Ich war überrascht, als ich festgestellt habe, dass diese kleinen Beträge Geld, zusammenaddiert damals schon eineinhalbmal so hoch waren, wie offizielle Entwicklungshilfen. Das offenbarte uns eine völlig neue Sichtweite auf Remittances.
Geldtransfer von Migranten
Auch wenn die Einzelsummen nicht groß sind: Die Weltbank beziffert das globale Volumen der Überweisungen von Migranten in ihre Heimatländer für das Jahr 2020 auf etwa 660 Milliarden Dollar. © imago images / Joerg Boethling
Einer für alle
29:18 Minuten
Es sind Beträge von 100 oder 200 Euro, die Migranten regelmäßig in die Heimat schicken. Sie haben unschätzbaren Wert für die Empfänger und die globale Entwicklung. Am Geldtransfer verdienen viele mit. Auf den Absendern lastet eine hohe Erwartung.
Moro ist Anfang 30, kommt aus Syrien und macht gerade eine Ausbildung zum Konditor in Berlin. Auf seinem Handy ist eine Whatsapp-Nachricht seiner Mutter aus dem Nordosten Syriens angekommen. Moros Schwägerin muss bald operiert werden, sagt die Mutter. Die Familie kann aber keine Operation bezahlen.
Seit sieben Jahren schickt Moro regelmäßig Geld an seine Familie. Die steht an erster Stelle. Von seiner Vergütung als Azubi kann er in Berlin kaum leben, dennoch bekommt die Familie ein gutes Drittel davon, rund 200 Euro im Monat.
Moro vermisst Syrien. Um seinen Hals trägt er die syrische Unabhängigkeitsflagge: Drei rote Sterne auf dem grün-weiß-schwarzen Hintergrund. An seinem Handgelenk ein Armband in denselben Farben. Die Rücküberweisungen sind für ihn ein Weg, mit seiner Heimat verbunden zu bleiben. Allerdings lastet auch erheblicher Druck auf ihm.
Bei der Operation, für die seine Familie ihn diesmal um Geld bitten, handelt es sich um einen Kaiserschnitt. Moros Bruder erwartet ein weiteres Kind. Am 20. des Monats soll das Baby geholt werden. Bis dahin muss das Geld in Syrien sein. Innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage muss er es schicken.
Verbunden mit der Heimat und mit der Familie
Auch Basilisa Dengen unterstützt ihre Familie seit Jahren. Sie kommt aus Indonesien und hat – im Gegensatz zu Moro – einen guten Job und Aufenthaltspapiere. In Indonesien leben fast zehn Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze von 2,15 Dollar am Tag. Eine ordentliche gesundheitliche Versorgung gibt es nur für jene, die es sich leisten können – im Zweifel, mithilfe der Familie, die Geld aus dem Ausland schickt, erzählt Basilisa.
„Viele zweifeln an der Qualität der Ärzte oder Krankenhäuser. Es gibt den Trend, dass man lieber nach Malaysia für diese gesundheitlichen Untersuchungen geht. Man zahlt zwar viel, aber dafür ist die Qualität dann anders“, sagt sie.
Als Basilisas Mutter vor ein paar Jahren an Krebs erkrankt, entscheiden sich die Kinder ebenfalls dafür. Die Mutter fliegt nach Malaysia, die Rechnung bezahlen die Geschwister in der Diaspora. Sie teilen sich die hohen Kosten.
Aber solche großen medizinischen Ausgaben sind eher die Ausnahme. Der größte Teil der Rücküberweisungen wird für Alltägliches benötigt: Essen, kleine Renovierungen, Miete. Was man eben zum Leben braucht.
Viele kleine Beträge ergeben eine riesige Summe
137 Länder zählt die Weltbank auf ihrer Liste der Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Ein Großteil der knapp 200 Länder auf der Erde also, in denen es oft kein nennenswertes Sozialsystem gibt. Dorthin, darunter auch viele aktuelle Krisengebiete, gehen die sogenannten Remittances, die Rücküberweisungen.
Dilip Ratha arbeitet heute bei der Weltbank, aber seine Karriere hätte er ohne Rücküberweisungen nicht machen können.
„Ich war selbst immer entweder Empfänger oder Sender von Remittances,“ erzählt er. „Als ich Student war, hat mir mein Vater Geld aus Indien geschickt. Kurz darauf musste ich dann Geld an meinen Vater, meinen Bruder und meine Schwester schicken, als ich in den USA zu arbeiten begonnen habe. Mir ist also auf sehr persönlicher Ebene bewusst, wie wichtig Remittances als finanzieller Rettungsanker sein können.“
Heute arbeitet Dilip Ratha als leitender Ökonom in Washington D. C., Spezialgebiet: Rücküberweisung und deren Bedeutung für die globale Entwicklung. Die Weltbank beziffert das globale Volumen an Rücküberweisungen für das Jahr 2020 auf etwa 660 Milliarden Dollar. Die ersten globalen Hochrechnungen wurden vor etwa 20 Jahren gemacht. Und offenbarten eine Überraschung, erzählt Ratha.
Migration ist ein Weg aus der Armut
Ratha ist ein Verfechter des Prinzips der Rücküberweisungen. Sie sind schnell, unbürokratisch und an keine Bedingungen gebunden. Ganz anderes als andere finanzielle Hilfen oder Kredite. “Dollars wrapped in care” – “Dollars, in Fürsorge eingewickelt” nennt der Ökonom sie liebevoll.
Remittances werden oft mit Entwicklungszusammenarbeit in Zusammenhang gebracht. Es ist in der Tat ein beeindruckender Vergleich: Dass die geballte Kraft von Migrantinnen und Migranten, die sich oft in schlecht bezahlten Jobs plagen müssen, es schafft, mehr Geld aufzubringen als die reichsten Staaten dieser Erde. Aber es ist auch eine große Belastung, die Entwicklung der ärmsten Länder dieser Welt auf die Schultern von oft prekär angestellten Menschen zu stellen.
„Ja, es gibt Fälle in denen Remittances zur Belastung werden,“ gibt Ratha zu. „Aber in den meisten Fällen ist der Migrant zu diesen bereit. Denn wahrscheinlich ist es immer noch einfacher, als nicht zu migrieren und im alten Haushalt zu verbleiben. Mit all den Nöten, die die Familie durchmacht, wie Mahlzeiten auslassen zu müssen oder Kinder nicht in die Schule schicken zu können, weil sie auf dem Feld arbeiten müssen.“
Und weiter: „Die Tatsache, dass wir rund 286 Millionen Migranten auf der Welt haben, dass diese Zahl so groß ist und noch wächst – das liegt daran, dass Migration eine große Chance ist, um Armut zu entkommen und den Kreislauf zu durchbrechen.“
Remittances haben ihren Platz neben der Entwicklungszusammenarbeit – können sie aber niemals ersetzen, glaubt Ratha. Straßen- oder Brückenbau, die Bekämpfung des Klimawandels, generell öffentliche Aufgaben brauchen öffentliches Geld, kein privates.
Der Druck ist schwer auszuhalten
Das System der gegenseitigen Verantwortung funktioniert, aber die Überweisungen selbst sind oft kompliziert. Bürokratische Hürden, hohe Gebühren, mangelnde Sicherheit: Die großen Finanzdienstleister schneiden bei denjenigen, die regelmäßig Geld schicken, schlecht ab.
Am schwierigsten ist es, Geld in Konfliktregionen zu schicken, dahin, wo es eigentlich am dringendsten notwendig wäre.
Moro, der syrische Geflüchtete, kann nur sehr umständlich und teuer Geld nach Hause schicken. Western Union habe er versucht, aber Moro hat keinen Pass und ohne Pass funktioniere gar nichts, erzählt er. Hinzu kommt die Befürchtung, dass von seinen Überweisungen womöglich das Assad-Regime profitiert, das er nicht unterstützt.
„It’s difficult” – “es ist schwer”, das sagt Moro oft. Die Unsicherheit seiner Familie. Die quasi Gefangenschaft hier in Deutschland – ohne Pass, nur mit Aufenthaltstitel darf er das Land nicht verlassen. Die Isolation von seinen Nächsten in Syrien, von denen er manchmal wochenlang nichts hört. Das alles wiegt schwer.
Auch die Mutter, die um Geld für den Kaiserschnitt bittet, scheint die Abhängigkeit zu bedrücken. In ihrer Sprachnachricht sagt sie: „Wir haben niemanden anderen, den wir fragen können. Also müssen wir dich fragen, wieder und wieder.“
Moro ist in Bedrängnis. Das Geld für den Kaiserschnitt wird schnell gebraucht und Dienste wie Western Union fallen aus. Er muss sich andere Wege suchen.
Früher lief der Transfer analog
„Damals haben wir Freunden, die nach Afrika fliegen, Geld in die Hand gedrückt“, erzählt Alimany Sesay. Das war der einzige Weg, um Geld nach Sierra Leone zu bringen. Aber verlässlich war das nicht immer. Geld verschwand, wurde angeblich am Flughafen abgenommen. Er konnte nie sicher sein, dass auch alles bei seiner Familie ankam.
Heute kann man bei Dienstleistern wie Western Union oder MoneyGram Geld hinterlegen, das sich die Familie mit einem Ausweis und einer Belegnummer dann abholen kann. Vorausgesetzt man hat Papiere.
So die Theorie. In der Praxis sind die Erfahrungen mit diesen Diensten durchwachsen: Die Gebühren teils sehr hoch und intransparent. Alimamy Sesay holt aus seinem kleinen Rucksack einen Stapel Dokumente. Belege von Überweisungen, die er getätigt hat.
Teil seines persönlichen Projekts, zu dokumentieren, wie viel Geld auf dem Weg nach Sierra Leone verloren geht. „Hier habe ich 200 Euro geschickt. Und es sollten 2765 Leones ankommen. Aber er hat nur 2500 bekommen. Und das ist zu viel. Deshalb wollen wir wissen, warum das so ist“, erzählt er.
Auf seinem Beleg aus Deutschland steht ein anderer Betrag, als auf dem Beleg, den seine Familie ihm aus Sierra Leone geschickt hat. Ein paar Euro sind es, die fehlen. In einem Land, in dem über die Hälfte der Menschen von weniger als einem Euro am Tag leben, eine Riesensumme.
Je ärmer das Land, desto höher die Gebühren
Hinzu kommen in Deutschland noch die Gebühren für die Überweisung. Etwa fünf Prozent sind es: Will man 100 Euro verschicken, zahlt man 4,80 Euro an Gebühren.
In der Gemeinde von Pastor Alimany Sesay überweisen alle Gemeindemitglieder Geld in verschiedene afrikanische Staaten, um die Familien dort zu unterstützen. Die Möglichkeiten, Geld zu verschicken, sind aber global ungleich verteilt. Meistens sind es gerade die ärmsten Länder, in denen die Gebühren am höchsten sind.
Basilisa Dengen, die in Indonesien ihre weitverzweigte Familie unterstützt, und hier einen festen Job hat, kann mittlerweile die App Wise nutzen.
„Das ist relativ günstig und schnell. Also wenn ich heute überweise, kommt das Geld morgen oder spätestens übermorgen an“, erzählt sie.
Diese bequeme, unkomplizierte Verfügbarkeit von Geld aus dem Ausland kann aber auch negative Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft haben, glaubt Basilisa.
Zum Beispiel in der Region, wo ich herkomme, sind viele Leute so abhängig von dem Geld von draußen, dass es keine großen Anreize mehr gibt, selber etwas zu produzieren. Das schwächt die lokale Wirtschaft am Ende.
Informelle Kanäle besonders teuer
Moro, der sein Geld nach Syrien überweisen muss und keinen Pass besitzt, steht vor ganz anderen Problemen. Auf der Suche nach Geld und nach Möglichkeiten, den Kaiserschnitt der Schwägerin rechtzeitig bezahlen zu können, stößt Moro genau an die Grenzen, die der Sozialwissenschaftler Benjamin Schraven in einer Studie zu Remittances der syrischen Diaspora in Deutschland beschreibt.
„Bei Syrien ist noch eine besondere Schwierigkeit, dass aufgrund auch der finanziellen Sanktionen gegen das Assad-Regime die Möglichkeiten über formelle Wege Geld zu schicken, sehr, sehr begrenzt sind“, erklärt er. „Also sehr viel Geld, das geschickt wird, wird dann eben über die informellen Kanäle geschickt, und der Anteil der jungen Syrer in Deutschland, die Geld regelmäßig schicken, davon müssen wir ausgehen – es gibt keine offiziellen Zahlen – ist auch sehr, sehr hoch.“
Aus Mangel an legalen Alternativen sehen sich die Geflüchteten gezwungen, informelle und teilweise kriminalisierte Kanäle zu nutzen. Auch Moro muss darauf zurückgreifen. Nach unserem Treffen wird er jemandem auf Whatsapp schreiben, der das Geld für den Kaiserschnitt in die Türkei schicken kann. Von dort wird es über intransparente Wege nach Syrien weitergeschickt. Er kann nur hoffen, dass es ankommt.
Für Moro bedeutet das: hohe Gebühren, hohe Unsicherheit. Für 200 Euro, die er verschicken will, muss er 25 Euro Gebühren zahlen – über zehn Prozent. Was mit diesem Geld passiert, weiß er nicht.
Moros Geld für ein gesundes Baby
Ein paar Tage nach unserem Treffen erkundige ich mich bei Moro, wie die Operation verlaufen ist. Er antwortet länger nicht. Dann schickt er nach ein paar Tagen eine Sprachnachricht.
Er hat es geschafft – wieder einmal – das Geld rechtzeitig zu schicken. Der Kaiserschnitt war erfolgreich, das Baby ist auf der Welt. Aber sein neugeborener Neffe musste für einige Tage im Krankenhaus bleiben. Neue unvorhergesehene Kosten und damit neue Belastungen für Moro.
Aber: “All is good, all is well,” sagt er. Ob und wann er seinen neu geborenen Neffen zum ersten Mal in den Arm nehmen können wird, das weiß er nicht.