Eine Stunde der Wahrheit

Von Michael Stürmer |
Weit ist es gekommen mit der altehrwürdigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In Hessen ist ein Trauerspiel zu besichtigen, das nur Verlierer kennt, das die SPD auf der Flucht vor sich selbst zeigt und weit über alle Parteigrenzen hinaus die alte Frage aufwirft: Wohin treibt die Republik? Da geht es nicht nur um Mehrheitsverhältnisse im hessischen Landtag, sondern es geht um die Zukunft der Industriegesellschaft, die Frage der sozialen Gerechtigkeit, ja die Bündnisfähigkeit des Landes.
Wie hältst du’s mit der Linkspartei, Lafontaine und Gysi? Das ist zur Gretchenfrage der SPD geworden. Deren Führer stehen vor der Wahl, durch Unentschiedenheit in Sachen Links die Partei zusammenzuhalten oder bei der Bundestagswahl im nächsten September die Mitte zu verlieren. Alle Disziplin, welche die Berliner Parteiführung, ratlos und zornig, jetzt anmahnt, kann die große Zukunftsfrage nicht beantworten, die da lautet: Welche Sozialdemokratie in welcher Republik?

Bisher wollte die Führung sich Ärger ersparen und alles offen halten, indem sie vorkommenden Falles den einzelnen Landesverbänden die missliche Entscheidung überließ. Nur für die Bundestagswahlen und die nachfolgende Regierungsbildung wollte man nicht gern Unter den Linden gegrüßt werden von den radikalen Roten. Die jüngsten Umfragen zeigen indessen, dass die Wähler der Partei so viel schlaues Taktieren nicht abnehmen: entweder – oder. Dazu kommt ein weiteres Problem: Die aktiven Parteisoldaten in den Gremien sind, wie seit langer Zeit erkennbar – auch an der causa Clement erkennbar – überwiegend dem Zusammengehen mit der Linken zugeneigt. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Wähler dagegen, speziell in den westlichen Regionen der Republik, wollen sich darauf nicht einlassen. Die Wähler, die Frau Ypsilanti ihr Versprechen glaubten, nie und nimmer werde es mit den Erben der SED ein Gspusi geben, fanden sich getäuscht. In Zukunft, das geben sie in Meinungsumfragen zu Protokoll, glauben sie kein Wort mehr.

Das sind schlechte Aussichten für die Partei, aber auch für die Republik. Mit ihrer Halbherzigkeit hat die SPD-Führung sich in eine Zwickmühle gebracht: Folgt sie den Ypsilantis dieser Welt in Richtung Linke, so verliert sie die Mitte und die Malocher. Sucht sie mit den Rebellen die Zukunft in der Mitte der postindustriellen Gesellschaft, so verliert sie die BAT-Bohème. Dass die fortdauernde Krise der Finanzen und des Vertrauens die Sache leichter machen könnte, ist aberwitzige Hoffnung. Müntefering, der reaktivierte Retter, ist um diese Entscheidung nicht zu beneiden, und es ist absehbar, dass sie bis zur Bundestagswahl im nächsten September tatsächlich unentschieden bleibt.

In dieser ihrer neuesten Geschichte begegnet die SPD auch ihrer ältesten. Bis heute ist die Partei stolz, und das mit Recht, auf Friedrich Ebert, den ersten Präsidenten der Weimarer Republik. Die Parteilinke dagegen verehrt Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die eben diese Weimarer Republik im Bürgerkrieg von 1918/19 bekämpften im Namen Lenins und der bolschewistischen Diktatur. Dieser Konflikt zwischen parlamentarischer Demokratie und Wohlfahrtsterror hat die 14 Weimarer Jahre durchzogen, die Sozialdemokraten gequält und ihnen immer ein schlechtes Gewissen gemacht, unsicher zwischen bürgerlicher Republik und sozialistischer Revolution – auch dann noch, als in der Weltwirtschaftskrise Kommunisten und Nationalsozialisten mitunter gemeinsame Sache machten.

1946 hat dann die von Ulbricht gegründete KPD unter sowjetischem Schutz die SPD der Sowjetzone in eine brutale Umarmung gezogen – genannt SED. Wer nicht zustimmte, konnte in Bautzen im "Gelbes Elend" genannten Stasi-Gefängnis bereuen. Das war 1990 noch gänzlich unvergessen und hat damals zu Unvereinbarkeitsbeschlüssen geführt. Die Sozialdemokraten in Bonn hatten von den Kommunisten genug – aber nur für begrenzte Zeit.

Heute sind es zwei Leitbilder, die die Partei bestimmen: Auf der einen Seite die Geringschätzung der freiheitlichen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft – notfalls mit nächtlichen Sitzungen zur Beschlusslage zu erheben – und auf der anderen Seite die alte Hoffnung auf Welt- und Daseinsverbesserung durch Kompromisse, geduldige Arbeit und verlässliche Koalitionen. Eine Weile kann solcher Widerspruch Bestand haben. Früher oder später aber, wie jetzt in Hessen, kommt die Stunde der Wahrheit.

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt ‚Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Michael Stürmer
Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub