Eine Universität im Exil
Aus Angst vor politischer Verfolgung flüchteten vor acht Jahren Dozenten, Studenten und der Rektor der Europäischen Humanistischen Universität in Minsk nach Vilnius. Heute studieren an der Exil-Uni - auch Dank internationaler Hilfe - fast 2.000 Studenten.
"Keine Hunde", "keine Waffen", "keine Zigaretten" mahnen Verbotsschilder an der Eingangstür. Daneben ein Hinweis: Kameraüberwachung. Die "Europäische Humanistische Universität" - EHU - liegt am Stadtrand von Vilnius. Untergebracht in einem gelben, dreistöckigen Klinkerbau.
Tania eilt die Treppe hinauf, ins Foyer.
Blickt suchend auf die großen Flachbildschirme. Dort stehen die Veranstaltungs-Ankündigungen. Eine Woche lang lädt die Universität zum Tag der offenen Tür. Tania ist vor zwei Tagen aus Weißrussland gekommen, hat sich bei ihrer Oma in Vilnius einquartiert. Im nächsten Semester will die 17-Jährige hier studieren. In ihrer Heimat in Minsk will sie nicht bleiben.
"Heute Morgen war ich bei der Eröffnungsveranstaltung", erzählt sie aufgeregt. Und fingert einen blauen Papphefter aus dem Rucksack. Jetzt hat sie Informationen über die geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Ein Stadtplan von Vilnius. Eine Kurzgeschichte der Universität: Gegründet vor 20 Jahren in Minsk. Vor acht Jahren von den Machthabern in Weißrussland geschlossen. Danach kompletter Umzug nach Vilnius. Ins Exil.
Heute studieren hier 2000 Studenten, 90 Prozent Weißrussen, davon 1.400 im Fernstudium. Die Unterrichtssprachen sind Russisch, Weißrussisch und Englisch. Finanziert wird die Uni mit Geldern von Stiftungen aus den USA, der EU und Norwegen. Tania verstaut die Mappe wieder im Rucksack.
Aus einer Sitzecke im Foyer winkt die Oma herüber. Eleganter Mantel, Hut, Halstuch. Missmutig deutet sie auf einige Stellwände. Eine Ausstellung zum 20. Geburtstag der EHU. Alte Fotos, Zeitungsausschnitte: Die Geschichte der weißrussischen Exilbewegung in Litauen zwischen 1918 und 1920. Wann immer es in Minsk brenzlig wurde, suchten Verfolgte Zuflucht in Litauen. Damals wie auch heute. Die alte Dame schüttelt missbilligend den Kopf.
"Ich sehe das weißrussische Staatsfernsehen, den ersten Kanal, auch die Sendungen im litauischen Fernsehen. Ich weiß über die Ereignisse im Land Bescheid. Ich spreche perfekt Russisch und Litauisch. Meiner Meinung nach ist die Situation in Weißrussland nicht schlechter als bei uns. Was die wirtschaftliche Lage angeht, so bin ich fest davon überzeugt, dass Weißrussland uns um ein Vielfaches voraus ist. Das ist meine persönliche Meinung."
Seit 70 Jahren lebt sie in Vilnius, zweimal jedes Jahr besucht sie die Verwandtschaft in Minsk. Dort sind die Straßen viel sauberer als bei uns, sagt sie. Alles ist ordentlicher. Und viel sicherer. Das ist für die Oma wichtig. Die Enkelin hat aber andere Prioritäten. Verlegen tritt sie von einem Bein aufs andere. Widerspricht zaghaft:
"Hier gibt es aber viel mehr Perspektiven als bei uns", sagt sie. Die Fächerauswahl, die Austauschprogramme – das ganze Angebot ist viel besser als in Minsk. Und hier verliert niemand seinen Studienplatz, wenn er gegen die Regierung protestiert. Die Oma hört zu. Nickt zögerlich.
"Dasselbe hat mir auch gerade eine Studentin erzählt, die im vierten Semester Journalismus studiert", sagt die alte Dame nachdenklich. Die 19-Jährige Gesprächspartnerin sitzt lächelnd ein paar Plätze weiter. Liest einen Aufsatz über europäische Intellektuelle. Und den Freiheitsgedanken. Amüsiert verfolgt sie nebenbei die Diskussion zwischen Oma und Enkelin. Vor zwei Jahren hat sie Weißrussland verlassen:
"Im ersten Jahr ist es mir ziemlich schwer gefallen. Weil ich meine Familie und meine Freunde in Weißrussland vermisst habe, bin ich ziemlich oft dahin gefahren. Jetzt habe ich mich an das Leben hier gewöhnt. Und mir gefällt es hier besser als in Belarus."
Das Studium ist freier. Wenn die Leistungen stimmen, gibt es Extra-Stipendien. Und niemand verliert seinen Studien-Platz, wenn er an Demonstrationen teilnimmt – ein ganz anderes Leben als in Weißrussland.
"Natürlich vermisse ich Weißrussland, das ist meine Heimat, dort leben meine Eltern, meine Freunde. Andererseits ist die Lage dort so, dass ich nicht zurück will. Ich fühle mich hier wohler."
Wenn sie ihre Eltern in Minsk besucht, hat sie jedes Mal ein flaues Gefühl im Magen. Unruhig denkt sie dann an die Rückfahrt nach Vilnius. Einige ihrer Dozenten, die zwischen Minsk und Vilnius pendeln, wurden in den letzten Monaten von weißrussischen Grenzbeamten an der Ausreise gehindert. Ebenso wie Menschenrechtler, die Litauen besuchen und Vorträge halten wollten.
"Gott sei Dank, hatte ich bis jetzt noch nie Probleme. Vor allem nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 hatten einige unserer Studenten Schwierigkeiten. Vor allem die, die unmittelbar auf dem Platz waren oder als unabhängige Wahlbeobachter in Wahllokalen. Ich weiß von einer Kommilitonin, die an der Grenze aussteigen musste und befragt wurde."
Tania nickt, die Oma schüttelt den Kopf. Dass junge Frauen einfach ihre Heimat verlassen, weil sie gegängelt werden und anderswo mehr Möglichkeiten haben, das kann die alte Dame nur schwer verstehen. Ihre Enkelin blickt mit großen Augen auf die Studentin, die ihr schickes Notebook zuklappt und sich selbstbewusst verabschiedet. Ihr Seminar wartet.
Tania eilt die Treppe hinauf, ins Foyer.
Blickt suchend auf die großen Flachbildschirme. Dort stehen die Veranstaltungs-Ankündigungen. Eine Woche lang lädt die Universität zum Tag der offenen Tür. Tania ist vor zwei Tagen aus Weißrussland gekommen, hat sich bei ihrer Oma in Vilnius einquartiert. Im nächsten Semester will die 17-Jährige hier studieren. In ihrer Heimat in Minsk will sie nicht bleiben.
"Heute Morgen war ich bei der Eröffnungsveranstaltung", erzählt sie aufgeregt. Und fingert einen blauen Papphefter aus dem Rucksack. Jetzt hat sie Informationen über die geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Ein Stadtplan von Vilnius. Eine Kurzgeschichte der Universität: Gegründet vor 20 Jahren in Minsk. Vor acht Jahren von den Machthabern in Weißrussland geschlossen. Danach kompletter Umzug nach Vilnius. Ins Exil.
Heute studieren hier 2000 Studenten, 90 Prozent Weißrussen, davon 1.400 im Fernstudium. Die Unterrichtssprachen sind Russisch, Weißrussisch und Englisch. Finanziert wird die Uni mit Geldern von Stiftungen aus den USA, der EU und Norwegen. Tania verstaut die Mappe wieder im Rucksack.
Aus einer Sitzecke im Foyer winkt die Oma herüber. Eleganter Mantel, Hut, Halstuch. Missmutig deutet sie auf einige Stellwände. Eine Ausstellung zum 20. Geburtstag der EHU. Alte Fotos, Zeitungsausschnitte: Die Geschichte der weißrussischen Exilbewegung in Litauen zwischen 1918 und 1920. Wann immer es in Minsk brenzlig wurde, suchten Verfolgte Zuflucht in Litauen. Damals wie auch heute. Die alte Dame schüttelt missbilligend den Kopf.
"Ich sehe das weißrussische Staatsfernsehen, den ersten Kanal, auch die Sendungen im litauischen Fernsehen. Ich weiß über die Ereignisse im Land Bescheid. Ich spreche perfekt Russisch und Litauisch. Meiner Meinung nach ist die Situation in Weißrussland nicht schlechter als bei uns. Was die wirtschaftliche Lage angeht, so bin ich fest davon überzeugt, dass Weißrussland uns um ein Vielfaches voraus ist. Das ist meine persönliche Meinung."
Seit 70 Jahren lebt sie in Vilnius, zweimal jedes Jahr besucht sie die Verwandtschaft in Minsk. Dort sind die Straßen viel sauberer als bei uns, sagt sie. Alles ist ordentlicher. Und viel sicherer. Das ist für die Oma wichtig. Die Enkelin hat aber andere Prioritäten. Verlegen tritt sie von einem Bein aufs andere. Widerspricht zaghaft:
"Hier gibt es aber viel mehr Perspektiven als bei uns", sagt sie. Die Fächerauswahl, die Austauschprogramme – das ganze Angebot ist viel besser als in Minsk. Und hier verliert niemand seinen Studienplatz, wenn er gegen die Regierung protestiert. Die Oma hört zu. Nickt zögerlich.
"Dasselbe hat mir auch gerade eine Studentin erzählt, die im vierten Semester Journalismus studiert", sagt die alte Dame nachdenklich. Die 19-Jährige Gesprächspartnerin sitzt lächelnd ein paar Plätze weiter. Liest einen Aufsatz über europäische Intellektuelle. Und den Freiheitsgedanken. Amüsiert verfolgt sie nebenbei die Diskussion zwischen Oma und Enkelin. Vor zwei Jahren hat sie Weißrussland verlassen:
"Im ersten Jahr ist es mir ziemlich schwer gefallen. Weil ich meine Familie und meine Freunde in Weißrussland vermisst habe, bin ich ziemlich oft dahin gefahren. Jetzt habe ich mich an das Leben hier gewöhnt. Und mir gefällt es hier besser als in Belarus."
Das Studium ist freier. Wenn die Leistungen stimmen, gibt es Extra-Stipendien. Und niemand verliert seinen Studien-Platz, wenn er an Demonstrationen teilnimmt – ein ganz anderes Leben als in Weißrussland.
"Natürlich vermisse ich Weißrussland, das ist meine Heimat, dort leben meine Eltern, meine Freunde. Andererseits ist die Lage dort so, dass ich nicht zurück will. Ich fühle mich hier wohler."
Wenn sie ihre Eltern in Minsk besucht, hat sie jedes Mal ein flaues Gefühl im Magen. Unruhig denkt sie dann an die Rückfahrt nach Vilnius. Einige ihrer Dozenten, die zwischen Minsk und Vilnius pendeln, wurden in den letzten Monaten von weißrussischen Grenzbeamten an der Ausreise gehindert. Ebenso wie Menschenrechtler, die Litauen besuchen und Vorträge halten wollten.
"Gott sei Dank, hatte ich bis jetzt noch nie Probleme. Vor allem nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 hatten einige unserer Studenten Schwierigkeiten. Vor allem die, die unmittelbar auf dem Platz waren oder als unabhängige Wahlbeobachter in Wahllokalen. Ich weiß von einer Kommilitonin, die an der Grenze aussteigen musste und befragt wurde."
Tania nickt, die Oma schüttelt den Kopf. Dass junge Frauen einfach ihre Heimat verlassen, weil sie gegängelt werden und anderswo mehr Möglichkeiten haben, das kann die alte Dame nur schwer verstehen. Ihre Enkelin blickt mit großen Augen auf die Studentin, die ihr schickes Notebook zuklappt und sich selbstbewusst verabschiedet. Ihr Seminar wartet.