Eine untergegangene Welt
Peter Kurzeck erinnert sich in "Ein Sommer, der bleibt" an die hessische Provinz im Jahr 1946. Es ist ein Ausnahme-Hörbuch, auch weil Kurzeck ein liebevoller und warmherziger Chronist seiner Kindheit ist.
"Das Dorf meiner Kindheit ist Staufenberg im Kreis Gießen. Als wir dahin kamen, war das ein sehr kleiner Ort, den man nur über Feldwege und eine Schotterstraße, eine eigentlich mürrische Schotterstraße erreichen konnte. Es war einerseits winzig klein, andererseits aber auch sehr schön. Es war ein Ort, in dem man nicht nur jeden Menschen, sondern auch jede Kuh und jede Ziege und die Hunde sowieso und die Katzen alle kannte. Man wusste, der schönste Hahn im Dorf gehörte dem Gastwirt Zecher. Ich bin manchmal morgens gegangen, nur um seinen schönen Hahn mit dem glänzenden Gefieder zu sehen."
1946 kam Peter Kurzeck nach Staufenberg. Der Krieg war zuende. Ganz Deutschland war voller Flüchtlinge: darunter auch die Kurzecks aus Böhmen. Ein Lastwagen brachte sie - zusammen mit anderen Flüchtlingen - in den auf einem Basaltfelsen hoch über der Lahn gelegenen Ort, der damals 1000 Einheimische und 600 Flüchtlinge zählte.
Und ab und zu kamen noch einige dazu:
"Mein Vater kam, als ich fast fünf war, aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Und das war natürlich ziemlich anstrengend, dass da plötzlich ein Mann kommt, den man nie gesehen hat und der angeblich der eigene Vater ist und von dem man denkt, im Grunde braucht man ihn nicht, weil man ihn nie gebraucht hat. Und der steht jetzt da. Und es kommt einem vor, dass er ein sehr verschlossenes Gesicht hat, weil er durch den Krieg und die Gefangenschaft und eigentlich durch sein ganzes Leben gekränkt worden ist. Oder so."
Peter besteht dem Vater gegenüber auf seiner gewohnten Autonomie. Er verbringt die Tage so wie er will und als seine etwas älteren Spielkameraden in die Schule kommen, verständigt er sich mit dem Schullehrer auf eine frühere Einschulung. Er erzählt von den ersten Jahre auf der kleinen Dorfschule als von einer glücklichen Zeit, in der das Unterrichtsprogramm seiner Neugier fürs Leben entsprach.
Der Junge mit den Argusaugen für die Details seiner Lebenswelt versucht sich auf alles einen Reim zu machen. Er hört, wie die Eltern im Dorf ihre Kinder "Du Missgeburt" schimpfen und glaubt, dass sie sie mit dieser Lieblosigkeit auf ein hartes Leben vorbereiten wollen. Er beobachtet die ruckenden Bewegungen der Bachstelzen und glaubt, dass die Briefträgerin sich von ihnen ihren wippenden, zuckenden Gang abgeguckt hat. An den Tagen, wo er Geld für Brause bekommt, registriert er beglückt, wie es sich anfühlt, wenn das Pulver in die Linien seiner Hand einrieselt.
"All das Zeug macht einen empfänglich für die Vielfalt der Welt. Und diese Vielfalt der Welt, wenn man die einmal wirklich wahrgenommen hat als Kind, glaub ich, kann sie einem nicht mehr ganz verloren gehen."
Und die Vielfalt der Welt zeigen, das sei die Aufgabe eines Schriftstellers, sagt Kurzeck auf einer früheren Hörplatte mit dem Titel "Stuhl, Tisch, Lampe". Mit keinem seiner fünf Romane, keinem Hörbuch hatte der 1943 geborene Peter Kurzeck solchen Erfolg wie mit seiner spontan ins Mikrophon erzählten Kindheitsgeschichte "Ein Sommer, der bleibt". Unfassbar flüssig und stellenweise fast atemlos schildert Peter Kurzeck, wie er die Welt von seiner Warte aus sah.
Kleinste Einzelheiten deutet er als Keimzelle einer ganzen Weltanschauung. Wie zum Beispiel die spätere Zerstörung der Landschaft durch den Bau der Giessener Umgehungsstraße und der Autobahn. Aus amerikanischen Vorabendserien hätten die Leute sich den Spleen eingefangen, ihr Essen nicht nur in möglichst weit entfernten, gigantischen Supermärkten zu kaufen. Weil sie sich damals angewöhnt hätten, immer etwas zu viel zu essen, wären sie anschließend noch mit ihren Autos an den nächsten Wald gefahren, um dort zu joggen oder jämmerliche Trimm-Dich!-Pfade abzuarbeiten.
"Die Leute könnten sich ihr Leben ohne diese Einkaufsfahrten nicht mehr vorstellen. Sie würden da sitzen und wären eigentlich überflüssig auf der Welt. Oder sie müssten jetzt anfangen zu denken. Und dafür haben sie aber das Fernsehen inzwischen."
Mit Peter Kurzecks "Ein Sommer, der bleibt", gewinnt das Hörbuch eine neue Dimension hinzu, die eigentlich eine alte ist: Die mündliche Überlieferung. Und diese hier ist grandios gelungen. Kurzecks Stil ist liebevoll, warmherzig, großzügig und vor allen Dingen sinnlich. Hier ist einer, der mit offenen Sinnen durchs Leben geht und in der Folge reich wird an Geschichten. Peter Kurzeck sieht die Welt ganz persönlich.
Das fast schon abgehalfterte Wort "unangepasst" kommt einem in den Sinn. Aber das ist es: Er wirkt frei, als hätten ihm familiäre oder gesellschaftliche Bedrückungen wenig anhaben können. Und als könne er uns deshalb wirklich seine Sicht auf seine kleine Welt zeigen: Die Welt als ein Ort unerschöpflicher Geschichten, deren Reichtum darin liegt, dass sie lebendig machen. Den Erzähler und seine Zuhörer, wenn sie mögen.
Rezensiert von Brigitte Neumann
Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt,
Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit,
Supposé Verlag Berlin 2007, 4 Audio CD’s, 290 Minuten,
34,80 Euro
1946 kam Peter Kurzeck nach Staufenberg. Der Krieg war zuende. Ganz Deutschland war voller Flüchtlinge: darunter auch die Kurzecks aus Böhmen. Ein Lastwagen brachte sie - zusammen mit anderen Flüchtlingen - in den auf einem Basaltfelsen hoch über der Lahn gelegenen Ort, der damals 1000 Einheimische und 600 Flüchtlinge zählte.
Und ab und zu kamen noch einige dazu:
"Mein Vater kam, als ich fast fünf war, aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Und das war natürlich ziemlich anstrengend, dass da plötzlich ein Mann kommt, den man nie gesehen hat und der angeblich der eigene Vater ist und von dem man denkt, im Grunde braucht man ihn nicht, weil man ihn nie gebraucht hat. Und der steht jetzt da. Und es kommt einem vor, dass er ein sehr verschlossenes Gesicht hat, weil er durch den Krieg und die Gefangenschaft und eigentlich durch sein ganzes Leben gekränkt worden ist. Oder so."
Peter besteht dem Vater gegenüber auf seiner gewohnten Autonomie. Er verbringt die Tage so wie er will und als seine etwas älteren Spielkameraden in die Schule kommen, verständigt er sich mit dem Schullehrer auf eine frühere Einschulung. Er erzählt von den ersten Jahre auf der kleinen Dorfschule als von einer glücklichen Zeit, in der das Unterrichtsprogramm seiner Neugier fürs Leben entsprach.
Der Junge mit den Argusaugen für die Details seiner Lebenswelt versucht sich auf alles einen Reim zu machen. Er hört, wie die Eltern im Dorf ihre Kinder "Du Missgeburt" schimpfen und glaubt, dass sie sie mit dieser Lieblosigkeit auf ein hartes Leben vorbereiten wollen. Er beobachtet die ruckenden Bewegungen der Bachstelzen und glaubt, dass die Briefträgerin sich von ihnen ihren wippenden, zuckenden Gang abgeguckt hat. An den Tagen, wo er Geld für Brause bekommt, registriert er beglückt, wie es sich anfühlt, wenn das Pulver in die Linien seiner Hand einrieselt.
"All das Zeug macht einen empfänglich für die Vielfalt der Welt. Und diese Vielfalt der Welt, wenn man die einmal wirklich wahrgenommen hat als Kind, glaub ich, kann sie einem nicht mehr ganz verloren gehen."
Und die Vielfalt der Welt zeigen, das sei die Aufgabe eines Schriftstellers, sagt Kurzeck auf einer früheren Hörplatte mit dem Titel "Stuhl, Tisch, Lampe". Mit keinem seiner fünf Romane, keinem Hörbuch hatte der 1943 geborene Peter Kurzeck solchen Erfolg wie mit seiner spontan ins Mikrophon erzählten Kindheitsgeschichte "Ein Sommer, der bleibt". Unfassbar flüssig und stellenweise fast atemlos schildert Peter Kurzeck, wie er die Welt von seiner Warte aus sah.
Kleinste Einzelheiten deutet er als Keimzelle einer ganzen Weltanschauung. Wie zum Beispiel die spätere Zerstörung der Landschaft durch den Bau der Giessener Umgehungsstraße und der Autobahn. Aus amerikanischen Vorabendserien hätten die Leute sich den Spleen eingefangen, ihr Essen nicht nur in möglichst weit entfernten, gigantischen Supermärkten zu kaufen. Weil sie sich damals angewöhnt hätten, immer etwas zu viel zu essen, wären sie anschließend noch mit ihren Autos an den nächsten Wald gefahren, um dort zu joggen oder jämmerliche Trimm-Dich!-Pfade abzuarbeiten.
"Die Leute könnten sich ihr Leben ohne diese Einkaufsfahrten nicht mehr vorstellen. Sie würden da sitzen und wären eigentlich überflüssig auf der Welt. Oder sie müssten jetzt anfangen zu denken. Und dafür haben sie aber das Fernsehen inzwischen."
Mit Peter Kurzecks "Ein Sommer, der bleibt", gewinnt das Hörbuch eine neue Dimension hinzu, die eigentlich eine alte ist: Die mündliche Überlieferung. Und diese hier ist grandios gelungen. Kurzecks Stil ist liebevoll, warmherzig, großzügig und vor allen Dingen sinnlich. Hier ist einer, der mit offenen Sinnen durchs Leben geht und in der Folge reich wird an Geschichten. Peter Kurzeck sieht die Welt ganz persönlich.
Das fast schon abgehalfterte Wort "unangepasst" kommt einem in den Sinn. Aber das ist es: Er wirkt frei, als hätten ihm familiäre oder gesellschaftliche Bedrückungen wenig anhaben können. Und als könne er uns deshalb wirklich seine Sicht auf seine kleine Welt zeigen: Die Welt als ein Ort unerschöpflicher Geschichten, deren Reichtum darin liegt, dass sie lebendig machen. Den Erzähler und seine Zuhörer, wenn sie mögen.
Rezensiert von Brigitte Neumann
Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt,
Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit,
Supposé Verlag Berlin 2007, 4 Audio CD’s, 290 Minuten,
34,80 Euro