"Eine unglaubliche Leichtigkeit"
Wie die Liebe zu dem Fußballer Puskás eine Familie vor dem Holocaust rettete, erzählt Péter Esterházy in "Keine Kunst". Die Hispanistin und Schriftstellerin Rosa Ribas bewundert das Buch für seine Sprache und Ironie - es ist ihr Favorit in unserer Sommerserie "Europäischer Kanon".
Ulrike Timm: Und heute fragen wir Rosa Ribas nach ihrem Vorschlag für unseren Europäischen Kanon: Rosa Ribas, geboren in Barcelona, Hispanistin, lebt seit vielen Jahren in Frankfurt am Main, und hat vor einiger Zeit ihre Universitätsstelle dort aufgegeben zugunsten des Schreibens von Kriminalromanen. "Tödliche Kampagne" heißt ihr neuestes Buch, gerade in diesen Tagen erschienen. Frau Ribas, wir sind gespannt, schönen guten Tag!
Rosa Ribas: Guten Tag!
Timm: Frau Ribas, Sie haben ausgesucht "Keine Kunst" von Péter Esterházy, ein Buch, das im vergangenen Jahr einen sehr exklusiven Preis erhielt, es ist das Fußballbuch des Jahres 2009, eigentlich aber eine Liebeserklärung an die Mutter von Péter Esterházy. Wie kann man mit einem Buch über seine Mutter zugleich das Fußballbuch des Jahres schaffen?
Ribas: Gut, dafür braucht man nur eine Mutter, die Fußball sehr, sehr leidenschaftlich liebt und erlebt. Und diese Leidenschaft erleben wir in dem ganzen Buch durch die Überlegungen vor allem über ihre Beziehung zu Puskás, dem großen Fußballer aus Ungarn.
Timm: Das flechte ich mal ein: Ungarn, 1950er-Jahre, alle Fußballfans werden sofort denken: Finale Deutschland - Ungarn 1954 in Bern. Da spielte ein ungarischer Sensationsfußballer mit, Puskás, und den kannte die Mutter von Péter Esterházy persönlich, sehr persönlich. Inwiefern?
Ribas: Es ist eine sehr, sehr komplexe Beziehung, die sie zu Puskás hatte, weil da kommen zusammen zuerst eine Art Liebesbeziehung, aber unerfüllte Liebesbeziehung, würde ich sagen, andererseits es ist die Begegnung von einer Dame aus einer sehr aristokratischen Familie mit einem Sportler, einem Prolet. Aber die Verhältnisse sind umgekehrt, weil in dem Buch erleben wir, wie durch die Freundschaft zwischen der Mutter … die Familie zum Beispiel vor der Deportation gerettet wird. Und da ist Puskás derjenige, der eine Macht hat, die er eigentlich verachtet, und seine privilegierte Position als größter Star der Fußballmannschaft ins Spiel bringt, um diese Familie vor dieser Deportation zu retten.
Timm: Der berühmte Fußballer setzt sich für die Familie Esterházy ein. Es gibt aber viele kleine Bilder in diesem Roman, die zeigen, wie die Liebe, kann man sagen, von Péter Esterházys Mutter zum Fußball Ausdruck findet. Das geht zum Teil über einen Seidenstrumpf.
Ribas: Oh ja, das ist eine wunderschöne Passage, wo sie an einem Bolzplatz vorbeiläuft und sieht, dass der Ball, der eigentlich aus Strümpfen und Unterwäsche gemacht ist, so weich ist, dass sie nicht richtig spielen können. Und dann zieht sie ihre seidenen Strümpfe aus, damit der Ball die richtige Konsistenz hat.
Timm: Das heißt aber auch, wenn der Sohn Péter Esterházy solch eine Situation beschreibt, dann hat die Mutter auch einen gewissen Erotik-Faktor. Der Seidenstrumpf, mit dem sie den Fußball füllt, das ist ja ein Bild, das ist nicht ganz neutral zu sehen.
Ribas: Nein, auf keinen Fall, und auch über die Beine der Mutter spricht er auch ganz oft, die wunderschönen Beine der Mutter, die immer zur Geltung kommen, die sie auch sehr geschickt benutzen kann. Es ist eine sehr, sehr erotische, aber nur angedeutet erotische Beziehung.
Timm: Ein Buch, "Keine Kunst", das zwischen Fußball und Gefühlen eines kleinen Jungen für seine Mutter hin- und herdribbelt und zugleich auch noch ein Zeitbild und ein Gesellschaftsbild der 1950er - was flicht Péter Esterházy noch alles ein in diesen Roman "Keine Kunst"?
Ribas: Ziemlich viel. Das Buch ist nicht sehr dick, was ich auch sehr, sehr angenehm fand, und er redet über viele, viele wichtige Themen. Es geht um Altwerden zum Beispiel, um den Tod der Mutter, um das Schreiben, es geht auch um das Leben unter einer Diktatur, es geht um Repression, es geht um die Revolution im Jahr 1956, um die Unterdrückung dieser Revolution. Es geht um viele, viele Sachen, die alle miteinander verknüpft werden, mit ganz, ganz wunderbaren Sätzen. Und manchmal … Das hat mir an diesem Buch sehr, sehr gut gefallen: dass die schönsten oder die wichtigsten Sachen in Nebensätzen versteckt waren. Und mit dieser Beiläufigkeit, die macht alles so leicht, und andererseits ist man überrascht, dass man das halbe Buch zum Beispiel markieren würde, denn es ist so viel, es ist so dicht, und auf keinen Fall wird es schwerfällig. Es hat eine unglaubliche Leichtigkeit.
Timm: Frau Ribas, hören wir mal einen Ausschnitt aus "Keine Kunst" von Péter Esterházy, einen Ausschnitt, in dem der Schriftsteller seine Mutter höchst aufwändig beschreibt:
Ich war es gewohnt, ich gewöhnte mich daran, dass meine Mutter immer, jederzeit, konstant, sommers wie winters, allzeit, alle Wege, stets, Tag und Nacht, in Ewigkeit, ewig lang, bis zum Schluss, fort und fort, immerdar, ad infinitum, solange die Welt steht, permanent, ununterbrochen, pausenlos, ohne Pause, andauernd, unablässig, ewiglich, immerzu, unentwegt, kontinuierlich, ohne Ende, unaufhörlich, laufend, am laufenden Band – das ist jetzt schon ein wenig zu lang und gab es auch schon mal und wird es auch noch mal geben –, feste, in einem Zug, ohne Unterlass, durchweg, Wortschatz des Ungarischen, Budapest 1998, über Fußball redete und damit verglich, immer wieder darauf zurückkam. Meine Mutter war die erste Mutter in meinem Leben. Ich konnte zu Recht glauben, dass Mütter so sind. Die Welt ist so, dass Mütter so sind. Mütter sind so, dass wir sie "Mami" rufen. Ihr Hals und ihre Schulter, wohin wir unseren Kopf bohren, sind warm und sie riechen gut. Die Mütter beschäftigen sich immer, jederzeit, konstant und so weiter, mit uns, behalten uns ständig im Auge und sind davon sichtlich glücklich.
Timm: Aus "Keine Kunst" von Péter Esterházy, empfohlen für unseren Europäischen Kanon von Rosa Ribas. Frau Ribas, "meine Mutter war die erste Mutter in meinem Leben", den Satz hätte ich mir unterringelt. Trotzdem: Das Ganze klingt kompliziert. Ist das immer so bei "Keine Kunst"?
Ribas: Ja. Es ist kompliziert, aber ich würde sagen, es lohnt sich. Man soll sich einfach mitnehmen lassen von dieser Sprache. Es ist eine wunderbare Übersetzungsarbeit, die wir hier lesen können, …
Timm: … von Terézia Mora, …
Ribas: … fantastisch, richtig, eine fantastische Übersetzung. Und es klingt kompliziert, aber wenn Sie es hören, wie Sie gerade in der Passage, die wir gehört haben, wenn Sie dem folgen, dann merken Sie, wie es fließt, mit einer Leichtigkeit, die uns einfach mitnimmt. Weil im Buch kann man nicht sagen, das ist eine komplette Geschichte erzählt wird. Ich würde sagen, es ist kein Roman, wie im Umschlag behauptet wird. Und trotzdem: Man geht mit. Man soll sich einfach nur mitnehmen lassen von dieser wunderbaren Sprache.
Timm: Aber fußballerisch gesprochen gerät man auch ganz schön ins Abseits, wenn man nicht hellwach bleibt, wenn man das liest, oder?
Ribas: Ja, ja, ja, das ist kein Buch, das man so stückchenweise vorm Schlafengehen lesen kann oder im Bus. Man soll konzentriert bleiben. Es verlangt viel Aufmerksamkeit, aber man wird reichlich belohnt.
Timm: Rosa Ribas, Péter Esterházy ist ein sehr anerkannter Schriftsteller. Wir waren uns eigentlich ziemlich sicher, dass jemand ihn für seinen Europäischen Kanon empfehlen würde. Sie haben aber nicht das große Familienepos gewählt, "Harmonia Caelestis", sondern eben "Keine Kunst". Warum für Sie ganz persönlich diese Wahl?
Ribas: Für den gleichen Grund, wie Péter Esterházys Mutter vielleicht fußballverrückt war oder nicht: wegen Puskás. Weil als ich gelesen habe, dass es auch um Puskás und diese Goldene Generation geht, sind bei mir so viele Erinnerungen wach geworden. Meine Familie ist auch ziemlich sportverrückt, muss man sagen, und Puskás war ein großes Idol in Spanien, als er mit anderen Spielern im Jahr 56 desertiert hat, wie man … weil sie auch Militär waren. Sie kamen nicht zurück, als die Sowjetunion die Revolution niedergemacht hat, hat Puskás bei Real Madrid gespielt, und andere Spieler, die mit ihm auch weggegangen sind, haben bei dem FC Barcelona gespielt.
Und das sind die Namen, die ich von meinem Großvater mit großer Bewunderung gehört habe: Puskás als der Größte überhaupt, und auch, wenn er bei Real Madrid gespielt hat, das ist eigentlich in Barcelona der Erzfeind, Kubala, der nicht zu dieser Wunder-Elf gehörte und der sogar die spanische Staatsangehörigkeit angenommen hat. Und ich war als Kind überzeugt, Kubala sei Katalane, weil er so zum normalen Gespräch über Fußball gehörte.
Timm: Das heißt, der Fußball hat bei Ihnen eine spanisch-ungarische Verbindung geschafft, eine literarische spanisch-ungarische Verbindung. Was bewundern Sie ganz generell an Péter Esterházy und seinem Schreiben?
Ribas: Mehrere Sachen, einerseits - und deswegen fand ich, dass er ein richtiges Beispiel für europäische Literatur ist: Ich finde, diese Mischung, wie er schafft, dass seine Bücher einerseits sehr ungarisch sind, und andererseits: Man erkennt etwas Europäisches in seiner Art zu erzählen - diese Mischung aus etwas ganz Lokalem und andererseits etwas, das jeder in Europa verstehen kann und als eigene Kultur empfindet. Andererseits die Sprache und vor allem sein Humor, diese Ironie, die finde ich fantastisch.
Timm: Rosa Ribas, ich danke Ihnen ganz herzlich. Ihre Empfehlung für unseren europäischen Kanon: "Keine Kunst" von Péter Esterházy, erschienen im Berlin Verlag. Und die spanische Schriftstellerin Rosa Ribas selbst veröffentlicht bei Suhrkamp, zuletzt "Tödliche Kampagne".
Rosa Ribas: Guten Tag!
Timm: Frau Ribas, Sie haben ausgesucht "Keine Kunst" von Péter Esterházy, ein Buch, das im vergangenen Jahr einen sehr exklusiven Preis erhielt, es ist das Fußballbuch des Jahres 2009, eigentlich aber eine Liebeserklärung an die Mutter von Péter Esterházy. Wie kann man mit einem Buch über seine Mutter zugleich das Fußballbuch des Jahres schaffen?
Ribas: Gut, dafür braucht man nur eine Mutter, die Fußball sehr, sehr leidenschaftlich liebt und erlebt. Und diese Leidenschaft erleben wir in dem ganzen Buch durch die Überlegungen vor allem über ihre Beziehung zu Puskás, dem großen Fußballer aus Ungarn.
Timm: Das flechte ich mal ein: Ungarn, 1950er-Jahre, alle Fußballfans werden sofort denken: Finale Deutschland - Ungarn 1954 in Bern. Da spielte ein ungarischer Sensationsfußballer mit, Puskás, und den kannte die Mutter von Péter Esterházy persönlich, sehr persönlich. Inwiefern?
Ribas: Es ist eine sehr, sehr komplexe Beziehung, die sie zu Puskás hatte, weil da kommen zusammen zuerst eine Art Liebesbeziehung, aber unerfüllte Liebesbeziehung, würde ich sagen, andererseits es ist die Begegnung von einer Dame aus einer sehr aristokratischen Familie mit einem Sportler, einem Prolet. Aber die Verhältnisse sind umgekehrt, weil in dem Buch erleben wir, wie durch die Freundschaft zwischen der Mutter … die Familie zum Beispiel vor der Deportation gerettet wird. Und da ist Puskás derjenige, der eine Macht hat, die er eigentlich verachtet, und seine privilegierte Position als größter Star der Fußballmannschaft ins Spiel bringt, um diese Familie vor dieser Deportation zu retten.
Timm: Der berühmte Fußballer setzt sich für die Familie Esterházy ein. Es gibt aber viele kleine Bilder in diesem Roman, die zeigen, wie die Liebe, kann man sagen, von Péter Esterházys Mutter zum Fußball Ausdruck findet. Das geht zum Teil über einen Seidenstrumpf.
Ribas: Oh ja, das ist eine wunderschöne Passage, wo sie an einem Bolzplatz vorbeiläuft und sieht, dass der Ball, der eigentlich aus Strümpfen und Unterwäsche gemacht ist, so weich ist, dass sie nicht richtig spielen können. Und dann zieht sie ihre seidenen Strümpfe aus, damit der Ball die richtige Konsistenz hat.
Timm: Das heißt aber auch, wenn der Sohn Péter Esterházy solch eine Situation beschreibt, dann hat die Mutter auch einen gewissen Erotik-Faktor. Der Seidenstrumpf, mit dem sie den Fußball füllt, das ist ja ein Bild, das ist nicht ganz neutral zu sehen.
Ribas: Nein, auf keinen Fall, und auch über die Beine der Mutter spricht er auch ganz oft, die wunderschönen Beine der Mutter, die immer zur Geltung kommen, die sie auch sehr geschickt benutzen kann. Es ist eine sehr, sehr erotische, aber nur angedeutet erotische Beziehung.
Timm: Ein Buch, "Keine Kunst", das zwischen Fußball und Gefühlen eines kleinen Jungen für seine Mutter hin- und herdribbelt und zugleich auch noch ein Zeitbild und ein Gesellschaftsbild der 1950er - was flicht Péter Esterházy noch alles ein in diesen Roman "Keine Kunst"?
Ribas: Ziemlich viel. Das Buch ist nicht sehr dick, was ich auch sehr, sehr angenehm fand, und er redet über viele, viele wichtige Themen. Es geht um Altwerden zum Beispiel, um den Tod der Mutter, um das Schreiben, es geht auch um das Leben unter einer Diktatur, es geht um Repression, es geht um die Revolution im Jahr 1956, um die Unterdrückung dieser Revolution. Es geht um viele, viele Sachen, die alle miteinander verknüpft werden, mit ganz, ganz wunderbaren Sätzen. Und manchmal … Das hat mir an diesem Buch sehr, sehr gut gefallen: dass die schönsten oder die wichtigsten Sachen in Nebensätzen versteckt waren. Und mit dieser Beiläufigkeit, die macht alles so leicht, und andererseits ist man überrascht, dass man das halbe Buch zum Beispiel markieren würde, denn es ist so viel, es ist so dicht, und auf keinen Fall wird es schwerfällig. Es hat eine unglaubliche Leichtigkeit.
Timm: Frau Ribas, hören wir mal einen Ausschnitt aus "Keine Kunst" von Péter Esterházy, einen Ausschnitt, in dem der Schriftsteller seine Mutter höchst aufwändig beschreibt:
Ich war es gewohnt, ich gewöhnte mich daran, dass meine Mutter immer, jederzeit, konstant, sommers wie winters, allzeit, alle Wege, stets, Tag und Nacht, in Ewigkeit, ewig lang, bis zum Schluss, fort und fort, immerdar, ad infinitum, solange die Welt steht, permanent, ununterbrochen, pausenlos, ohne Pause, andauernd, unablässig, ewiglich, immerzu, unentwegt, kontinuierlich, ohne Ende, unaufhörlich, laufend, am laufenden Band – das ist jetzt schon ein wenig zu lang und gab es auch schon mal und wird es auch noch mal geben –, feste, in einem Zug, ohne Unterlass, durchweg, Wortschatz des Ungarischen, Budapest 1998, über Fußball redete und damit verglich, immer wieder darauf zurückkam. Meine Mutter war die erste Mutter in meinem Leben. Ich konnte zu Recht glauben, dass Mütter so sind. Die Welt ist so, dass Mütter so sind. Mütter sind so, dass wir sie "Mami" rufen. Ihr Hals und ihre Schulter, wohin wir unseren Kopf bohren, sind warm und sie riechen gut. Die Mütter beschäftigen sich immer, jederzeit, konstant und so weiter, mit uns, behalten uns ständig im Auge und sind davon sichtlich glücklich.
Timm: Aus "Keine Kunst" von Péter Esterházy, empfohlen für unseren Europäischen Kanon von Rosa Ribas. Frau Ribas, "meine Mutter war die erste Mutter in meinem Leben", den Satz hätte ich mir unterringelt. Trotzdem: Das Ganze klingt kompliziert. Ist das immer so bei "Keine Kunst"?
Ribas: Ja. Es ist kompliziert, aber ich würde sagen, es lohnt sich. Man soll sich einfach mitnehmen lassen von dieser Sprache. Es ist eine wunderbare Übersetzungsarbeit, die wir hier lesen können, …
Timm: … von Terézia Mora, …
Ribas: … fantastisch, richtig, eine fantastische Übersetzung. Und es klingt kompliziert, aber wenn Sie es hören, wie Sie gerade in der Passage, die wir gehört haben, wenn Sie dem folgen, dann merken Sie, wie es fließt, mit einer Leichtigkeit, die uns einfach mitnimmt. Weil im Buch kann man nicht sagen, das ist eine komplette Geschichte erzählt wird. Ich würde sagen, es ist kein Roman, wie im Umschlag behauptet wird. Und trotzdem: Man geht mit. Man soll sich einfach nur mitnehmen lassen von dieser wunderbaren Sprache.
Timm: Aber fußballerisch gesprochen gerät man auch ganz schön ins Abseits, wenn man nicht hellwach bleibt, wenn man das liest, oder?
Ribas: Ja, ja, ja, das ist kein Buch, das man so stückchenweise vorm Schlafengehen lesen kann oder im Bus. Man soll konzentriert bleiben. Es verlangt viel Aufmerksamkeit, aber man wird reichlich belohnt.
Timm: Rosa Ribas, Péter Esterházy ist ein sehr anerkannter Schriftsteller. Wir waren uns eigentlich ziemlich sicher, dass jemand ihn für seinen Europäischen Kanon empfehlen würde. Sie haben aber nicht das große Familienepos gewählt, "Harmonia Caelestis", sondern eben "Keine Kunst". Warum für Sie ganz persönlich diese Wahl?
Ribas: Für den gleichen Grund, wie Péter Esterházys Mutter vielleicht fußballverrückt war oder nicht: wegen Puskás. Weil als ich gelesen habe, dass es auch um Puskás und diese Goldene Generation geht, sind bei mir so viele Erinnerungen wach geworden. Meine Familie ist auch ziemlich sportverrückt, muss man sagen, und Puskás war ein großes Idol in Spanien, als er mit anderen Spielern im Jahr 56 desertiert hat, wie man … weil sie auch Militär waren. Sie kamen nicht zurück, als die Sowjetunion die Revolution niedergemacht hat, hat Puskás bei Real Madrid gespielt, und andere Spieler, die mit ihm auch weggegangen sind, haben bei dem FC Barcelona gespielt.
Und das sind die Namen, die ich von meinem Großvater mit großer Bewunderung gehört habe: Puskás als der Größte überhaupt, und auch, wenn er bei Real Madrid gespielt hat, das ist eigentlich in Barcelona der Erzfeind, Kubala, der nicht zu dieser Wunder-Elf gehörte und der sogar die spanische Staatsangehörigkeit angenommen hat. Und ich war als Kind überzeugt, Kubala sei Katalane, weil er so zum normalen Gespräch über Fußball gehörte.
Timm: Das heißt, der Fußball hat bei Ihnen eine spanisch-ungarische Verbindung geschafft, eine literarische spanisch-ungarische Verbindung. Was bewundern Sie ganz generell an Péter Esterházy und seinem Schreiben?
Ribas: Mehrere Sachen, einerseits - und deswegen fand ich, dass er ein richtiges Beispiel für europäische Literatur ist: Ich finde, diese Mischung, wie er schafft, dass seine Bücher einerseits sehr ungarisch sind, und andererseits: Man erkennt etwas Europäisches in seiner Art zu erzählen - diese Mischung aus etwas ganz Lokalem und andererseits etwas, das jeder in Europa verstehen kann und als eigene Kultur empfindet. Andererseits die Sprache und vor allem sein Humor, diese Ironie, die finde ich fantastisch.
Timm: Rosa Ribas, ich danke Ihnen ganz herzlich. Ihre Empfehlung für unseren europäischen Kanon: "Keine Kunst" von Péter Esterházy, erschienen im Berlin Verlag. Und die spanische Schriftstellerin Rosa Ribas selbst veröffentlicht bei Suhrkamp, zuletzt "Tödliche Kampagne".