"Einer der ganz Großen"

Moderation: Katrin Heise |
Lou Reed "hat eine neue Haltung reingebracht, einen neuen Ton in die Musik", sagt der Musikjournalist Klaus Walter über den Gründer von "Velvet Underground". Reed habe die Grenzen der Popmusik ausgedehnt. Zugleich war er "der originellste Frauenfigurenerfinder der Rockmusik".
Katrin Heise: Lou Reed ist gestern gestorben, wohl an den Folgen einer Lebertransplantation. "Take a walk on the wild side" kann wahrscheinlich jeder mitsingen, oder "It's a perfect day". 71 Jahre alt ist Lou Reed geworden, und in den letzten Jahren war er nach wie vor sehr aktiv.

Vor zwei Jahren gerade hat er ein Album aufgenommen mit Metallica, "Lulu", mit Songs, die er für eine Theaterproduktion von Robert Wilson schrieb. Diese paar Sätze zeigen ja auch schon, welche Bandbreite er hatte. Er hat Fotos veröffentlicht, Fotografieren war seine zweite Leidenschaft.

Ich begrüße jetzt den Musikjournalisten Klaus Walter, der Lou Reed im vergangenen Jahr begegnete. Herr Walter, ich grüße Sie!

Klaus Walter: Guten Morgen!

Heise: Lou Reed war jetzt nicht der Glamour-Glitzer-Star, ganz und gar nicht. Was ist das Besondere an LR, sein originärer Beitrag zur populären Musik? Das hat doch mit Velvet Underground angefangen, oder?

Walter: Das hat mit Velvet Underground angefangen. Es gibt so viele Verdienste, die man ihm zuschreiben kann. Er wird so als Grenzgänger bezeichnet, und er hat tatsächlich so die Grenzen, was damals Popmusik, Rockmusik war, in alle möglichen Richtungen ausgedehnt. Er hat literarische Qualitäten reingebracht, er hat Literatur studiert bei Delmore Schwartz, dem hat er später auch Songs gewidmet –

Heise: Das war in den 60er-Jahren, Anfang der 60er.

Walter: Genau. Er ist im Grunde weggegangen von dem damals gängigen Schema boy meets girl, also: wir küssen uns im Mondschein und so weiter. Er war ja erst mal Auftragsschreiber bei einer Plattenfirma und hat dieses enge Korsett dann ganz schnell ausgedehnt. Er hat Themen in die Popmusik gebracht, die es vorher nicht gab, zum Beispiel der Song "Venus in Furs", Velvet Underground, "Venus im Pelz", inspiriert von Leopold Sacher-Masoch. Sado-Masochismus war Thema des Romans, nach dem sich Velvet Underground benannt haben, und der junge Lou Reed hat das dann als Bandnamen gewählt.

Heise: Das war seine Idee, ja?

Walter: Genau. Und der Journalist Lester Bangs, der berühmte Rock-Schreiber, hat mal geschrieben: "Lou Reed ist der Typ, der Heroin, Speed, Homosexualität, Sado-Masochismus, Mord, Frauenhass und Selbstmord mit Würde und Poesie und Rock'n'Roll versehen hat". Ich glaube, deutlicher kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Heise: Welche Rolle spielte dabei eigentlich Andy Warhol? Denn diese ganze Gruppe, Velvet Underground, gruppierte sich ja um ihn sozusagen, unter seiner –

Walter: Ja, das ist sehr umstritten, und da gab es auch zwischen Reed als Kopf von Velvet Underground und Warhol immer wieder Auseinandersetzungen, dass Warhol sich im Grunde in den Vordergrund gespielt hat. Er hat auf das Cover dieser berühmten ersten Platte mit der Banane, hat er die Banane da draufgesetzt, die dann ikonisch wurde, hat er den Namen Andy Warhol gesetzt, als sei es seine Platte. Also er hat im Grunde seinen eigenen Ruhm, Warhols Ruhm, dazu benutzt, diese Band bekannt zu machen, hat aber natürlich auch sehr von ihr profitiert. Also, es war so ein gegenseitiges Blutsaugen im Grunde.

Heise: Das erste Album von Velvet Underground, das verkaufte sich ja überhaupt nicht gut, das war eigentlich schwer wie Blei. Ich hab von Brian Eno allerdings den Satz gelesen, er sagte mal so sinngemäß, das hat sich wahrscheinlich nur 30.000 Mal verkauft, aber alle 30.000, die das gekauft haben, haben eine Band gegründet.

Walter: Exakt, exakt. So muss es gewesen sein. Dass wahnsinnig viele Bands sich auf ihn und auf Velvet Underground berufen haben, und dass es eben ganz viele nicht gegeben hätte, hätte es Reed und Velvet Underground nicht gegeben. Auch so vom Sound her hat er was ganz anderes in die Popmusik reingebracht. Er hat mal gesagt, ein Akkord ist prima, zwei Akkorde sind schon übertrieben, drei Akkorde, und du bist beim Jazz. Also diesen minimalistischen, reduzierten, primitivistischen fast schon Ansatz. Also andere Themen, anderer Sound, andere Haltung.

Heise: Wir müssen unbedingt jetzt, glaube ich, Musik hören. Ein Stück von dem ersten Album. Was war da so stilbildend?

Walter: Ja, wie gesagt, der Sound, also lange Stücke. Er hat auch das Zeitkorsett, die Drei-Minuten-Grenze gesprengt und hat sieben, acht Minuten lange Songs und natürlich zwei Songs, in denen es explizit um Drogen geht. "Waiting for my man", wo er auch die Topografie New Yorks sozusagen noch mal in den Song reingebracht hatte, wartet einer an der Ecke Lexington Avenue, 125. Straße auf seinen Dealer. Und dann, bahnbrechend natürlich der Song "Heroin", der eben Heroin besingt. "Das ist meine Frau, mein Leben, wenn ich die Nadel mir in die Vene stecke, dann fühle ich mich wie der Sohn Jesus'."



Heise: Zum Tod von Lou Reed hörten wir jetzt gerade eines der Stücke, mit denen seine Band Velvet Underground bekannt wurde, "Heroin". Klaus Walter, gerade diese Behandlung von Drogen, Drogenerfahrungen, war etwas, was sich immer wieder widerspiegelte in den Liedern?

Walter: Ja, er hat einen schönen Satz gesagt – von den vielen schönen Sätzen, die er gesagt hat – "Ein guter Anti-Drogen-Song muss den Geschmack und die Faszination der Droge spürbar machen, sonst wird es einfach so papihaft, so wie Berti Vogts gesagt hat: Keine Macht den Drogen. Dem nimmt man das natürlich nicht ab, dass er jemals mit Drogen in Kontakt kam. Und das meine ich, diese Haltung, also auch dieses Punk, bevor es Punk gab eigentlich. Also ein Einbruch der dunklen Seiten auch der Wirklichkeit in diese Welt des Pop. Also das Kaputte, das Zerstörte, Sado-Masochismus, Drogen, Gewalt ...

Heise: Na ja, man muss sich vor allem vorstellen, die Zeit der Hippies, also, er ja der absolute Antihippie, kann man ja nur sagen.

Walter: Genau, richtig, er hat mit diesem ganzen "Flower Power"- und "Liebe und Frieden"-Kram, hat er gar nichts am Hut gehabt. Und es ist natürlich auch biografisch zu erklären. Er ist Enkel von eingewanderten Juden in New York. Seine Eltern waren zuerst in der Lower Eastside, wo viele New Yorker Juden damals gelebt haben. Und sie zogen dann immer weiter raus, also sie stiegen gesellschaftlich auf, zuerst nach Brooklyn, dann nach Queens – und Lou Reed hasste diese Suburbs, diese Vorstädte und hat das als Verlust empfunden.

Und der Vater hat dann auch den Familiennamen geändert von Rabinowitz zu Reed. All das hat Lou Reed sehr viel ausgemacht und er hat dagegen rebelliert, er hat Gitarre gespielt, hat ein Motorrad sich zugelegt. Und seine Eltern wollten eigentlich, dass er Rechtsanwalt wird oder Arzt.

Und er hat sich dann auch sexuell abweichend verhalten oder hat das seinen Eltern vorgespielt, das ist auch nicht so ganz klar. Er benahm sich sozusagen tuntig und die Eltern haben darauf reagiert, indem sie ihn in Therapie geschickt haben. Und da wurde, das muss man sich vorstellen, damals in den 60er-Jahren, mit Elektroschocks behandelt.

Und er hat dann später gesagt, deswegen mag er Rock'n'Roll, weil er so elektrifiziert ist. Und frühe Velvet Underground klingen nach Elektroschocks. Und als Folge dieser Therapie blieb die linke Gesichtshälfte teilweise gelähmt, was diesen starren Ausdruck auch in seinem Gesicht noch verstärkt hat. Also, es ist schon eine sehr bittere, bittere Erfahrung. Und die hat ihn auch geprägt.

Heise: Würden Sie denn aber sagen, dass er nur die dunklen Seiten, nur das Zerstörerische und Zerstörte beschrieben hat?

Walter: Na ja, nee. Eine Droge hat ja immer auch eine schöne Seite, sonst würde man ja nicht dran hängen, und auch die Liebesgeschichten, die er erzählt hat, und er hat unglaublich tolle Frauenfiguren erfunden. Er ist vielleicht der originellste Frauenfigurenerfinder der Rockmusik. Also diese Venus im Pelz, die Domina. Und dann hat er die Frauen reden lassen, buchstäblich in seinen Songs. Also er hat Songs geschrieben mit so Titeln wie "Carolyne says", "Stephanie says", "Candy says", "Lisa says". Er hat die Femme fatale erfunden oder auch gefunden in Gestalt von Nico. Nico, die deutsche Sängerin. Also gerade diese Ambivalenz von Frauenhass – er hat Frauen gehasst in gewisser Weise, er hatte auch Minderwertigkeitsgefühle Frauen gegenüber. Er war nur 1,65 groß, was ihm angeblich auch zu schaffen gemacht hat. Immer diese Ambivalenz.

Heise: Einer dieser Songs, der da einen etwas anderen Lou Reed, oder jedenfalls nicht den zerstörerischen Lou Reed zeigt, ist "Pale blue eyes", das hören wir jetzt.



Walter: "Pale blue eyes", wunderbarer Song, "thought of you as my mountain top, I thought of you as my peak", also "Ich hielt dich für meinen Berggipfel, für meinen Höhepunkt, ich hielt dich für alles, was ich hatte", aber dann eben nicht halten konnte. Und dann eben diese blauen Augen, diese hellblauen Augen. Sehr schön. Also man hört da auch eine ganz andere Seite, wie er das vorträgt – ganz großartig.

Heise: So richtig bekannt geworden ist er mit David Bowie zusammen. Das ist so eine etwas andere Phase, da kommen diese Songs, die ich am Anfang gesagt hatte, die so jeder mitschnippen kann, "Take a walk on the wild side" oder "Perfect Day" ja auch her.

Walter: Auch das wieder sehr ambivalent, weil wenn man die Texte nimmt von diesen Songs, also insbesondere "Walk on the wild side", so eingängig die Melodie und das Arrangement ist – es ist ja ein bisschen paradox, weil die Geschichte erzählt ja von der dunklen Seite des Lebens. Es geht um zwei Transvestiten, Holly Vincent und Candy Darling, die sich aufmachen nach New York, um dort ihr Leben leben zu können, was sie in der Provinz eben nicht leben könnten.



Heise: "Take a walk on the wild side" von dem Album "Transformer", zusammen mit David Bowie oder von David Bowie eben produziert. Da geht es um sexuelle Entgrenzung, um Uneindeutigkeit. Lebte Reed das eigentlich auch so?

Walter: Nach allem, was man weiß, lebte er das wohl, also zumindest in dieser Zeit, er hat damals wechselweise gesagt, dass er homosexuell ist, dass er bisexuell ist. Er hat, wie auch David Bowie, sich zumindest so inszeniert als Grenzgänger, sexuell. Ein Kritiker hat in dem Zusammenhang mal das Wort von der Rhetorik der widerrufbaren Enthüllung in die Welt gesetzt, was ich sehr passend finde, denn beide, Bowie und Reed, haben eigentlich schon sehr bald sehr gründlich widerrufen und waren dann mit relativ berühmten Frauen auch verheiratet, Lou Reed mit der Künstlerin Laurie Anderson.

Also, das lag damals natürlich in der Luft, die sexuelle Entgrenzung, die Uneindeutigkeit, und Reed hat auf jeden Fall auch als Rolemodel da fungiert und vielen jungen Leuten Mut gegeben, ihre abweichende Sexualität zu leben, wie heute auf einer ganz anderen Ebene Lady Gaga, beispielsweise.

Heise: Sie haben Reed ja vor ziemlich genau einem Jahr getroffen und genau daraufhin auch angesprochen.

Walter: Ja, das war ein denkwürdiges Gespräch. Das war im Rahmen einer Fotoausstellung in Frankfurt. Und er hatte ja den Ruf eines nicht zu Interviewenden, eigentlich, weil er jeden Interviewer in die Senkel stellt und fertig macht. Und diesem Ruf ist er sehr gerecht geworden. Ich habe ihn damals genau danach gefragt nach diesen Gender-Fragen, und ob er sich als queeren Künstler verstehen würde. Und die Antwort war ziemlich vernichtend.

Lou Reed: "As a queer artist? You want the interview to end now? Don't ask me questions like that or next time I'll hit you!"

Walter: Er hat mir also Prügel angedroht, und das ist nicht ohne eine gewisse Komik. Lou Reed, wie gesagt, 1,65 groß, ich bin einen Kopf größer und bestimmt, na ja, 30 Kilo schwerer und bestimmt auch ein paar Jahre jünger als Lou Reed. Aber er hat es wirklich gesagt und er hat mich dabei so angeschaut, dass ich tatsächlich ein bisschen Angst bekommen habe. Also es ist schon eine sehr imposante Figur, die auch keinem Konflikt aus dem Weg geht. Oder man könnte vielleicht eher sagen, die diesen Konflikt auch inszeniert und braucht.

Lou Reed: "You either stick to this or fuck yourself!"

Walter: Ja, das war dann das Schlusswort, da hatte ich dann auch genug und hab ihn zurückbeschimpft mit Worten, die ich jetzt hier lieber nicht wiedergeben möchte, aber da war das Gespräch zu Ende, und er ist dann mit seiner Entourage verschwunden, die er vorher auch auf eine Art und Weise gedemütigt hatte und rumkommandiert hat, wie ich es noch nie gesehen habe. Also, das ist sozusagen auch die dark side von Lou Reed.

Heise: Diese dark side ist das eine, das andere ist aber auch eine riesige Bandbreite, jetzt nicht nur das, was wir besprochen haben. Er hat ja auch Ausflüge in ganz andere Musikformen gewagt. Er war am Theater, im Film tätig, Fotos haben Sie eben erwähnt. Seine letzte Zusammenarbeit war die mit Metallica.

Walter: Ja. Da haben sie sich gemeinsam an Wedekinds "Lulu" vergangen, also buchstäblich vergangen. Viele Leute sagen, die Platte ist unhörbar. Ich finde sie stellenweise großartig und stellenweise tatsächlich unhörbar. Aber es spricht natürlich für jemanden wie Lou Reed, dass er in hohem Alter, da war er fast 70 und auch krank, schon sehr krank, dass er sich in so ein Experiment noch mal begibt und mit so einer völlig woanders gelagerten Band so eine Platte macht.

Heise: Er hat mit Robert Wilson, mit Wim Wenders zusammengearbeitet. Wie beurteilen Sie Reed heute, ein Jahr nach dieser bizarren Begegnung? Was ist Ihr Fazit?

Walter: Ja, also ich würde niemals sozusagen seine Lebensleistung jetzt daran messen, dass er mich da mies behandelt hat. Ich glaube tatsächlich, dass die Geschichte anders verlaufen wäre ohne ihn, und das kann man nicht von allzu vielen Leuten sagen. Er hat eine neue Haltung reingebracht, einen neuen Ton in die Musik. Er hat Dutzende von großartigen Songs geschrieben und performt. Er hatte auch einen dunklen Humor, der oft übersehen wird oder überhört wird. Also, einer der ganz Großen.

Heise: Haben Sie einen Lieblingssong?

Walter: Das ist ganz, ganz schwer. Aber ich hab einen, der nicht so oft genannt wird, das ist "I wanna be black", wo es genau um die Zuschreibungen geht, um Stereotypen von Hautfarben, von Geschlechtern und auch um den sogenannten jüdischen Selbsthass. Also, da singt er, ich möchte schwarz sein, einen natürlichen Rhythmus haben, und ich möchte Sperma rausschießen und "fuck up the jews", also die Juden ficken. Und alle Welt weiß, dass er selber einer ist. Und das spielt natürlich mit den Stereotypen.

Dann singt er "I wanna be black, I wanna be a panther, have a girlfriend named Samantha". Also es wird auch völlig absurd. Und diese Absurdität und dieser in dem Fall wirklich schwarze Humor, den drückt dieser Song sehr, sehr gut aus.

Heise: Den hören wir jetzt, am Ende unseres Gesprächs mit dem Musikjournalisten Klaus Walter. Ich danke Ihnen ganz herzlich, heute zum Tode von Lou Reed. Er starb am Wochenende. Wir hören also jetzt den Titel "I wanna be black".

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Sängerin Nico mit Andy Warhol auf einer Party 1968
Die Sängerin Nico mit Andy Warhol auf einer Party 1968© AP Archiv