Einer wird immer geschlachtet
Juli Zeh entwirft eine negative Utopie der Justiz: Der Gesellschaft ist die Verwahrung von Straftätern zu teuer, deshalb werden sie nun in Haftanstalten gemästet und den Reichen zum Fraß vorgeworfen.
Die für Karfreitag vorgesehene Premiere von "Madame Butterfly" im Essener Aalto-Theater musste verschoben werden. Die Uraufführung von Juli Zehs neuem Stück "203" in Düsseldorf, also nur wenige Kilometer entfernt, durfte hingegen stattfinden Zu Recht, denn Zeh hat ein dem stillen Feiertag entsprechendes sehr ernsthaftes politisches Theaterstück geschrieben, in dem sie sich mit dem Problem der Identität in der virtuellen Welt, der Rolle von Erinnerungen und Erzählungen für die Konstituierung von Identität, dem Überwachungsstaat und unserer "Fürsorge-Diktatur", also der Fremdbestimmung durch Politik, Wirtschaft, Medien und Werbung, beschäftigt.
Zeh setzt ihre vier Hauptfiguren einem Experiment aus: Thomas erwacht in einem Zimmer, das er nicht kennt, und in dem sich drei weitere Leute aufhalten, die er auch nicht kennt. Diese behaupten allerdings, seine Familie zu sein: Betty, seine Schwester (zwischendurch auch Geliebte), Leo, sein Vater (eine Frau), und Christa, seine Mutter (ein Mann). Erst glaubt Thomas, er sei Opfer der "Versteckten Kamera", des Finanzamts oder des BKA geworden – denn er hat im großen Stil Wirtschaftsbetrug verübt -, aber nach und nach wird ihm klar, dass die Sache ernst ist: Die Tür von Raum 203 lässt sich nicht öffnen, und regelmäßig kommen zwei Wärterinnen herein, die den Gefangenen zum Beispiel brutal mit einem Schlauch Brei einfügen. Thomas begreift, dass er in einer Art Gefängnis gelandet ist, aber nicht in einem herkömmlichen – die Juristin Juli Zeh hat für die Justiz eine negative Utopie entworfen: Der Gesellschaft wurde die Verwahrung von Straftätern zu teuer, deshalb werden sie in Haftanstalten gemästet und den Reichen zum Fraß vorgeworfen.
Als Thomas begreift, dass ihnen allen über eher kurz als lang der Tod droht, lehnt er sich merkwürdigerweise nicht weiter auf, sondern beginnt, an der Familienerzählung der anderen mitzustricken. Aus Zeitungsnachrichten, den Biografien ihrer Wärterinnen und eigenen Erinnerungen haben sie sich eine gemeinsame Geschichte gebastelt, die sie nun wie in einem Erzählwettstreit weiterspinnen – immer wenn einer abgeholt wird zur Schlachtung, übernimmt der folgende Neuankömmling Platz und Namen des Verschwundenen (dabei wird halt auch mal eine junge Frau zum Vater Leo). Nicht wie Scheherazade erzählen sie um ihr Leben, sondern weil sie die schreckliche Wahrheit ihres nahenden Todes nicht wahrhaben wollen.
Juli Zeh will mit "203" für die Menschenwürde, die Selbstbestimmung und gegen die Angst anschreiben – und wie immer tut sie das mit Sätzen, die dem Stück etwas Thesenhaftes geben: "Freiheit heißt jetzt Sicherheit" oder "Der öffentliche Raum ist ein Gehege" oder "Rausgehen ist Unterwerfung" heißt es da zum Beispiel. Regisseur Hans-Ulrich Becker lässt die Schauspieler diese schweren, sperrigen Sätze eher beiläufig sprechen, er betont stärker die Dialoge zwischen den vier Figuren, so dass der Schwerpunkt seiner Inszenierung auf der Interaktion und dem sozialen Experiment liegt. Das ist sicher eine richtige Entscheidung, wie auch die, die komischen Momente im Stück herauszuheben. Viola Pobitschka als Tochter Betty erfindet sich zum Beispiel einen Sohn, der ihr laut festgelegtem Erzählplot gar nicht zusteht. Als Vater Leo sie darauf hinweist, dass sie kein Kind hat, antwortet sie: "Doch, eine Mutter spürt das." Das ist zwar bitterer, aber immerhin Humor.
Den Raum 203 selbst hat Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau mit plastiküberzogenen Möbeln ausgestattet wie eine Irrenanstalt. An der Wand mit riesigem floralen Tapetenmuster hängt eine übergroße Hirsch-Trophäe – der Raum sieht aus, als stamme er aus einem Drogentrip. Und vielleicht ist ja auch diese Zelle nicht die Realität, will der Regisseur damit wohl sagen, genau so wie die vier Figuren nicht die sind, deren Namen sie übernehmen. Hans-Ulrich Becker lässt den Gefangenen von "203" also wenigstens ein bisschen Hoffnung. Er nimmt das Stück von Juli Zeh leicht, aber nicht auf die leichte Schulter.
Zeh setzt ihre vier Hauptfiguren einem Experiment aus: Thomas erwacht in einem Zimmer, das er nicht kennt, und in dem sich drei weitere Leute aufhalten, die er auch nicht kennt. Diese behaupten allerdings, seine Familie zu sein: Betty, seine Schwester (zwischendurch auch Geliebte), Leo, sein Vater (eine Frau), und Christa, seine Mutter (ein Mann). Erst glaubt Thomas, er sei Opfer der "Versteckten Kamera", des Finanzamts oder des BKA geworden – denn er hat im großen Stil Wirtschaftsbetrug verübt -, aber nach und nach wird ihm klar, dass die Sache ernst ist: Die Tür von Raum 203 lässt sich nicht öffnen, und regelmäßig kommen zwei Wärterinnen herein, die den Gefangenen zum Beispiel brutal mit einem Schlauch Brei einfügen. Thomas begreift, dass er in einer Art Gefängnis gelandet ist, aber nicht in einem herkömmlichen – die Juristin Juli Zeh hat für die Justiz eine negative Utopie entworfen: Der Gesellschaft wurde die Verwahrung von Straftätern zu teuer, deshalb werden sie in Haftanstalten gemästet und den Reichen zum Fraß vorgeworfen.
Als Thomas begreift, dass ihnen allen über eher kurz als lang der Tod droht, lehnt er sich merkwürdigerweise nicht weiter auf, sondern beginnt, an der Familienerzählung der anderen mitzustricken. Aus Zeitungsnachrichten, den Biografien ihrer Wärterinnen und eigenen Erinnerungen haben sie sich eine gemeinsame Geschichte gebastelt, die sie nun wie in einem Erzählwettstreit weiterspinnen – immer wenn einer abgeholt wird zur Schlachtung, übernimmt der folgende Neuankömmling Platz und Namen des Verschwundenen (dabei wird halt auch mal eine junge Frau zum Vater Leo). Nicht wie Scheherazade erzählen sie um ihr Leben, sondern weil sie die schreckliche Wahrheit ihres nahenden Todes nicht wahrhaben wollen.
Juli Zeh will mit "203" für die Menschenwürde, die Selbstbestimmung und gegen die Angst anschreiben – und wie immer tut sie das mit Sätzen, die dem Stück etwas Thesenhaftes geben: "Freiheit heißt jetzt Sicherheit" oder "Der öffentliche Raum ist ein Gehege" oder "Rausgehen ist Unterwerfung" heißt es da zum Beispiel. Regisseur Hans-Ulrich Becker lässt die Schauspieler diese schweren, sperrigen Sätze eher beiläufig sprechen, er betont stärker die Dialoge zwischen den vier Figuren, so dass der Schwerpunkt seiner Inszenierung auf der Interaktion und dem sozialen Experiment liegt. Das ist sicher eine richtige Entscheidung, wie auch die, die komischen Momente im Stück herauszuheben. Viola Pobitschka als Tochter Betty erfindet sich zum Beispiel einen Sohn, der ihr laut festgelegtem Erzählplot gar nicht zusteht. Als Vater Leo sie darauf hinweist, dass sie kein Kind hat, antwortet sie: "Doch, eine Mutter spürt das." Das ist zwar bitterer, aber immerhin Humor.
Den Raum 203 selbst hat Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau mit plastiküberzogenen Möbeln ausgestattet wie eine Irrenanstalt. An der Wand mit riesigem floralen Tapetenmuster hängt eine übergroße Hirsch-Trophäe – der Raum sieht aus, als stamme er aus einem Drogentrip. Und vielleicht ist ja auch diese Zelle nicht die Realität, will der Regisseur damit wohl sagen, genau so wie die vier Figuren nicht die sind, deren Namen sie übernehmen. Hans-Ulrich Becker lässt den Gefangenen von "203" also wenigstens ein bisschen Hoffnung. Er nimmt das Stück von Juli Zeh leicht, aber nicht auf die leichte Schulter.