Einfach, schön und erschwinglich

Rainer Erlinger im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.04.2009
Der Publizist Rainer Erlinger hat den moralischen Anspruch der Bauhaus-Bewegung hervorgehoben. Nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine soziale Verbesserung habe den Architekten und Designern vorgeschwebt, betonte Erlinger.
Dieter Kassel: Im März 1919 benannte Walter Gropius die Sächsische Hochschule für bildende Kunst in Weimar um. Von da an hieß sie Staatliches Bauhaus, und das ist der Grund, warum in diesen Tagen groß gefeiert wird – 90 Jahre Bauhaus in Weimar wird natürlich in gefeiert in Dessau und auch in Berlin. Und das ist für manche Menschen vielleicht auch ein Grund, sich bei dieser Gelegenheit doch endlich mal eine Wagenfeld-Leuchte zu kaufen, vielleicht einen Marcel-Breuer-Stuhl oder auch eine Max-Bill-Uhr. Das sind Beispiele von Bauhaus-Entwürfen, die bis heute nach den Originalentwürfen hergestellt werden. Heute aber sind sie ausgesprochen teuer, und damit handelt es sich um Designobjekte für die Besserverdienenden. Das nun wiederum widerspricht den grundsätzlichen Bauhaus-Gedanken eigentlich enorm, denn die Bauhaus-Bewegung, die war auch eine Sozialbewegung. Sie hatte auch sehr vieles, was man durchaus als moralisch bezeichnen könnte. Und genau darüber wollen wir jetzt reden mit dem Publizisten Rainer Erlinger. Er ist vor allem bekannt durch die "SZ-Magazin"-Kolumne, die "Gewissensfrage". Guten Tag, Herr Erlinger!

Rainer Erlinger: Guten Tag!

Kassel: Kann man denn das überhaupt machen, was wir hier vorhaben, moralisch über Design reden? Gibt es denn wirklich so was Gut und Böse zum Beispiel bei einem Sessel oder einem Gebäude?

Erlinger: Also ich behaupte ja, auf jeden Fall, weil ja das Design eigentlich die Kunst ist, die das tägliche Leben bestimmt, wie wir die Umwelt haben, wie wir sie wahrnehmen usw. Und nachdem die Moral ja das ist, was unser Miteinander auch regelt usw., hat das Design immer eine Auswirkung da und man muss immer sehen, dass das Ganze nicht nur schön und Hässlichkeit sein kann, sondern auch tatsächlich gut und nicht nur schlecht, sondern auch böse.

Kassel: Und in diesem Sinne, vermute ich mal, ist in Ihren Augen schon die Bauhaus-Architektur eine gute Architektur und das Bauhaus-Design ein gutes?

Erlinger: Also es ist etwas, was mir persönlich gefällt, aber darum geht es ja hier jetzt nicht, sondern es geht um die Frage, was sollte zum einen dieses Design bezwecken, und zum anderen, was hat es dann auch geschafft. Und der Zweck, der dahintersteht, diese Intention des Bauhauses, das war eindeutig eine moralische Intention, denn es ging um die Verbesserung der Lebensumstände.

Kassel: Ich habe schon gesagt, wenn wir heute diese Originalentwürfe – wenn sie ganz alt sind, sind sie sowieso unglaublich teuer, aber selbst als heute gebaute sind das Luxusobjekte. Aber das Bauhaus wollte im Grunde genommen genau das Gegenteil: Es wollte praktisch und trotzdem schön und eigentlich günstig.

Erlinger: Ja, das war so auch von Gropius die Intention, dem Gründungsdirektor, dass er sagte, er möchte Übertypen schaffen, indem er standardisiert, das gute Design zum einen erschwinglich machen und zum anderen auch klar machen. Und dieses Erschwingliche für die Massen sollte dann eben die Möglichkeit sein, zum einen Lampe, die gutes Licht macht, zu bekommen – im Gegensatz zu schlechteren Lampen, die nicht so hell sind usw. –, aber auch dabei zugleich eine schönere Lampe für die Massen zu schaffen. Das war seine doppelte Intention: einmal eine soziale Verbesserung und aber auch eine ästhetische. Und deswegen ist das ganz klar ein moralischer Anspruch.

Kassel: Dieser Anspruch konnte nur eingelöst werden durch ein gewisses, ein sogar hohes Ausmaß an Standardisierung, an Normisierung. Und wenn wir da an die Architektur denken, dann ist es doch vermutlich nicht ganz falsch, wenn manche Kritiker auch sagen, die Bauhaus-Architektur hat, zumindest teilweise, den Weg bereitet für die Plattenbauarchitektur vieler kommunistischer Staaten, die wir später erlebt haben im 20. Jahrhundert, gab’s auch im Westen Dinge wie die Gropius-Stadt, die einst hoch gefeiert wurden und heute überwiegend soziale Brennpunkte sind. Ist das systemimmanent, wenn wir jetzt mal nur bei der Architektur bleiben, wenn man so stark standardisieren will, dass man doch dann auch in eine Art Gleichmacherei gerät?

Erlinger: Also es ist natürlich immanent. Gropius hat diese Problematik auch schon gesehen, denn er hat in seinen Grundsätzen der Bauhaus-Produktion einen Artikel geschrieben und meinte, man dürfte das nicht befürchten, denn es würde trotz der Typisierung, Standardisierung immer noch eine genügende Auswahl geben, um den Menschen eine Variationsmöglichkeit zu eröffnen. Das geht natürlich dann nicht, wenn diese Auswahl – da hatte Gropius wahrscheinlich den Markt tatsächlich im Kopf –, wenn das Ganze von zentralistischer Stelle jetzt eben in den sozialistischen Staaten dann einfach starr vorgegeben wird und dann diese Standardisierung und Typisierung zu einer beherrschenden Masse wird. Dann ist es tatsächlich ein Problem. Und ich habe den Eindruck, die Menschen sehnen sich ja immer danach, nach individuellen Dingen, es scheint ein bisschen so einen Horror-Uniformi zu geben, also so eine Angst vor der Monotonie und Gleichheit. Wenn man heutzutage Anzeigen sich ansieht für Eigentumswohnungen, dann steht da "individuelle Grundrisse". Was habe ich denn davon, dass mein Bad an einer anderen Stelle ist als in der Wohnung drüber oder drunter? Das soll an einer guten Stelle sein, wo die Wohnung gut funktioniert. Aber da scheint es ein Bedürfnis der Menschen zu geben. Und wenn man das sieht, muss man sagen, da hat tatsächlich das Bauhaus mit dieser Idee, die dann verfolgt wurde in den sozialistischen Ländern, vor allem auch diese Standardisierung, tatsächlich ein bisschen einen Weg in eine falsche Richtung ermöglicht und geebnet vielleicht sogar.

Kassel: Es stellt sich ja nicht nur bei der Architektur – aber da kann man es, glaube ich, besonders bildlich auch klar machen – auch die Frage, inwieweit ein Designer – und nichts anderes waren die Bauhaus-Leute – oder ein Architekt, aber vom Aussehen her nennen wir es Designer, etwas vorschreiben darf. Nehmen wir zum Beispiel jetzt mal die berühmten Meisterhäuser in Dessau. Wenn man da heute durchläuft, die sind ziemlich zugänglich und nicht nur im Jubiläumsjahr, dann findet man das teilweise sogar gemütlich, sagt sich, oh ha, so schöne Badezimmer damals schon. Aber auf der anderen Seite war es für damals sehr modern und ist ja zum Teil auch nicht angenommen worden von den Leuten, die es haben wollen. Jetzt moralisch, damit beschäftigen Sie sich, hat denn ein Designer das Recht, mir vorzuschreiben, was für mich das ideale Haus, der ideale Sessel und die ideale Leuchte ist?

Erlinger: Da gibt es tatsächlich auch innerhalb der Designtheorie zwei Lager, da gibt es eine große Diskussion drüber. Die einen sagen, der Designer hat eine Aufgabe, eine soziale Aufgabe, er hat auch eine moralische Verpflichtung, dass er gute Dinge tut, dass er in eine Richtung arbeitet, die das Zusammenleben verbessert, also eine ethisch richtige Richtung. Die anderen sagen, nein, der Designer darf kein Hoher Priester des Geschmacks werden und den Leuten das alles vorschreiben. Ich denke, dass man da beide Aspekte mit hineinnehmen muss. Wenn ein bestimmter Teil des Marktes, wenn man es mal so nennt, monopolisiert ist, dass also sozusagen der Designer über sein Design bestimmt, was alle dann nur haben können, dann muss er sich natürlich nach den Wünschen auch der Menschen richten. Wenn allerdings der Markt offen ist und man die Menschen, die das haben wollen, es sich aussuchen können, dann hat natürlich jeder Designer auch diese Aufgabe zu sagen, nein, das, was ich mache, sollte auch möglichst gut sein und es soll auch das Zusammenleben und das Leben der Menschen befördern und nicht schlechter machen. Man kann sich nicht, egal welchen Beruf man hat, zurückziehen und sagen, ich mache nur das, was die Leute von mir wollen. Ganz böse ausgedrückt: Es kann sich ja auch nicht ein Produzent von Landminen drauf berufen, dass er schließlich die Taktik der Krieg führenden Parteien nicht beeinflussen will.

Kassel: 1933 gab es aus politischen Gründen das Ende des Staatlichen Bauhauses. Der Gedanke, die Bewegung, die Philosophie war damit natürlich nicht zu Ende, das gibt es in manchen Köpfen bis heute. Was ist denn heute übrig von der Philosophie?

Erlinger: Also ich glaube, es ist zum einen natürlich diese, worüber wir schon gesprochen haben, diese Idee, diese Standardisierung, diese Einfachheit. Es ist übrig geblieben diese Klarheit, die ja auch verfolgt wurde. Und es ist übrig geblieben dieser Ansatz, der eigentlich ja einer der zentralen war, dass sich Handwerk und Kunst oder industrielle Produktion und Kunst nicht trennen sollen, sondern dass man sagen muss, auch bei der Herstellung im industriellen Bereich soll ein hoher Standard an ästhetischer und funktionaler Qualität erreicht werden. Dass das vielleicht heutzutage auch nicht mehr so gut funktioniert, das ist was anderes, aber diese Idee, die hat sich, glaube ich, erhalten, dass man das versuchen sollte.

Kassel: Ein Grundproblem, was wir noch nicht erwähnt haben, ist dieses Zusammenführen von Kunst und Handwerk, das ja auch zur Grundphilosophie des Bauhauses gehörte. Nun muss man ja heute sagen, die Frage stellt sich so ja nicht mehr, weil ja die Herstellung von zum Beispiel Möbeln in großer Stückzahl kein Handwerk ist, das ist ja eine Industrie. Aber ist dadurch die Trennung heute wieder da – auf der einen Seite haben wir die Kunst bei geringen Stückzahlen, auf der anderen Seite haben wir nur noch Massenproduktion?

Erlinger: Nein, das war ja eigentlich dieser Ansatz, nehmen wir jetzt zum Beispiel diese berühmten – bei der Wagenfeld-Leuchte, die man so kennt, da sieht man schon, die ist schon sehr diffizil und sehr fein ausgearbeitet. Aber zum Beispiel nehmen wir mal diese klassischen Freischwingersessel, die aus Stahlrohr geformt waren – das war ja genau diese Idee, dass man sagt: In Zukunft werden die Möbel in der Industrieproduktion gestaltet, wie machen wir Möbel, dass sie, obwohl sie industriell einfach herzustellen sind, trotzdem schön und funktional sind? Und dann kamen da eben diese Entwürfe raus, zum Beispiel dieser Freischwingersessel.

Kassel: Reden wir jetzt in Bezug auf das Heute auch noch mal über Gut und Böse. Sie sind ja einer der wenigen, mit denen man das darf. Sie haben schon ein bisschen definiert, da waren wir aber noch beim historischen Bauhaus, was gutes Design ist, gute Entwürfe. Was ist das heute? Ich meine, ich kann mir das Böse relativ leicht vorstellen – ich nehme an einen Entwurf, der nur realisierbar ist mithilfe von Kinderarbeit, mithilfe von chemischen Giften. Wir reden darüber heute zu Recht fast täglich. Das ist das Böse. Was ist im Umkehrschluss das Gute heute?

Erlinger: Beim Design muss man, denke ich, unterscheiden, bei der Frage gutes und böses Design oder ethisch hochwertiges oder verwerfliches Design. Zum einen, was Sie angesprochen haben, das nenne ich diese materialen Seiten, also wie wird es hergestellt, aus welchen Materialien ist es, belastet es die Umwelt bei der Produktion, beim Gebrauch, bei der Entsorgung. Aber auf der anderen Seite stehen auch noch diese ästhetisch-symbolischen Aspekte des Designs, die ja genauso da sind. Und auch da kann ein Design, denke ich, positive und negative Auswirkungen haben. Also ein Beispiel wären zum Beispiel für mich jetzt diese SUVs, die Sport Utility Vehicles, diese …

Kassel: … Geländewagen für die Straße.

Erlinger: Da ist natürlich die Diskussion auf der einen Seite gefährlich für die Umgebung und hoher CO2-Ausstoß, Umweltverpestung usw. Das ist der materiale Teil. Da gibt es aber noch einen zweiten, nämlich diese Formensprache dieser Autos. Die beinhaltet Macht, die beinhaltet einen Raumgreifungsanspruch. Und wenn man sich das ansieht, was das bewirkt in einer Gesellschaft, dass die Menschen, die sich etwas leisten können, gegenüber denen, die sich weniger leisten können, auch noch zeigen, ich kann mehr Platz beanspruchen, ich sitze höher, ich schaue auf dich herab, dann führt das zu einer gefährlichen, wie soll man sagen, Verwerfung in unserer Gesellschaft. Und ich glaube, dass wir hier aufpassen müssen, weil eine der großen Vorzüge, die wir in unserer deutschen Gesellschaft haben, ist, dass sie relativ homogen ist im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Und dass hier so ein Design sozusagen die Probleme, die innerhalb der Gesellschaft bei uns auch bestehen, auch noch betont und Unterschiede stärker herausarbeitet, ist ein ethisch verwerfliches Design, also ein böses Design.

Kassel: An dieser Stelle knipsen wir die Wagenbach-Lampe aus, denn der Blick auf meine Max-Bill-Uhr hat gezeigt, wir haben alles gesagt, was wir in der Kürze können. Ich danke Ihnen! Rainer Erlinger war das, Publizist, bekannt aus der Kolumne im Magazin der "Süddeutschen Zeitung", die "Gewissensfrage", über die moralischen Ansprüche der Bauhaus-Bewegung und darüber, was daraus geworden ist. Gefeiert wird mit Sicherheit, ethisch einwandfrei hoffe ich, und zwar ganz groß in Weimar heute auf dem Campus der Bauhaus-Universität, dort aber auch die ganze Woche über und außerdem selbstverständlich auch in Dessau und in Berlin.