Eine vorgezogene Gedenkveranstaltung

Von Jörg Plath |
Die großen Festivals in Berlin, Köln und Erlangen sind vorüber, nur die Münchner feiern noch ihr Literaturfest, da wird in Berlin und Brandenburg die "Stadt Land Buch" eröffnet. Es ist kurz vor Weihnachten, und der Buchhandel kann Umsatzzuwächse durchaus gebrauchen.
Margrit Starick, Vorsitzende des Berlin-Brandenburgischen Landesverbands im Börsenverein des deutschen Buchhandels, eröffnete den 22. "Lesemarathon" im Deutschen Theater mit dramatischen Worten. Sie kündigte nicht nur stolz 130 Veranstaltungen an, die in der nächsten Woche in der Hauptstadt und der umgebenden Provinz, in Finsterwalde, Grossbeeren und Lebus, stattfinden - eine hochwillkommene Werbung für Buchhandlungen und Verlage im bevorstehenden Weihnachtsgeschäft. Frau Starick drängte es auch zu einem Appell in eigener Sache: Sie rief um Kauf in Buchhandlungen auf:

"Ja, es gibt sie noch, allen schrecklichen Medienberichten zum Trotz. Und ich nutze die Gelegenheit zu einem Aufruf: Kaufen Sie Ihre Bücher, E-Books oder andere Medien bei Ihrer Buchhandlung vor Ort, bei Buchhändlern, die Leseförderung betreiben, durch Veranstaltungen Kultur in Ihren Bezirk bringen, Arbeitsplätze bieten. Diese Buchhändler zahlen ihre Steuern hier, schaffen mit anderen Einzelhändlern ein abwechslungsreiches Stadtbild und können sie auch schnellstens online bedienen."

Kurz geisterte das Gespenst eines großen nordamerikanischen Onlinebuchhändlers, der seine europäischen Geschäfte von der Steueroase Luxemburg aus steuert, durch das voll besetzte Deutsche Theater in Berlin, dann kehrte wieder Feststimmung ein. Es war bereits die zweite Eröffnung der Lesewoche: Am Morgen war "Stadt Land Buch" im Theater in Brandenburg an der Havel eröffnet worden.

Denn "Stadt Land Buch" versucht, das Land nicht allzu sehr von der Metropole dominieren zu lassen. So lesen in Berlin Annett Gröschner, Norbert Zähringer und der Übersetzer Thomas Urban, in Brandenburg jedoch die nicht weniger prominenten Hans Joachim Schädlich, Elfriede Brüning und Rolf Schneider. Detlef Bluhm, der Geschäftsführer des Berlin-Brandenburgischen Börsenvereins, legt Wert auf diesen Balanceakt:

"Jenny Erpenbeck findet man in Werder an der Havel und in anderen kleineren Städten an der Havel. Also es ist durchaus nicht so, dass die Prominenz hier in Berlin Hof hält und die weniger bekannten Autoren in der Provinz, sondern es ist eine gute Durchmischung."

Auf der Eröffnung in Brandenburg an der Havel las Jörg Gudzuhn, in Berlin Dagmar Manzel Christa Wolfs letzte Erzählung. "August" wird erzählt von einem kurz vor der Rente stehenden Busfahrer, der sich auf der Fahrt von Prag nach Berlin an das Glück seines Lebens erinnert: wie er sich als kindlicher Kriegswaise in einem ärmlichen, schlecht ausgestatteten Tbc-Sanatorium in die etwas ältere Lilo verliebte und sie ihn mit Wärme gewähren ließ.

"August erinnert sich, dass am Abend, als das Hannelörchen gestorben war, die Lilo den Kindern kein Lied zur Guten Nacht sang. Stumm saß sie wie immer auf seinem Bett, und er fragte sie, leise, dass die anderen es nicht hörten: Bist du traurig?, und die Lilo sagte leise: Ja. Und August spürte, und er spürt es bis heute, dass er der Lilo niemals näher kommen würde als in dieser Minute, und er lernte, dass Trauer und Glück miteinander vermischt sein können."

August ist Lesern von Christa Wolf nicht unbekannt. Er wird am Ende des Romans "Kindheitsmuster" von 1976 in nur vier Absätzen erwähnt. Es sind Passagen über ein Tbc-Sanatorium bei Boltenhagen nahe der Ostsee, in denen Christa Wolf eigene Erfahrungen verarbeitet.

Diese biografischen Hintergründe schilderte nach der Lesung von Dagmar Manzel Christa Wolfs Mann Gerhard mit brüchiger Stimme und großer Nüchternheit. August sei eine authentische Gestalt, er habe seiner späteren Frau noch lange Briefe geschrieben, und sie habe sie alle aufbewahrt.

"Am 31. Mai 2011 notiert Christa W in ihrem Kalender: 'Habe nun beschlossen, die Geschichte von August anzufangen, um etwas zu tun.' Warum sie sich dazu entschließt, gerade diese Geschichte zu schreiben, hat sie nicht vermerkt. Sie ist schon schwer krank, träumt knapp 5 Monate vor ihrem Tod, dass sie schmerzfrei ohne Stöcke zu gebrauchen laufen kann, und schreibt in einem Durchlauf am Computer, wie es sonst zu schreiben nicht ihre Art ist, von diesem Jungen August.

Sie in seinen Augen die schöne Lilo, August, dem sie einst dazu verhalf zu überleben, weil er liebte. August der nun auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Es ist die einzige Text von Christa Wolf, in dem sie einen Mann erzählen lässt. Sie hat die Erzählung pünktlich im Juli 2011 beendet und mir zum 60. Hochzeitstag geschenkt. Das Nachwort."

Christa Wolf, die am 1. Dezember 2011, vor fast genau einem Jahr, starb, hat mehrmals an den Lesewochen in Berlin und Brandenburg teilgenommen. Die diesjährige Eröffnung glich einer vorgezogenen würdigen Gedenkveranstaltung.
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