"Einfach eine faszinierende Person"
Uwe Kolbe war 19 Jahre alt, als er erstmals Gedichte von Sarah Kirsch las - damals war der spätere Lyriker Soldat bei der Nationalen Volksarmee. Bis heute zeigt er sich begeistert von der Dichterin. Und das nicht nur wegen ihrer Verse, sondern auch wegen ihrer Menschlichkeit und ihrer "politischen Statur".
Matthias Hanselmann: Erst heute wurde bekannt, dass die deutsche Lyrikerin Sarah Kirsch am 5. Mai im Alter von 78 Jahren verstorben ist. Frau Kirsch zählte zu den bedeutendsten deutschsprachigen Stimmen, sie hat die Lyriklandschaft des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt und viele Preise bekommen, zum Beispiel den Büchner-Preis, den Österreichischen Staatspreis und den Peter-Huchel-Preis. Bei uns ist der ebenfalls in der DDR geborene Lyriker und Prosaautor Uwe Kolbe. Herzlich willkommen im "Radiofeuilleton" und danke, dass Sie so kurzfristig sich Zeit für uns genommen haben, hallo!
Uwe Kolbe: Guten Tag!
Hanselmann: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie vom Tode Sarah Kirschs erfahren haben?
Kolbe: Abgesehen von Trauer und dem Wissen, dass es wirklich die große Stimme des Gedichts, zumindest des weiblichen, aber weit darüber hinaus ist, die damit nicht verstummt, sondern auf andere Art gelesen wird danach, und dass auch eine Person fehlt, weg ist, die unerhört saftig und lebendig war, wenn man sie kennen durfte.
Hanselmann: Sie waren kein dicker Freund von Sarah Kirsch, Sie haben sie aber gut gekannt, sagen wir es mal so. Als was für eine Person haben Sie sie wahrgenommen?
Kolbe: Ich meine, es fängt ja mit einem extremen Altersunterschied an. Als sie etwa Mitte 30 war und ich ihre Gedichte so mit 19 las bei der Nationalen Volksarmee, irgendwie draußen auf dem Acker, und begeistert war, da war sie ja schon weg aus der DDR. Und es gab eine Verbindung, Franz Fühmann hatte sehr früh auf ihren Band "Zaubersprüche" hin einen wichtigen Essay über sie geschrieben. Und der war ja so eine Art Mentor für mich, und dadurch hatte ich natürlich ein Bild, ein Bild der Verehrung also der weiblichen Dichterin, die auch durch vielerlei Fotos, nebenbei bemerkt, von Roger Melis und so ein bisschen auch einen Ikonenstatus hatte.
Und dann, als wir uns eigentlich erst sehr spät kennenlernten, als ich nämlich auch im Westen war, in Hamburg lebte ab Ende der 80er-Jahre, habe ich sie besucht in Tielenhemme-Eiderdeich, wo sie bis zum Schluss gelebt hat. Das ist weit, weit in Schleswig-Holstein, weit im Norden. Und da war ich einfach nur begeistert von dieser extremen Mischung, ich sage das jetzt mal ungeschützt und spontan, von Weiblichkeit, von Bissigkeit, von Wachheit, von Witz, von Esprit, gleichzeitig von Erdverbundenheit. Nicht umsonst zieht man ja auf ein weit abgelegenes früheres Schulhaus mit Esel und Schaf und schreibt auch dann tatsächlich über die Kühe da ringsum. Das hat sie ja auch getan. Aber es war immer alles drin bei ihr. Einfach eine faszinierende Person.
Hanselmann: Aber die Faszination Ihrer ehemaligen, ich sage mal, NVA-Göttin ist geblieben?
Kolbe: Absolut. Also, das hat sie als Person, wirklich im Gegenteil, das hat sich nicht schmälern können, auch als ältere Person nicht. Und sie war ja auch in ihren Reaktionen, also, wenn es um politische Sachverhalte ging oder so, sie war, wie soll ich das sagen, sie war rabiat. Sie war in der Hinsicht sehr einsilbig, sie hat nicht umsonst den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung als Erste unterschrieben. Das ist ja kaum bekannt, die anderen Namen weiß man alle, Christa Wolf und so weiter, aber Sarah Kirsch war die Erste. Und so spontan war das auch, in der Hinsicht ist sie ein bisschen von einer politischen Statur vielleicht wie Herta Müller, nur nicht so analytisch. Und das gehörte alles zusammen. Und so waren auch ihre Gedichte. Person und Dichtung und Werk sind bei ihr, finde ich, unerhört nahe.
Hanselmann: Lassen Sie uns eines ihrer Gedichte hören, das heißt "Großer Stern" und stammt aus dem Band "Erdreich", der 1982 erschienen ist.
Sarah Kirsch: "Großer Stern"
Die versunkenen verwachsenen
Feldherren in ihren Sträuchern
Recken gebieterisch Hand und Degen
Bevor der Turm mit der silbernen Kugel
Sich mächtig ins Bild schiebt
Von Zeit zu Zeit seh ich ihn gern
Doch als er sein strenges Licht
Mir jeden Abend über den Tisch goss
Die zivilen Herren und Steckbriefträger
Vor meiner Tür und im Fahrstuhl standen
Hätte ich dieses Potenzminarett
Gern in den Himmel gesprengt.
Hanselmann: Ein in den Himmel gesprengtes Potenzminarett. Herr Kolbe, Sie lachen!
Kolbe: Na ja, das ist vom Ende her betrachtet auch ein bisschen schlicht. Aber es ist natürlich, man merkt, da ist komplett diese Fallhöhe drin, ich nenne es jetzt Fallhöhe, diese Mischung aus absolut gegenwärtigem Witz und gleichzeitig also von einem großen Stern, von einer Geschichte her. Das ist ja so ein kleines, so eine Miniatur, wie sie viele gemacht hat, die einerseits geschichtssatt und andererseits vollkommen gegenwärtig und auch von ihrer eigenen biografischen Substanz her geschrieben sind. Also, diese Geschichte, sie hat auf der Fischerinsel in so einem Hochhaus gewohnt zu DDR-Zeiten, wo es auch Zusammenkünfte von Ost und West, von Schriftstellern gab und von Kollegen. Und sie hat diese Ödnis und auch die Brutalität des wirklich tatsächlich, muss an ja so sagen in dem Zusammenhang, auch des Spitzelstaates tatsächlich sehr hautnah miterlebt.
Hanselmann: Sie haben die Art ihrer Dichtung schon ganz gut charakterisiert. Sie hat das lyrische Ich in der DDR eingeführt, hat man mir gesagt, ich bin kein Spezialist. Inwiefern hat das Sie und andere Lyriker eventuell beeinflusst?
Kolbe: Sie war ja, das ist interessant, sie war eine sehr … Also, ich sage zu solchen Figuren: solitäre Erscheinung. Es gibt ja wenige auch in der deutschen Nachkriegslyrik, sagen wir mal Peter Huchel oder Johannes Bobrowski, Günter Eich fällt mir noch ein, solitäre Autoren, wo man eigentlich nicht so richtig sieht, wo die herkommen und angebunden sind. Und sie war eben in einer starken Gruppe in der DDR, die haben ja alle so klassizistisch geschrieben, auch der Mann, von dem sie den Namen dann übernommen hat, Rainer Kirsch, der ja eine Zeit lang mit ihr verheiratet war, oder Karl Mickel und wie sie alle hießen, Volker Braun und so weiter, diese Kollegen der Generation, die sind ja Klassizisten. Da war sie ganz anders. Sie hatte diesen Fundus genauso, nur sie hat ein rabiates, ein Parlando, ein heutiges Sprechen da einfach so sehr reingebracht, das ist das Tolle. Sie war für mich, als ich als junger Mann das gelesen habe, sie war so, als ob jemand direkt mit mir spricht. Und das im Gedicht, es war fantastisch!
Hanselmann: Wunderbar! 1977 hat Sarah Kirsch die DDR verlassen, Sie haben es angedeutet, sie hatte als Erste – wir heben es noch mal hervor – den Protestbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben und wurde daraufhin sehr angefeindet. Wie haben Sie das damals eigentlich erlebt? Sie selbst sind ja erst 1987 gegangen und sind ja auch, wie Sie selber sagten, etliche Jahre jünger. Sarah Kirsch ist geboren 1935, Sie, glaube ich, 1957.
Kolbe: Na ja, die Biermann-Ausbürgerung eben, die habe ich zur gleichen Zeit, als ich ihre Gedicht als Soldat bei der Armee nach missglückter Wehrdienstverweigerung gelesen habe, da wurde ich zur gleichen Zeit vom Politoffizier … Das war genau in der Zeit, ich war 76 eingezogen, der November kam, ich war am 2. November eingezogen, am 16. war die Ausbürgerung. Und schon wurde ich vom Polithansel da in seine Kammer gerufen, sagen Sie mal, Sie schreiben doch! Ich schrieb damals schon so ein paar Gedichte. Was halten Sie von diesem Biermann? – Und so ging das sofort los! Und na ja, was soll ich sonst sagen, ich hatte selber noch gar nicht veröffentlicht. Also, erst dann sind gleichzeitig von mir Gedichte in der "Sinn und Form" erschienen, die ersten überhaupt. Das ist natürlich eine unerhörte Kluft, aber die Autoren wie Sarah Kirsch und wie ihr Umfeld, die waren natürlich die, von denen habe ich Saft gesogen. Das waren ja meine Leute, das war ja mein Umfeld. Und über die habe ich ja die Tradition sozusagen vermittelt bekommen und kennengelernt. Also, in dem Sinne war das ein enormer Einfluss.
Hanselmann: Wie ist eigentlich, oder sagen wir mal so: Was ist von Sarah Kirschs Haltung zum Sozialismus, von der Utopie, für die sie ja eine Weile lang gelebt hat, eigentlich übrig geblieben? Wie hat sie ihre DDR-Zeit nachträglich gesehen?
Kolbe: Also, ich glaube, von Utopie war da gar nichts. Aber sie ist auch nie zynisch geworden, das gibt es ja auch, man kann das ja auch werden. Sie war radikal, sie war rabiat, sie war moralisch total in dieser Hinsicht. Und der menschliche Verrat hat sie ins Mark getroffen, also das Aktenlesen, was sie ja dann auch getan hat. Da kann man sehr viel von Hans Joachim Schädlich, der ihr sehr nahestand, erfahren, glaube ich, zu diesem Thema. Ich halte sie für eine große Unbestechliche und da kann ihr auch niemand mehr im Nachhinein, konnte ihr auch niemand mehr die DDR schöngucken oder so was, was ja vielfach versucht wird. Also, Ostalgie gab es da überhaupt nicht.
Es gibt gleichzeitig in dem Band, aus dem auch dieses Gedicht "Großer Stern" stammt, "Erdreich" heißt der, damals natürlich auch so Rückblicksgedichte. Sie hatte auf der anderen Seite auch eine Art Milde gegenüber den Kollegen, die dort geblieben sind und so. Sie hat da nicht gerechtet. Aber sie war mit dem, was das war, mit dem sozialistischen Versuch auf deutschem Boden, einfach durch.
Hanselmann: Können Sie mir eine kurze Antwort geben auf die Frage, ob sich ihre Art zu dichten deutlich verändert hat, als sie in den Westen gegangen ist?
Kolbe: Sie war milder. Sie war milder und sie hatte mehr von der Welt, die sie dann auch bereiste und durchreiste und ansah.
Hanselmann: Sie hat, wir haben es erwähnt, in den letzten Jahren sehr zurückgezogen gelebt, in Schleswig-Holstein ganz weit draußen, auch die Öffentlichkeit gescheut. Warum, haben Sie eine Erklärung dafür?
Kolbe: Das würde zu weit führen, wäre reine Spekulation. Sie hatte es sehr gut da auf dem Land. Sie hatte einfach ein Stück Erde gefunden, was auch fruchtbar war die ganze Zeit für sie, im poetischen Sinne. Und so was ist ja toll, wenn man so einen Ort gefunden hat.
Hanselmann: Zum Tode Sarah Kirschs und über diese fantastische Person Sarah Kirsch habe ich mich unterhalten mit dem Lyriker und Prosaautor Uwe Kolbe. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Kolbe: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hören Sie hier einen Nachruf auf Sarah Kirsch von Siegried Wesener
Uwe Kolbe: Guten Tag!
Hanselmann: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie vom Tode Sarah Kirschs erfahren haben?
Kolbe: Abgesehen von Trauer und dem Wissen, dass es wirklich die große Stimme des Gedichts, zumindest des weiblichen, aber weit darüber hinaus ist, die damit nicht verstummt, sondern auf andere Art gelesen wird danach, und dass auch eine Person fehlt, weg ist, die unerhört saftig und lebendig war, wenn man sie kennen durfte.
Hanselmann: Sie waren kein dicker Freund von Sarah Kirsch, Sie haben sie aber gut gekannt, sagen wir es mal so. Als was für eine Person haben Sie sie wahrgenommen?
Kolbe: Ich meine, es fängt ja mit einem extremen Altersunterschied an. Als sie etwa Mitte 30 war und ich ihre Gedichte so mit 19 las bei der Nationalen Volksarmee, irgendwie draußen auf dem Acker, und begeistert war, da war sie ja schon weg aus der DDR. Und es gab eine Verbindung, Franz Fühmann hatte sehr früh auf ihren Band "Zaubersprüche" hin einen wichtigen Essay über sie geschrieben. Und der war ja so eine Art Mentor für mich, und dadurch hatte ich natürlich ein Bild, ein Bild der Verehrung also der weiblichen Dichterin, die auch durch vielerlei Fotos, nebenbei bemerkt, von Roger Melis und so ein bisschen auch einen Ikonenstatus hatte.
Und dann, als wir uns eigentlich erst sehr spät kennenlernten, als ich nämlich auch im Westen war, in Hamburg lebte ab Ende der 80er-Jahre, habe ich sie besucht in Tielenhemme-Eiderdeich, wo sie bis zum Schluss gelebt hat. Das ist weit, weit in Schleswig-Holstein, weit im Norden. Und da war ich einfach nur begeistert von dieser extremen Mischung, ich sage das jetzt mal ungeschützt und spontan, von Weiblichkeit, von Bissigkeit, von Wachheit, von Witz, von Esprit, gleichzeitig von Erdverbundenheit. Nicht umsonst zieht man ja auf ein weit abgelegenes früheres Schulhaus mit Esel und Schaf und schreibt auch dann tatsächlich über die Kühe da ringsum. Das hat sie ja auch getan. Aber es war immer alles drin bei ihr. Einfach eine faszinierende Person.
Hanselmann: Aber die Faszination Ihrer ehemaligen, ich sage mal, NVA-Göttin ist geblieben?
Kolbe: Absolut. Also, das hat sie als Person, wirklich im Gegenteil, das hat sich nicht schmälern können, auch als ältere Person nicht. Und sie war ja auch in ihren Reaktionen, also, wenn es um politische Sachverhalte ging oder so, sie war, wie soll ich das sagen, sie war rabiat. Sie war in der Hinsicht sehr einsilbig, sie hat nicht umsonst den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung als Erste unterschrieben. Das ist ja kaum bekannt, die anderen Namen weiß man alle, Christa Wolf und so weiter, aber Sarah Kirsch war die Erste. Und so spontan war das auch, in der Hinsicht ist sie ein bisschen von einer politischen Statur vielleicht wie Herta Müller, nur nicht so analytisch. Und das gehörte alles zusammen. Und so waren auch ihre Gedichte. Person und Dichtung und Werk sind bei ihr, finde ich, unerhört nahe.
Hanselmann: Lassen Sie uns eines ihrer Gedichte hören, das heißt "Großer Stern" und stammt aus dem Band "Erdreich", der 1982 erschienen ist.
Sarah Kirsch: "Großer Stern"
Die versunkenen verwachsenen
Feldherren in ihren Sträuchern
Recken gebieterisch Hand und Degen
Bevor der Turm mit der silbernen Kugel
Sich mächtig ins Bild schiebt
Von Zeit zu Zeit seh ich ihn gern
Doch als er sein strenges Licht
Mir jeden Abend über den Tisch goss
Die zivilen Herren und Steckbriefträger
Vor meiner Tür und im Fahrstuhl standen
Hätte ich dieses Potenzminarett
Gern in den Himmel gesprengt.
Hanselmann: Ein in den Himmel gesprengtes Potenzminarett. Herr Kolbe, Sie lachen!
Kolbe: Na ja, das ist vom Ende her betrachtet auch ein bisschen schlicht. Aber es ist natürlich, man merkt, da ist komplett diese Fallhöhe drin, ich nenne es jetzt Fallhöhe, diese Mischung aus absolut gegenwärtigem Witz und gleichzeitig also von einem großen Stern, von einer Geschichte her. Das ist ja so ein kleines, so eine Miniatur, wie sie viele gemacht hat, die einerseits geschichtssatt und andererseits vollkommen gegenwärtig und auch von ihrer eigenen biografischen Substanz her geschrieben sind. Also, diese Geschichte, sie hat auf der Fischerinsel in so einem Hochhaus gewohnt zu DDR-Zeiten, wo es auch Zusammenkünfte von Ost und West, von Schriftstellern gab und von Kollegen. Und sie hat diese Ödnis und auch die Brutalität des wirklich tatsächlich, muss an ja so sagen in dem Zusammenhang, auch des Spitzelstaates tatsächlich sehr hautnah miterlebt.
Hanselmann: Sie haben die Art ihrer Dichtung schon ganz gut charakterisiert. Sie hat das lyrische Ich in der DDR eingeführt, hat man mir gesagt, ich bin kein Spezialist. Inwiefern hat das Sie und andere Lyriker eventuell beeinflusst?
Kolbe: Sie war ja, das ist interessant, sie war eine sehr … Also, ich sage zu solchen Figuren: solitäre Erscheinung. Es gibt ja wenige auch in der deutschen Nachkriegslyrik, sagen wir mal Peter Huchel oder Johannes Bobrowski, Günter Eich fällt mir noch ein, solitäre Autoren, wo man eigentlich nicht so richtig sieht, wo die herkommen und angebunden sind. Und sie war eben in einer starken Gruppe in der DDR, die haben ja alle so klassizistisch geschrieben, auch der Mann, von dem sie den Namen dann übernommen hat, Rainer Kirsch, der ja eine Zeit lang mit ihr verheiratet war, oder Karl Mickel und wie sie alle hießen, Volker Braun und so weiter, diese Kollegen der Generation, die sind ja Klassizisten. Da war sie ganz anders. Sie hatte diesen Fundus genauso, nur sie hat ein rabiates, ein Parlando, ein heutiges Sprechen da einfach so sehr reingebracht, das ist das Tolle. Sie war für mich, als ich als junger Mann das gelesen habe, sie war so, als ob jemand direkt mit mir spricht. Und das im Gedicht, es war fantastisch!
Hanselmann: Wunderbar! 1977 hat Sarah Kirsch die DDR verlassen, Sie haben es angedeutet, sie hatte als Erste – wir heben es noch mal hervor – den Protestbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben und wurde daraufhin sehr angefeindet. Wie haben Sie das damals eigentlich erlebt? Sie selbst sind ja erst 1987 gegangen und sind ja auch, wie Sie selber sagten, etliche Jahre jünger. Sarah Kirsch ist geboren 1935, Sie, glaube ich, 1957.
Kolbe: Na ja, die Biermann-Ausbürgerung eben, die habe ich zur gleichen Zeit, als ich ihre Gedicht als Soldat bei der Armee nach missglückter Wehrdienstverweigerung gelesen habe, da wurde ich zur gleichen Zeit vom Politoffizier … Das war genau in der Zeit, ich war 76 eingezogen, der November kam, ich war am 2. November eingezogen, am 16. war die Ausbürgerung. Und schon wurde ich vom Polithansel da in seine Kammer gerufen, sagen Sie mal, Sie schreiben doch! Ich schrieb damals schon so ein paar Gedichte. Was halten Sie von diesem Biermann? – Und so ging das sofort los! Und na ja, was soll ich sonst sagen, ich hatte selber noch gar nicht veröffentlicht. Also, erst dann sind gleichzeitig von mir Gedichte in der "Sinn und Form" erschienen, die ersten überhaupt. Das ist natürlich eine unerhörte Kluft, aber die Autoren wie Sarah Kirsch und wie ihr Umfeld, die waren natürlich die, von denen habe ich Saft gesogen. Das waren ja meine Leute, das war ja mein Umfeld. Und über die habe ich ja die Tradition sozusagen vermittelt bekommen und kennengelernt. Also, in dem Sinne war das ein enormer Einfluss.
Hanselmann: Wie ist eigentlich, oder sagen wir mal so: Was ist von Sarah Kirschs Haltung zum Sozialismus, von der Utopie, für die sie ja eine Weile lang gelebt hat, eigentlich übrig geblieben? Wie hat sie ihre DDR-Zeit nachträglich gesehen?
Kolbe: Also, ich glaube, von Utopie war da gar nichts. Aber sie ist auch nie zynisch geworden, das gibt es ja auch, man kann das ja auch werden. Sie war radikal, sie war rabiat, sie war moralisch total in dieser Hinsicht. Und der menschliche Verrat hat sie ins Mark getroffen, also das Aktenlesen, was sie ja dann auch getan hat. Da kann man sehr viel von Hans Joachim Schädlich, der ihr sehr nahestand, erfahren, glaube ich, zu diesem Thema. Ich halte sie für eine große Unbestechliche und da kann ihr auch niemand mehr im Nachhinein, konnte ihr auch niemand mehr die DDR schöngucken oder so was, was ja vielfach versucht wird. Also, Ostalgie gab es da überhaupt nicht.
Es gibt gleichzeitig in dem Band, aus dem auch dieses Gedicht "Großer Stern" stammt, "Erdreich" heißt der, damals natürlich auch so Rückblicksgedichte. Sie hatte auf der anderen Seite auch eine Art Milde gegenüber den Kollegen, die dort geblieben sind und so. Sie hat da nicht gerechtet. Aber sie war mit dem, was das war, mit dem sozialistischen Versuch auf deutschem Boden, einfach durch.
Hanselmann: Können Sie mir eine kurze Antwort geben auf die Frage, ob sich ihre Art zu dichten deutlich verändert hat, als sie in den Westen gegangen ist?
Kolbe: Sie war milder. Sie war milder und sie hatte mehr von der Welt, die sie dann auch bereiste und durchreiste und ansah.
Hanselmann: Sie hat, wir haben es erwähnt, in den letzten Jahren sehr zurückgezogen gelebt, in Schleswig-Holstein ganz weit draußen, auch die Öffentlichkeit gescheut. Warum, haben Sie eine Erklärung dafür?
Kolbe: Das würde zu weit führen, wäre reine Spekulation. Sie hatte es sehr gut da auf dem Land. Sie hatte einfach ein Stück Erde gefunden, was auch fruchtbar war die ganze Zeit für sie, im poetischen Sinne. Und so was ist ja toll, wenn man so einen Ort gefunden hat.
Hanselmann: Zum Tode Sarah Kirschs und über diese fantastische Person Sarah Kirsch habe ich mich unterhalten mit dem Lyriker und Prosaautor Uwe Kolbe. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Kolbe: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hören Sie hier einen Nachruf auf Sarah Kirsch von Siegried Wesener