann es ja sehr oft wiederholt sehen, etwa in den Gesprächen mit Alexander Kluge. Aber es gibt ein Bild, das mir in Erinnerung geblieben ist und an das Sie sich vielleicht auch erinnern können: In einem der letzten Gespräche, wenn nicht sogar im letzten, ich erinnere mich jetzt nicht genau, bittet Kluge, offensichtlich nach dem Cut, Müller, seine Brille abzunehmen, und er ist da schon sehr krank, kurz vor seinem Tode. Und als das Bild neu erscheint, sitzt ein Schmerzensgesicht vor mir, ein offenes, ein argloses Gesicht, eine der tiefsten Berührungen. Es ist, als ob mit der Brille eine Maske auch abgefallen war von ihm. Es war ein offenes, ein trauerndes, ein Schmerzensgesicht.
Scholl: Was bleibt von Heiner Müller? Man hat in ihm den Nachfolger von Bert Brecht gesehen, aber wie mit Brecht geht es auch mit seinen Stücken, mit Heiner Müllers Stücken: Sie wirken bisweilen doch recht antiquiert mittlerweile, oder?
Hörnigk: Ich denke, dass wir gerade eine Zeit erleben, in der zum Beispiel, und heute noch mehr als Heiner Müller, Bertolt Brecht eine Konjunktur erlebt. Seine Stücke holen uns wieder ein interessanterweise. Das nur nebenbei. Ich bin natürlich auf diese Frage auch gefasst, denn sie wird ja immer wieder gestellt: Man spielt ihn ja nicht mehr. Es ist ja nicht nur Ausdruck der Überlegenheit über die Texte Müllers, ihn nicht zu spielen. Es hat ja auch was zu tun mit dem Dilemma eines Gegenwartstheaters, das sich, immer noch in der Illusion wähnt, auf einer anderen Ebene den Texten ausweichen zu können.
Ich nenne nur ein Beispiel: Ein solches Stück wie "Anatomie Titus" von so brennender Aktualität ist wie natürlich andere Texte auch. Müller als Dramatiker nur zu sehen, ist zu wenig. Er war ein großer Kulturphilosoph, denke ich. Davon zeugen auch diese Gespräche, die er geführt hat. Davon zeugen auch die theoretischen Reflexionen, die er vorgelegt hat. Er war ein bedeutender Lyriker.
Ich habe also mit meinen Kollegen und Freunden zusammen ganz viele Texte aus dem Nachlass gefunden, von denen keiner wusste, dass es so etwas gab. Das ist ein lyrisches Werk. Also Müller hat seine Zukunft nicht hinter sich. Und wir haben ihn auch nicht hinter uns.
Scholl: Heiner Müller, heute wäre er 80 Jahre alt geworden. Wir haben an ihn erinnert mit Frank Hörnigk. Er hat die Werkausgabe von Heiner Müller betreut, gerade sind die letzten drei Bände im Suhrkamp-Verlag erschienen. Herr Hörnigk, vielen Dank für Ihren Besuch.
Hörnigk: Ich danke auch.
"In der DDR gab es eine ideologische Trivialliteratur oder Trivialkunst, eine ideologisch definierte. In der Bundesrepublik gibt es eine kommerziell definierte Trivialliteratur. Wir waren insofern vielleicht da in einer besseren Lage, weil die wurden von niemandem gelesen hier und die in der Bundesrepublik wird von den meisten Leuten gelesen."
Heiner Müller, am Vorabend der Deutschen Einheit übrigens, am 2. Oktober 1990, auf der Bühne des Berliner Ensembles im Gespräch mit der amerikanischen Publizistin Susan Sontag. Heute wäre Heiner Müller 80 Jahre alt geworden. Im Studio ist jetzt der Germanist Frank Hörnigk. Er hat die Werkausgabe von Heiner Müller betreut, die letzten drei Bände von zwölf sind jetzt erschienen. Herr Hörnigk, willkommen im "Radiofeuilleton".
Frank Hörnigk: Danke Ihnen sehr.
Scholl: Diese drei Bände, Herr Hörnigk, enthalten ausschließlich Gespräche aus drei Jahrzehnten, von 1965 bis 1995, dem Todesjahr von Heiner Müller. Wir haben ihn gerade gehört mit seinem ja doch recht sarkastischen Witz, der schon repräsentativ ist für Heiner Müller, wenn er öffentlich sprach.
Hörnigk: Nicht immer. Das lag natürlich auch an den Zeiten, die sehr unterschiedlich waren. Ob Sarkasmus möglich und geeignet erschien, im Abendlicht der DDR 1989 in dieser Runde, es ist mir klar, dass es sarkastisch sein musste. Vor Girnus sitzend in dem ersten Gespräch dieser drei Bände, dem Chefredakteur von "Sinn und Form", anlässlich seiner "Bau"-Katastrophe - Heiner Müllers "Bau" war auf dem elften Plenum des ZK der SED 1965 entschieden kritisiert worden . . .
Scholl: das Stück
Hörnigk: . . . war das kein sarkastischer Ton. Da war es ein Ton der Verteidigung vor einem Tribunal. Also, ich will sagen, es gab nicht immer den sarkastischen Ton. Richtig ist aber, dass diese durch Anekdoten, durch Sarkasmen, durch Pointen gestützte Rede für ihn ganz häufig interessant war.
Scholl: War er auch so im persönlichen Umgang, Sie kannten ihn gut über die Jahre?
Hörnigk: Ich habe ihn im persönlichen Umgang nie sarkastisch erlebt. Er war ein leiser, immer lobender Mensch. Er hat mit vielen ganz jungen Leuten, die alle so schreiben wollten wie er und das glaubten, in seiner Wohnung stundenlang gesessen und das über Jahre immer wieder, und war liebevoll, fast unkritisch. Er konnte niemandem wehtun. Der Sarkasmus war eine andere Ebene seiner Öffentlichkeit.
Scholl: Lassen Sie uns ein wenig Rückschau halten auf das Werk, Herr Hörnigk. Man hat Heiner Müller in der DDR ja zunächst auch als Renegaten behandelt, dann wurde er gefeiert 1958 mit seinem ersten Stück "Der Lohndrücker", zwei Jahre später warf man ihn aber schon wieder aus dem Schriftstellerverband. Dann wurde er wieder gespielt mit Adaptionen antiker Dramen. Es war immer so ein Auf und Ab in seiner DDR-Karriere. Die Staatsführung wusste nie so recht, wie mit einem umzugehen ist, der sich einerseits klar zum Sozialismus bekannte, aber in den Stücken die real existierende Praxis immer wieder aufs Korn nahm. Er saß eigentlich immer zwischen den Stühlen.
Hörnigk: Er saß, ja, ich weiß nicht, zwischen den Stühlen, er saß nie auf Stühlen, also immer irgendwo im leeren Raum, übrigens auch im Westen. Also das ist natürlich markant. Das Theater Heiner Müllers war nie ein Theater der großen Formen in dem Sinne, dass es staatstheaterhaft betrieben werden konnte. Es war immer ein Theater der Avantgarde, für Minderheiten. Und das macht seine Bedeutung aus. Und insofern ist er in der DDR natürlich ein einerseits beachteter, in intellektuellen Milieus sehr beachteter und geliebter Autor gewesen, aber er war natürlich eine ständige subversive Provokation.
Scholl: Heiner Müller zum 80. Geburtstag. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist Frank Hörnigk, der Herausgeber der Gesamtausgabe von Heiner Müllers Werk. In den 80er-Jahren wurde Heiner Müller regelrecht zum Kult im Westen. Seine Stücke machten wirklich weltweit Furore, kann man sagen. Müller wurde zu einem Markenzeichen. Wie selbst hat er eigentlich diese doch auch überraschende Resonanz reflektiert? Erfährt man da in den Gesprächen was darüber?
Hörnigk: Ja, natürlich. Die Gespräche, also seit den 70er-Jahren übrigens schon, reflektieren ja diese internationale Reputation, die er gewann im Avantgarde-Theater, vor allen Dingen Westeuropas, aber auch der USA ganz wesentlich. Susan Sontag war übrigens die erste Regisseurin in dieser Rolle, die Müller in den USA präsentiert hat, also das nur nebenbei.
Er hat das natürlich wahrgenommen, und es ist interessant: Aus einer DDR-Perspektive kam Müller als zuvor verbotener Autor nunmehr als internationaler Star zurück. Das hat auch seinen Raum in der DDR innerhalb der Theateröffentlichkeit, aber auch der politischen Öffentlichkeit insgesamt deutlich stärker markiert. Übrigens auch in der Bundesrepublik. Also das deutsch-deutsche Problem Heiner Müller wurde, wenn man so will, aufgeladen durch Internationalität.
Scholl: Es hatte ja auch zur Folge, dass die Staatsmacht in der DDR also gewissermaßen vor dem Weltruhm eingeknickt ist. Man hat ihm Privilegien verschafft, er genoss Reisefreiheit. Man kürte ihn so zum Staatsdichter, war stolz auf ihn, konnte sich auch relativ sicher sein, dass er jetzt nicht im Ausland schlecht über die DDR redete. Andererseits wurde er auch unter Kollegen zum Zankapfel, man sah in ihm einen Opportunisten. Es gab Vorwürfe, er sei ein informeller Mitarbeiter, was nie bewiesen wurde. Es gibt kein Dokument, das das beweist. Man könnte umgekehrt sagen, er war sehr, sehr clever darin, sich einen künstlerischen Freiraum zu verschaffen. Wie sehen Sie das?
Hörnigk: Ich würde denken, dass man auch hier die Zeiten nicht durcheinanderbringen sollte. Das haben Sie nicht getan. Aber ich will an ein Bild erinnern: Als Müller 1995 zu Grabe getragen wurde …
Scholl: 3000 Gäste.
Hörnigk: Ja, das ist für einen deutschen Intellektuellen ganz ungewöhnlich. Ich sah 1980 im Fernsehen die Beerdigung von Sartre und war angerührt, natürlich wegen des Todes, aber ich war angerührt, dass da in Frankreich ein Intellektueller, ein kritischer Mann so geehrt wurde. Das hat in Deutschland, in unseren Zeiten jedenfalls, niemand erlebt. Heiner Müllers Beerdigung, wenn man so will, war ein Symbol großer Wahrnehmungsintensität, und zwar durch die Parteien hindurch. Also es gibt nicht in diesem Moment seines Todes eine solche Art der denunziatorischen Differenzierung. Das ist dann in dieser Zeit entstanden, aber vor allen Dingen später.
Scholl: Man hat Heiner Müller als öffentliche Person am Ende vor allem so im Gedächtnis: schwarz gewandet, mit Zigarre und Whiskeyglas, karg vor sich hin brummend vom Ingrimm der Geschichte, von der Fatalität, also ein dunkel raunendes Orakel. Stimmt dieses Bild vielleicht so gar nicht?
Hörnigk: Das Bild ist auch richtig. Man kann es ja sehr oft wiederholt sehen, etwa in den Gesprächen mit Alexander Kluge. Aber es gibt ein Bild, das mir in Erinnerung geblieben ist und an das Sie sich vielleicht auch erinnern können: In einem der letzten Gespräche, wenn nicht sogar im letzten, ich erinnere mich jetzt nicht genau, bittet Kluge, offensichtlich nach dem Cut, Müller, seine Brille abzunehmen, und er ist da schon sehr krank, kurz vor seinem Tode. Und als das Bild neu erscheint, sitzt ein Schmerzensgesicht vor mir, ein offenes, ein argloses Gesicht, eine der tiefsten Berührungen. Es ist, als ob mit der Brille eine Maske auch abgefallen war von ihm. Es war ein offenes, ein trauerndes, ein Schmerzensgesicht.
Scholl: Was bleibt von Heiner Müller? Man hat in ihm den Nachfolger von Bert Brecht gesehen, aber wie mit Brecht geht es auch mit seinen Stücken, mit Heiner Müllers Stücken: Sie wirken bisweilen doch recht antiquiert mittlerweile, oder?
Hörnigk: Ich denke, dass wir gerade eine Zeit erleben, in der zum Beispiel, und heute noch mehr als Heiner Müller, Bertolt Brecht eine Konjunktur erlebt. Seine Stücke holen uns wieder ein interessanterweise. Das nur nebenbei. Ich bin natürlich auf diese Frage auch gefasst, denn sie wird ja immer wieder gestellt: Man spielt ihn ja nicht mehr. Es ist ja nicht nur Ausdruck der Überlegenheit über die Texte Müllers, ihn nicht zu spielen. Es hat ja auch was zu tun mit dem Dilemma eines Gegenwartstheaters, das sich, immer noch in der Illusion wähnt, auf einer anderen Ebene den Texten ausweichen zu können.
Ich nenne nur ein Beispiel: Ein solches Stück wie "Anatomie Titus" von so brennender Aktualität ist wie natürlich andere Texte auch. Müller als Dramatiker nur zu sehen, ist zu wenig. Er war ein großer Kulturphilosoph, denke ich. Davon zeugen auch diese Gespräche, die er geführt hat. Davon zeugen auch die theoretischen Reflexionen, die er vorgelegt hat. Er war ein bedeutender Lyriker.
Ich habe also mit meinen Kollegen und Freunden zusammen ganz viele Texte aus dem Nachlass gefunden, von denen keiner wusste, dass es so etwas gab. Das ist ein lyrisches Werk. Also Müller hat seine Zukunft nicht hinter sich. Und wir haben ihn auch nicht hinter uns.
Scholl: Heiner Müller, heute wäre er 80 Jahre alt geworden. Wir haben an ihn erinnert mit Frank Hörnigk. Er hat die Werkausgabe von Heiner Müller betreut, gerade sind die letzten drei Bände im Suhrkamp-Verlag erschienen. Herr Hörnigk, vielen Dank für Ihren Besuch.
Hörnigk: Ich danke auch.