"Eine Von-Herzen-zu-Herzen-Begegnung"

Von Martin Böttcher · 11.04.2010
Knapp ein Jahr hat der Dokumentarfilmer Gerardo Milsztein junge Gewalttäter bei ihrem Weg in eine gewaltlose Welt begleitet. Dabei ging es ihm vor allem um die Menschlichkeit untereinander, erzählt der Filmemacher. Trotzdem musste er zweimal beinah Schläge einstecken.
Holger Hettinger: Herr Milsztein, Sie kommen mit der Kamera sehr nah ran an diese Jugendlichen, war das schwierig, das Vertrauen der jungen Leute zu gewinnen, um diese ja doch teilweise rührenden und entwaffnend offenen Aussagen zu gewinnen?

Gerardo Milsztein: Es war nicht schwierig, es war eine Tatsache. Ich merke das, wenn diese Jungs vor klaren Entscheidungen stehen, dann lassen sie zu, indem ich auch mich denen öffne. Es war wirklich immer mehr und mehr eine Von-Herzen-zu-Herzen-Begegnung.

Hettinger: Wie lange haben Sie die Jugendlichen mit der Kamera begleitet?

Milsztein: Zwischen zehn und zwölf Monate, insgesamt 75 Tage, plus die ganze Zeit, wo ich nicht geredet habe.

Hettinger: Ach, da waren Sie auch dabei, nur halt ohne Kamera?

Milsztein: Ich war dabei oder ich habe mich mit denen draußen getroffen, ich habe Bonding gemacht, es war wirklich sehr, sehr intensive Arbeit, mit den Jungens in Kontakt zu sein.

Hettinger: Gab es da so was wie eine, ja, ich sag mal Entwicklung im Miteinander?

Milsztein: Ja, am Anfang war [die Frage], wer ist das Arschloch. Dann muss das Arschloch - Entschuldigung, dass ich das sage ...

Hettinger: Wir sind ein Kultursender, da muss man Arschloch sagen können.

Milsztein: Ja, so sind auch die … so ist die Sprache dort. Und indem ich mich hingegeben habe in den Flow, den sie haben, dann konnte ich die gleichen Elemente nutzen, die sie benutzen, und so bin ich überhaupt nicht mehr aufgefallen menschlich. Und es geht um Menschlichkeit.

Hettinger: Rupert Voß, Sie sind in diesem Film als Trainer, als Betreuer, als Beichtvater zu erleben. Der Flow, den Gerardo Milsztein gerade eben erwähnt hat, das fand ich sehr, sehr beeindruckend, dass da die größten Rabauken, die größten, fahrigen und unkonzentriertesten Menschen plötzlich durch diese Erfahrung der eigenen Körperlichkeit ganz geerdet werden, ganz zentriert, ganz ruhig. Was genau geschieht da?

Rupert Voß: Tja, relativ komplexe psychologische Faktoren könnte ich jetzt beschreiben, aber das ist, glaube ich, unsinnig, weil das können Fachleute viel besser.

Ich glaube, dass vor allem Menschlichkeit passiert, dass Menschen - also wir, Werner Makella und ich, die wir das gemeinsam entwickelt haben, unser Team, unsere Mitarbeiter, die dort mitarbeiten, wir versuchen, authentisch zu sein. Wir versuchen menschlich authentisch zu sein und zu unterscheiden zwischen dem Verhalten eines Menschen und seinem menschlichen Kern.

Zu dem menschlichen Kern kann ich immer hingezogen sein, kann ich immer in Liebe stehen, zu seinem Verhalten kann ich sehr, sehr konfrontativ sein. Wenn ich das lerne zu unterscheiden, kann ich immer konfrontieren, weil: das Verhalten ist indiskutabel, können wir in der Gesellschaft uns überhaupt nicht leisten, Menschen zu haben, die andere schlagen, ohne Grund.

Und auf der anderen Seite kann ich aber den Menschen so akzeptieren, wie er ist, ihn so wertschätzen, wie er als Mensch gedacht ist. Und das ist das, was die Jungs sehr schnell spüren: absolute Anerkennung und Akzeptanz. Und deswegen lassen sie sich, egal was wir tun, ob dass die Konfrontationen sind, ob es das Boxen ist, ob es die Gespräche sind, lassen sie sich darauf ein.

Hettinger: Also das heißt, diese Gewaltausbrüche resultieren aus dem Mangel an Akzeptanz?

Voß: Das wäre einfach - wenn man die Biografie der Jugendlichen nicht kennt, könnte man das so übersetzen. Aber nachdem diese Jugendlichen zu 97 Prozent aus Gewaltfamilien kommen, selber Opfer waren, kommt es aus einer Ohnmachtssituation. Und das Pendant von Ohnmacht ist Macht.

Ein Mensch, der Ohnmacht erlebt hat, will Macht ausüben. Und dieses Spiel passiert dann auf der Straße und ist immer gepaart mit einem sehr geringen Selbstwert. Und dieser geringe Selbstwert und die Machtausübung führt dann dazu, dass dieser Satz "Was guckst du?" kommt, weil ich das Gefühl habe, mein Gegenüber hat mich abschätzig angeschaut. Dabei ist es nur mein eigener, nicht vorhandener Selbstwert, den ich in mir fühle, und dafür greife ich jemand anderen an. Und das ... Also wenn alle Menschen auf der Straße diesen Jugendlichen wertschätzend gegenüber sein könnten, dann haben Sie natürlich recht, dann würde weniger passieren. Aber da tun wir uns dann doch sehr schwer.

Hettinger: Ist vielleicht auch so der Wunsch, dann zu einer einfachen Lösung letztlich auch zu kommen?

Voß: Ja, das ist … für die meisten Menschen ist es natürlich leicht, Schublade auf, jugendlicher Straftäter rein, Schublade zu, dann steht da Knast drauf, und dann ist die Lösung sehr, sehr einfach und schlicht, aber es ist nur eine kurzfristige Lösung, weil diese Jugendlichen kommen alle wieder raus, und dann sind sie dennoch um einiges gefährlicher. Und um das zu verhindern, steht die Work and Box Company da, um an dieser Stelle etwas sichtbar zu machen - weil mehr tun wir noch nicht, wir machen nur etwas sichtbar. Auch der Film macht das, der macht etwas sichtbar. Veränderung ist möglich. Und das betrifft jeden von uns.

Hettinger: Dieses Brodelnde bei den Jugendlichen, das, finde ich, fängt dieser Film sehr drastisch ein, also man hat da schon so auch das Gefühl, Hilfe, Hilfe, da ist eine ganz schön lose Kanone an Bord, wie grundlos da eine Sache quasi völlig außer Kontrolle geraten kann. Und dieses Brodeln, das spüre ich sehr deutlich als Zuschauer.

Wie sind Sie vorgegangen, Herr Milsztein, als Filmemacher, um dieses Aufbrausende, dieses Abrupte des Stimmungswandels, dieses scheinbar Grundlose in irgendeiner Weise einzufangen und doch so drastisch umzusetzen?

Milsztein: Also ich hatte ein Konzept, Veränderung durch Jahreszeiten, a), und b) war, ich möchte zuerst mal im Schutz der Elemente sein der Jungs, um langsam mich filmisch anzunähern. Ich habe mich menschlich offenbart, filmisch zurückgezogen. Und so war der Prozess extrem, extrem langsam, und die Veränderungen, die Sie sehen bei den Jungs, die - weil wenn sie Brodeln meinen, Sie meinen auch das Entbrodeln auch.

Hettinger: Ja, auch so dieses Ausklingen.

Milsztein: Und das ist letztendlich das Thema: Wie geschieht Entbrodeln, wie geschieht, wieder in eine Normalität zu kommen. Filmisch stelle ich das dar, indem ich einfach zeige, wie sich Natur verändert, weil: Veränderung ist eine Konstante, nur wir nehmen nur kurze Zeitabschnitte wahr, und wir sehen nicht, dass wir ein ganzes Leben leben, dass wir diese Zeit in unserem Leben haben, um zu verändern. Manche schaffen es früher, manche schaffen es weniger. So bin ich filmisch umgegangen.

Hettinger: Haben Sie eigentlich während der Dreharbeiten auch mal eine auf die Mappe gekriegt, jetzt mal profan gefragt?

Milsztein: Fast. Zweimal. Einmal hat mir der Josef, einer der Protagonisten geholfen. Es ist nicht im Film, aber der Juan, ein Nebenprotagonist, der hat es versucht. Zweimal musste ich die Kamera auf dem Boden lassen. Aber es war keine Taktik, es ist einfach von Mensch zu Mensch. Ich bin nicht ein Filmemacher, der da ist, sondern ein Mensch, der einen Film macht mit und über diese Jungs und mit und über die Work and Box. Und dies war meine Einstellung.

Hettinger: Menschen verändern sich, wenn sie von einer Kamera beobachtet werden. Die Weisheit kann man eigentlich immer nachprüfen, wenn man mal auf eine Demonstration geht und da guckt, wo die Kamera steht und 100 Meter davor und 100 Meter dahinter. Rupert Voß, haben Sie eine Veränderung im Verhalten Ihrer Jungs festgestellt, dadurch, dass hier eine Beobachtungssituation mit der Kamera entstanden ist?

Voß: Dadurch, dass wir die Jungs vorher nicht kannten und wir mit dem Film eingestiegen sind, ist es sehr hypothetisch, das zu versuchen festzuhalten, wie wäre es gewesen, wenn die Kamera nicht dabei gewesen wäre. Aber die Vorjahre waren anders. Sie waren anders, vor allem am Anfang, wie diese Situation entstanden ist. Es hat sich dann über die Zeit verloren, weil die Kamera, Gerardo und auch wir uns daran gewöhnt hatten, auch noch die Jugendlichen natürlich, uns daran gewöhnt hatten. Es hat einfach dazugehört.

In diesem Jahr war die Kamera dabei, und alle Höhen und Tiefen, die man natürlich mit einem neuen Element in der Arbeit hat, haben wir durchlebt. Es war ein sehr, sehr interessantes Jahr, weil es natürlich noch mal ganz andere Aspekte in diese Arbeit mit hineingebracht hat, und dadurch hat sich das so ganz gut entwickelt.