Eine symbolträchtige Blumenwiese

Von Eva Wolk |
Das Kölner Dombild zeigt am unteren Bildrand eine ganze Reihe an Pflanzen. Diese Pflanzen sind dort nicht ohne Grund, ihr Maler lud das gesamte Bild mit Symbolik auf. Die Biologin Elisabeth Margarete Comes hat sich aufgemacht, ihr Geheimnis zu erforschen - und Überraschendes herausgefunden.
Die Kölner lieben den Altar der Stadtpatrone – das "Dombild", wie sie es selbst der Einfachheit halber nennen, und wenn man davor steht, weiß man, warum: Das Triptychon ist schlicht überwältigend. Klaus Hardering, Leiter des Kölner Dombauarchivs, umreißt den Bildinhalt:

"In der Mitte ist die Anbetung der Heiligen Drei Könige zu sehen, und auf den Flügeln sieht man links die Heilige Ursula mit ihren berühmten 11.000 Jungfrauen, und auf der rechten Seite den Heiligen Gereon mit der Thebäischen Legion. Alle haben in Köln ihr Martyrium erlitten, deswegen wurden sie zu Stadtpatronen. Und diese ganzen Szenen spielen eben auf einem durchgehenden Wiesengrund, und der ist durchsetzt mit Pflanzen, Kräutern..."

Denen haben zwar ganz sicher die Zeitgenossen des Malers ihre Aufmerksamkeit geschenkt, wie wir noch sehen werden. Die späteren Kunst-Experten aber sind offenbar bisher nicht auf die Idee gekommen, den Blick auf diesen Wiesengrund am unteren Bildrand zu senken und sich zu fragen:

"Warum hat Stefan Lochner überhaupt so viele Pflanzen dahin gemalt? Lochner hat ja keinen Pinselstrich gemalt ohne eine Symbolik. Und deshalb mussten sie einfach jetzt auch mal richtig analysiert werden."

Der ehemalige Kölner Weihbischof Friedhelm Hofmann hatte die Gartenarchitektin und studierte Biologin Elisabeth Margarete Comes eines Tages gefragt, ob sie diese Aufgabe nicht übernehmen wolle. Sie sagte zu – und hatte keine Ahnung, dass sie fast zwei Jahrzehnte daran arbeiten würde. Das Ergebnis ist das aufwendig gestaltete Buch "Ein Garten Eden".

Vierzig Pflanzen zählte Comes auf dem Gemälde, dreiunddreißig konnte sie während ihrer langjährigen Analyse identifizieren. Das Ergebnis überrascht: Stefan Lochner, der nicht nur Maler, sondern auch Botaniker war, hat hier ausschließlich Heil- und Nutzpflanzen gemalt, und zwar vor allem Pestpflanzen. Warum nur? – Jetzt wird es spannend.

Dieser Altar ist überhaupt nicht für den Kölner Dom geschaffen worden, sondern für die Kapelle des Kölner Rates. "Sankt Maria in Jerusalem" hieß sie...

Comes: "...und dafür war dann dieses Bild bestimmt. Man wollte ja jegliches Unheil irgendwie von Köln abhalten."

Zum Beispiel die Pest, die damals herrschte.

Comes: "Und die meisten dieser Pflanzen sind Pestpflanzen, also anerkannt als Abwehrmittel – sei es medizinisch, sei es mechanisch, oder einfach als Dämonen abwehrend. Wie zum Beispiel beim Stechenden Mäusedorn, der wirklich ekelhaft stechende Blätter hat. Der Mäusedorn wurde damals in Küchen und Kellern entlanggesetzt, damit die Mäuse nicht an den Käse rankamen. Und als die Pestzeiten kamen, wurde der an allen Türen und so entlanggesetzt, damit die Mäuse und Ratten nicht drüber sprangen.

Das taten die auch nicht; nur wussten die armen Leute ja nicht, dass es nicht Ratte und Maus war, sondern der Rattenfloh, der ein absoluter Hungerkünstler ist und sich also monatelang in irgendwelchen Pelzen verstecken konnte und dann irgendwann doch noch alles übertrug. Deshalb kamen auch immer so Pestwellen."

Der Leiter des Dombauarchivs Klaus Hardering ermöglichte der Autorin die zeitintensive praktische Bildanalyse: Immer wieder stand sie im Kölner Dom auf der Leiter und studierte das Gemälde stunden- und tagelang, verbrachte sogar zwei Nächte in der Kathedrale mit den beiden Fotografen des Kölner Doms, die für das Buch die Fotos machten.

Die Autorin wälzte über die Jahre ungezählte Fachbücher und mehrbändige Botanik-Enzyklopädien. In vielen Ausflügen ins Kölner Umland ging sie auf die Suche nach jeder einzelnen Pflanze, die sie identifiziert hatte, und stellte fest: Tatsächlich wachsen sie alle noch heute dort, wo auch Stefan Lochner seine Modelle fand. Ein besonderes Rätsel konnte Elisabeth Margarete Comes auch lösen: Stefan Lochner hatte nur ein einziges Tier inmitten der vielen Pflanzen gemalt: den Hirschkäfer.

"Sehr wichtig, der Hirschkäfer – ein großes Apotropäm, also dämonenabwehrend. Alle Käfer waren damals heilig, bis auf den Totengräber, der hatte eine etwas negative Wirkung. Aber wer einen Hirschkäfer mit nach Hause nahm, der lud Gottes Zorn auf sich. Das war die Denkungsart im Mittelalter."

Comes erklärt in ihrem Buch die Namen, Vorkommen und die Morphologie der Pflanzen, vor allem aber ihre christliche Symbolik und die medizinische und sonstige Verwendung im Mittelalter. Beispiel: Die Ackerwinde – eigentlich nur ein Unkraut ohne große Heilwirkung.

"Jeder Gärtner hasst sie wie die Pest, weil sie Wurzeln hat, die über einen halben Meter in den Boden gehen. Und man tritt drauf. Aber darin basiert eben der christliche Symbolgehalt: Sie wird immer wieder runtergetreten und kommt immer wieder hoch und verteilt so das Christentum. Und die Blüten der Ackerwinde haben einen zauberhaften Geruch nach Anis. Ganz toll!"

Eine ähnliche Symbolik lässt sich auch dem Veilchen, dem Ackervergissmeinnicht, der Walderdbeere auf Lochners Altar zuordnen. Unter eine andere Kategorie fällt die Kartäusernelke:

"Kartäusernelke – ist auch heilswirkungsmäßig gar nicht so bedeutend, aber der Duft vertrieb sowohl Ungeziefer wie überhaupt Dämonen und alles. Alle Pflanzen, die dufteten, waren auch abwehrend. Aber meine Lieblingsblume, das ist eigentlich der Spitzwegerich. Der hat absolut antibiotische Wirkung. Wenn Sie mal einen ekelhaften Stich haben, Zecke, Mücke oder sonst was, nehmen Sie ein Spitzwegerich-Blatt, zerreiben es, tun es drauf – es geht weg!"

Das größte Geheimnis auf dem Bild aber war für die Kölnerin die Darstellung einer Alraune und ihre prominente Platzierung – nämlich direkt unterhalb der Gottesmutter, auf den Zentimeter genau in der Bildmitte. Die Autorin holte sich Rat bei einem Experten, dem Theologen und Kunsthistoriker Franz Ronig.

"Als ich mal bei ihm war und hab´ gesagt: 'Verstehen Sie das, dass da `ne Alraune ist? Die hat doch eigentlich einen anrüchigen Ruf!' Da sagt er: 'Jetzt haben Sie den Schlüssel zum Bild!' – Sie ist eine der bedeutendsten christlichen Symbolpflanzen. Sie hat ja diesen menschenähnlichen Wurzelstock und treibt dann eben die ersten Blüten raus, und danach kommen riesige Blätter – die sind bis zu einem Meter fast breit. Das war also der Kopf. Man glaubt einfach von ihr, dass Christus, indem er ihr diesen enormen Blattschopf aufsetzte, die Christenheit erlöste. Und die Alraune war so wichtig für die Leute damals, dass man ihr Kleiderchen schneiderte. "

Das Buch "Ein Garten Eden" von Elisabeth Margarete Comes ist ein Schatz an Inhalt und Aufmachung, und der Kölner Dombauarchivleiter Klaus Hardering entdeckte darin viele Wissens-Preziosen. Nie zuvor hatte der Kirchenhistoriker gehört von Symbolik und Nutzungsweisen des Kriechenden Günsel, der Echten Nelkenwurz, des Gewöhnlichen Leberblümchens, des Gelben Galmei-Stiefmütterchens, des Maßliebchens oder der Europäischen Haselwurz.

Hardering: ""Es gibt viele interessante Aspekte in diesem Buch. Zum einen ist es natürlich die Vielzahl der Pflanzen, und vor allen Dingen auch die Bewusstheit, mit der diese Pflanzen auf diesem Altarbild offenbar gemalt worden sind. Da ist nichts dem Zufall überlassen worden, und der hohe Symbolgehalt der vielen Pflanzen, der überrascht schon – zumal ich auch von den sonstigen Wirkungen der Pflanzen keine Ahnung hatte. Das sind Dinge, die mich wirklich fasziniert haben – das hat mir eine ganz neue Welt erschlossen."


Elisabeth Margarete Comes: Ein Garten Eden
Nicolai Verlag Berlin, Dezember 2012
320 Seiten, 199 Euro