Einer wird gewinnen

Von Andreas Baum |
Viele sind seit 15 Jahren im Bundestag. Die früheren DDR-Bürgerrechtler haben auch im bundesdeutschen Parlamentsbetrieb den Widerspruch gepflegt, wenn ihre Meinung nicht der ihrer Fraktionskollegen entsprach. Das ehemalige Gründungsmitglied des Neuen Forums in der DDR, Werner Schulz, will jetzt als Direktkandidat im Berliner Bezirk Pankow antreten. Dort allerdings gelten seine Aussichten als gering, weil Schulz mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse von der SPD einen starken Mitbewerber hat.
Eine S-Bahn rollt über die Ziegelsteinbrücke weiter nach Norden, darunter rauscht der Autoverkehr, das kleine Bahnhofsgebäude spuckt im Fünfminutentakt Menschen aus. Sie beachten den Kandidaten kaum, der neben seinem orangen Sonnenschirm steht - ihr Blick geht stur geradeaus, zum Krankenhaus, dort arbeiten die meisten von denen, die hier aussteigen. Der Stadtteil Buch am Rande Berlins: Ein Schlosspark, ein Klinikum, ein alter Dorfkern, zwei Reihen Plattenbauten mit Blick auf die Autobahn, der Bucher Forst, der Hobrechtswald. Günter Nooke ist der Direktkandidat der CDU im Wahlkreis 77, Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee.

"Morgen, darf ich ihnen was mitgeben - ne? "

Wenn die Sonne scheint, sagt Nooke, sind die Leute gesprächiger. Aber bei dem Nieselregen…

" Is es denn sehr mühsam, um diese Zeit hier Leute anzusprechen?
Wahlkampf ist etwas, was auch Spaß macht. Natürlich ist das hier nicht unser ganz leichtes Pflaster. Der Wahlkreis ist sicher für die CDU eher untypisch, weil im Prenzlauer Berg haben wir relativ schlechte Ergebnisse, weiter im Norden, Weißensee und Pankow sieht das schon wieder ganz anders aus. So dass man also zwischen schwierig und sehr angenehm unterscheiden muss. "

Bisher war dieser Wahlkreis immer eine sichere Bank für die Linken - erst für die PDS, dann für die SPD. Im Prenzlauer Berg werden die Arbeiter immer weniger, die alternativ angehauchte Mittelschicht zieht nach - beide Gruppen wählen eher nicht die CDU. Und Pankow selbst gilt als bevorzugtes Viertel der DDR-Elite, bis heute. In den Villen rund um den Majakowskiring ist der Osten bürgerlich - und wählt trotzdem links. Günter Nooke ist sich nicht zu schade, auch den Biertrinker an der Ecke in ein Gespräch zu verwickeln - mit ungewöhnlichen Argumenten wirbt er für seine Partei und für sich.

"Wenn Sie nur mal den einfachen Fakt überlegen, als Schröder die Neuwahlen angekündigt hat und Frau Merkel zur Kanzlerkandidatin der Union gemacht wurde, in dieser kurzen Zeit hat die Börse um 100 Milliarden Euro zugelegt. Also wenn's völlig egal wäre, wer regiert, dann würden nicht andere so viel Geld damit machen. "

Vor ein paar Jahren hätte sich Günter Nooke noch gescheut, mit neoliberalen Marktphantasien auf Stimmenfang zu gehen. Bis 1994 saß der ehemalige Bürgerrechtler für Bündnis 90 im Brandenburger Landtag, erst vor neun Jahren trat er in die CDU ein. Jetzt scheint es, dass ihn seine Partei nicht mehr haben will. Die Berliner CDU verweigerte ihm einen aussichtsreichen Listenplatz. Er gilt als eigenbrötlerisch und wenig motiviert, Basisarbeit zu leisten. Vor allem aber fehlt ihm in dem von Westberliner Seilschaften geprägten Landesverband die Lobby. Wenn er das Mandat nicht direkt gewinnt, ist seine politische Karriere erst einmal beendet. Nooke gibt sich trotzdem optimistisch.

"Na, das ist nicht ganz ausgeschlossen, dass wir hier gewinnen. "

Nookes einziger Trumpf ist seine lupenreine Ostbiographie. Aber die haben die anderen Kandidaten auch.

"Wolfgang Thierse als Bundestagspräsident ist sicher die letzte Runde hier derjenige, der noch Wahlkampfgeschenke im Wahlkreis verteilen kann. Da kann man ja auch fragen, ob das nun unbedingt alle überzeugt, wenn er das Geld der Parlamentarier dann hier ausgibt. Und der Kandidat der PDS ist immerhin der Landesvorsitzende hier, aber gerade aus dem Grund und die Koalition mit Wowereit zusammenhalten. Der will eigentlich nicht in den Bundestag. Und dann ist da Werner Schulz, der sicher den anderen linken Kandidaten auch Stimmen wegnimmt. Wenn Sie dann rechnen, dass man hier mit 25 Prozent gewinnen kann, dann ist das für die CDU ein realistisches Ergebnis. "

In einem Lokal am Helmholtzplatz, mitten im Kneipenviertel des Prenzlauer Berges. Die Luft ist stickig, alle sind Tische besetzt, die Theke auch, die Zuhörer stehen bis auf die Straße.

"Seien Sie alle herzlich willkommen. Viel zu viele sind gekommen. Damit konnte man ja nicht rechnen, wenn zwei ganz unbekannte Herren sich mitten im Prenzlauer Berg treffen. Herzlich willkommen Jörg Thadeusz! "

Wolfgang Thierse lebt seit 1972 am Kollwitzplatz, nur ein paar hundert Meter entfernt. Wer hier wohnt, kann ihn beim Einkaufen treffen oder am Weinstand auf dem Ökomarkt. Zu seinem Wahlkampf gehören auch die Gespräche mit Prominenten, einmal pro Woche vor Publikum beim Bier. Heute ist der Moderator Jörg Tadeusz zu Gast, man redet über Politiker und Journalisten, über Eitelkeiten und Liebe im Parlament - und die Kunst, im Fernsehen gut rüber zu kommen.

"Mir wurde immer von den Medienprofis erzählt, Herr Thierse, im Grunde ist es egal, was Sie sagen. Die Leute gucken immer nur hin: Wie ist das mit Ihrem Bart und Ihren Haaren. Da hab ich gesagt: Da hab ich ja gar keine Chance. "

Die Selbstironie kommt gut an beim Publikum. An anderer Stelle sagt Thierse, dass er wohl Journalist geworden wäre, wenn er nicht in der DDR gelebt hätte, wo ihn dieser Weg gezwungen hätte, sich politisch anzupassen. Der Ausflug ins Unterhaltungsfach macht ihm sichtlich Spaß, ist dies doch eine Erholung von der staatstragenden Rolle des Bundestagspräsidenten.

"Ich habe, ich muss überlegen, in den sieben Jahren noch nie einen Abgeordneten des Saales verwiesen.
Warum eigentlich nicht? (lachen)
Weil ich immer so milde gestimmt bin.
Früher musste man doch wenn Herbert Wehner Übelkrähe oder sowas...
Ja...
gerufen hat, musste man doch als Präsident sagen: Sie haben gerade Übelkrähe gerufen, das ist nicht parlamentarisch, gehen Sie bitte, Herr Wehner.
Man muss schon sagen, was man kritisiert, das muss man schon, das abgefeimte Wort womöglich wieder in den Mund nehmen.
Also wenn der SPD-Abgeordnete Poß den CDU-Abgeordneten von Klaeden einen Schleimbeutel nennt, müssen Sie sagen: Schleimbeutel ist nicht parlamentarisch.
Ich habe gelegentlich den Vorzug, dass ich nicht so genau höre. (Lachen) "

Natürlich profitiert Thierse davon, dass er selbst ein Prominenter ist. Der Publikumszulauf seiner Wahlkampfveranstaltungen sind garantiert und TV-Protagonisten wie Sandra Maischberger, Alfred Biolek, Johannes B. Kerner, Peter Hahne oder Fritz Pleitgen lassen sich gern vor seinen Karren spannen - was sie wohl kaum täten, wenn er nicht Bundestagspräsident wäre. Er nutze sein Amt aus, um als Direktkandidat für Pankow Stimmen zu sammeln, behaupten seine Konkurrenten. Und doch ist noch nicht ausgemacht, dass er seinen Wahlkreis wieder gewinnt - obwohl er zu den bekanntesten Politiker Deutschlands zählt.

"In diesem Wahlkreis war es noch nie anders. Seit 1990, seit ich für den Bundestag kandidiere, gab es immer einen Zweikampf zwischen dem Sozialdemokraten Thierse und dem jeweiligen PDS-Kandidaten. Das war immer so. Und dieser Zweikampf wurde immer entschieden durch die Wähler der anderen Parteien, vor allem der Grünen, mit deren Erststimme. "

Thierses schwache Flanke sind die Sozialreformen der Rot-Grünen Bundesregierung. Obwohl Pankow nicht zu den ärmeren Stadtbezirken zählt, reagiert man hier empfindlich darauf, dass Hartz-IV-Empfänger im Osten weniger Geld bekommen als im Westen, und Thierse dem zugestimmt hat. Die Kritik der PDS nimmt er persönlich. Er fühlt sich falsch verstanden.

"Ich habe was gegen etwas gegen ne bestimmte Art von Propaganda. Die PDS behauptet, Hartz IV ist Armut per Gesetz. Das ist durch die Fakten widerlegt. Hartz IV ist viel teurer, kostet mehrere Milliarden mehr, viele Hunderttausend Menschen sind zum ersten Mal Adressat von Vermittlungsbemühungen. "

Szenenwechsel: Der kleine Raum in einer Pankower Villa ist bis auf den letzten Platz besetzt. Kaum einer ist hier unter 60 Jahre alt. Vorn steht der Direktkandidat der PDS, er drückt den Rücken durch, trägt dunkles Sakko mit weißem Hemd, wirkt offen und freundlich, ein Schwiegermutter-Typ.

"Mein Name ist Stefan Liebich. Ich bin im Jahr 1972 in der Hansestadt Wismar geboren worden, habe mein Abitur in der Albert-Einstein-erweiterten Oberschule in Berlin Marzahn gemacht und bin dann im Jahr 1990 in die PDS eingetreten. "

Stefan Liebich, der Landesvorsitzende der Linkspartei.PDS in Berlin verfügt über die Gnade der späten Geburt: Er ist zu jung, um in der DDR Verantwortung getragen zu haben. Er hat im Westen beim Computerhersteller IBM studiert, ist erfolgreich, einer, der angekommen ist im vereinten Deutschland. Gleichzeitig aber ist seine Botschaft: Ich bin einer von Euch. Das macht sich gut in Pankow. Eine der Seniorinnen sagt: Ich bin seit 1946 in der Partei.

"Ich mag ihn. Ich kann ihn gut leiden. Ich hab den Eindruck, dass er zielstrebig ist, dass er weiß, was er sagt, dass da auch was dahinter steht. Und außerdem find ich es schön, dass mal ein Jüngerer in dieser Partei was zu sagen hat. "

Keine Frage, hier ist Liebich in seinem Milieu. Dass ausgerechnet er der SPD gefährlich werden könnte, ist eigentlich paradox. Denn im Roten Rathaus regieren die beiden Parteien die Stadt gemeinsam. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, Liebich will in Wirklichkeit gar nicht in den Bundestag, sondern Landespolitiker bleiben. Auch hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass er das Bündnis mit der WASG nur aus Parteidisziplin mit trägt. Bis heute hält er Distanz zu den Westlinken.

"Nicht jeder, der links ist, hilft uns in diesem neuen Bündnis. Ich bin der Auffassung, dass es richtig ist, dass sich WASG und PDS und weitere demokratische Linke zusammentun. Und wenn wir eine Partei haben, die im deutschen Bundestag vertreten ist, mit sieben, acht, neun Prozent, und damit erstmals in der Bundesrepublik eine stabile Basis links von der Sozialdemokratie haben dann wäre die konsequente Ansprache eher an die anderen Parteien, dass sie sich über ihre eigene Existenzberechtigung Gedanken machen. Ich bin nicht bereit, bestimmte programmatische Positionen, die wir uns als PDS erkämpft haben, über Bord zu werfen, weil beispielsweise die DKP gewonnen werden soll, und dann die DKP uns nicht mehr Stimmen bringt, sondern Stimmen kostet. "

Hier in Pankow tritt Liebich als Garant dafür auf, dass die PDS auch weiterhin die Interessen des Ostens vertritt - und die Westlinken im Zaum hält. Auf der Straße dagegen, am Infostand, verteidigt er das Zweckbündnis mit Lafontaine tapfer - was ihm seit dessen Wort von den Fremdarbeitern sichtlich Unbehagen bereitet.

"Das ist nicht ganz einfach. Aber da haben wir hier in Berlin ne ganz klare Distanz zu. Ich halte den Begriff des Fremdarbeiters für nicht glücklich, auch wenn viele andere in der Bundesrepublik bei der SPD, bei der CDU, in den Medien den auch benutzen. Ich find ihn falsch. Und ich finde vor allem den Gedanken falsch, zu sagen, dass die Konkurrenz zwischen den Menschen hier und den Menschen, die zu uns kommen, existiert. Dann gibt es Fragen, wieso machen Sie dann so jemanden zum Spitzenkandidaten. Ich kann nur sagen, dass ich glaube, dass Oskar Lafontaine in den alten Bundesländern sehr, sehr viele Menschen anzieht, auch Linke anzieht, die diese Position, die er vertritt nicht haben. "

Stefan Liebich ist neben Gysi und Lafontaine ein weiteres Beispiel dafür, dass die Linkspartei anderen die Wähler abwerben kann, wenn sie nur die richtigen Personen aufstellt. Am Infostand auf der Breiten Straße in Pankow scharen sich die Passanten um den Kandidaten. Hier hat Liebich leichtes Spiel.

"Find ick gut, ich bin ja leidenschaftlicher SPD-Wähler, wir haben auch schon CDU gewählt, aber nu wollen wir mal links wählen.
Wir haben ja noch nie PDS oder links gewählt. Wir sind ja keene Kommunisten.
Ich kenn nur Gregor Gysi und den find ich gut.
Der Oskar war mir sehr sympathisch. Und das find ich eben nicht, wenn sie alle auf dem rumhacken. Da werfen sie ihm sein Haus vor, na andere haben auch Häuser.
Ich war nie Mitglied der SED. Ich bin seit 34 Jahren Mitglied der der Sozialdemokratischen Partei. Nur dieses Mal werd ich meine Stimme dort platzieren. "

Dennoch hätte Stefan Liebich keine großen Chancen, den Wahlkreis zu gewinnen, bekäme er nicht indirekt Hilfe von einem anderen Kandidaten: Werner Schulz, ehemals Oppositioneller in er DDR, kämpft verzweifelt um jede Stimme. Denn auch seine Partei, die Grünen, hat ihm den sicheren Wiedereinzug in den Bundestag verweigert. Würde er seine Kandidatur weniger ernst nehmen, gingen die meisten seiner Erststimmen wohl zu Wolfgang Thierse. Aber Schulz ist zum Erfolg verdammt, gewinnt er den Wahlkreis nicht direkt, ist seine Karriere beendet. Was ihm zugute kommt: Seit er vor dem Verfassungsgericht gegen Auflösung des Bundestages geklagt hat, ist er populär.

"Die meisten erkennen mich schon. Ich kann natürlich nicht jeden fragen, ob er mich erkannt hat. Aber es gibt ja untrügliche Zeichen, wo die Leute einen anlächeln oder reagieren, guten Tag sagen, oder guten Morgen, oder sagen, ja wunderbar, gut, dass ich Sie hier treffe, oder: Sie wähl ich nicht, Sie sind immer so vergnatzt, oder solche Reaktionen bekommt man ja. "

Hier, am U-Bahnhof Eberswalder Straße, mitten im Prenzlauer Berg, ist Schulzes widerständiger Geist ein Pluspunkt. Die Klage vorm Bundesverfassungsgericht nötigt Respekt ab, und nicht nur die macht ihn manchem Passanten sympathisch

"Also durch die Klage weniger als dadurch, dass er im Bundestag den Mund aufgemacht hat und damit den Leuten sozusagen aus dem Herzen gesprochen hat
Da kann ich nur sagen, ist der einzige Querkopf in dem ganzen Haufen da drin. "

Seine Stimmen werden Wolfgang Thierse fehlen, und Stefan Liebich von der Linkspartei wird der Lachende Dritte sein, könnte man einwenden. Nein, sagt Werner Schulz, so kann man das nicht sehen.

"Also ich bin einer, der am konsequentesten noch für Rot-Grün kämpft, zumindest, dass das eine Jahr noch ausgenutzt wird, denn wir könnten noch einiges zustande bringen. Und im übrigen ist es so, Thierse ist mit seinem Spitzenplatz auf der Landesliste der SPD in jedem Falle drin, das ist der einzige von den Kandidaten, der schon seinen Platz sicher hat. Pankow, finde ich, ist ein großer, interessanter und pulsierender Stadtbezirk, der eigentlich zwei starke Kandidaten im Bundestag braucht und ich hoffe, dass die Leute dass mit ihrem Splitting-Verhalten hinbekommen. "

Auch für Werner Schulz gilt: Ein Sieg in diesem Wahlkreis käme einem Wunder gleich. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt: Im Europawahlkampf, so wird er nicht müde zu betonen, waren die Grünen im Bezirk die Stärksten. Und selbst wenn der Strohalm Pankow ihn nicht tragen sollte:
Es gibt ein Leben nach dem Bundestag.

"Ich bin ja trotzdem ein politischer Mensch und die Gesäßgeographie des deutschen Bundestages hat mich noch nie ganz so sehr interessiert. Also Politik findet ja auch außerhalb des Bundestages statt. "
Günter Nooke, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe
Günter Nooke, CDU© CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD)
Wolfgang Thierse (SPD)© AP