Einfühlsame Tabubrecherin
Die Schilderung weiblicher Sexualität ist nicht erst seit Charlotte Roche großes Literaturthema. Die Belle-Epoque-Autorin Colette galt als Skandalschriftstellerin, obgleich sie auf sehr subtile Art über Lust und Liebe schrieb. Neu übersetzt erschienen ist nun ihr Roman "Erwachende Herzen": ein Kulturjuwel von ungewöhnlicher Leichtigkeit.
Wer sich in letzter Zeit jener weiblichen Exhibitionsliteratur ausgesetzt hat, die gegenwärtig nicht nur in Frankreich Furore macht, mag mit einer gewissen Wehmut an die Belle-Epoque-Schriftstellerin Colette gedacht haben, mit der diese Strömung einst ihren Anfang nahm. Doch wie dezent und delikat ist die Schilderung weiblichen Begehrens, weiblicher Sexualität und weiblichen Rechts auf erotische Selbstverwirklichung bei der großen Colette im Gegensatz zu ihren alles gebenden und alles aussprechenden späten Nachfahrinnen à la Catherine Millet oder Charlotte Roche!
Colette, geboren 1873 und damit zwei Jahre jünger als Proust, hat, weiß Gott, in ihrer Zeit auch Skandal gemacht. Ungebührlich fand man damals den Freimut, mit dem diese Autorin in ihren Büchern (aber natürlich nicht minder auch in ihrem wirklichen Leben) für sich in Anspruch nahm, was die "Herren der Schöpfung" seit Jahrhunderten bereits betrieben, nämlich die Trennung von Liebe und Sexualität, das Ernstnehmen von Triebwünschen und ihr Umsetzen in möglichst lustvolle Taten.
Wenn Colette in einem ihrer berühmtesten Romane, "Mitsou", 1919 ein Revuetheater-Mädchen im Angesicht ihres Galans lauthals in den Jubelschrei ausbrechen lässt "Fein, fein, wir wollen uns lieben" und die Autorin danach minutiös beschreibt, wie dieses freudige Ereignis in der Theatergarderobe vonstatten geht, ohne dass im Geringsten davon die Rede ist, dass wir hier einem Beischlaf beiwohnen, der dermaleinst durch den heiligen Stand der Ehe legitimiert werden wird, dann war das für die Zeitgenossen ebenso starker Tobak wie heutzutage die detailfreudige Schilderung weiblicher "Feuchtgebiete" und ihrer Aggregatzustände, mit denen uns Charlotte Roche beglückt.
Nur handelt es sich eben bei Colette, die nicht von ungefähr das erste weibliche Mitglied der Académie Goncourt und am Ende ihres Lebens auch deren erste weibliche Vorsitzende war, um eine große Stilistin, um eine großartige Heraufbeschwörerin der Regungen der Seele wie der Sinne. Diese Eigenschaften gehen auch aus einem anderen Roman hervor, den jetzt der Manesse-Verlag in sensibler Neuübersetzung von Stefanie Neumann und versehen mit einem informativen und textanalytisch kundigen Nachwort von Meike Feßmann auf den Markt bringt.
"Erwachende Herzen" heißt der kleine Roman, der in Frankreich erstmals 1923 erschien. Damals war Colette bereits eine gefeierte, wenngleich nicht unumstrittene Autorin, die nicht zuletzt ihrer wechselnden Liebesaffären, die Männern wie Frauen galten, immer wieder auch in den Klatschspalten von sich reden machte. Soeben hatte sie eine Amour mit ihrem Stiefsohn Bertrand de Jouvenel erlebt, dem Sohn aus erster Ehe ihres zweiten Mannes Henry de Jouvenel, eines politischen Publizisten, der kurze Zeit später die Seiten wechseln und, protegiert von Poincaré, auch in der politischen Arena Erfolge feiern sollte.
Bertrand, der Sohn, war 16 Jahre alt, als die über 40 Jahre alte Erfolgsschriftstellerin ihm ihre Gunst zuwandte. Das Erlebnis scheint sie tief und nachhaltig beschäftigt zu haben. Jedenfalls ist sehr selten der zauberhafte jungmännliche Schmelz eines 16-jährigen Jungen auf der Schwelle zur Mannbarkeit so subtil und einfühlsam in Literatur eingegangen wie in dieser kammerspielartigen Geschichte.
In "Erwachende Herzen" geht es um die erwachende Liebe zwischen dem 16-jährigen Phil und der 15-jährigen Vinca. Seit Jahr und Tag verbringen die beiden samt ihrer Familien die Sommerferien an der bretonischen Küste. Aber dieses Jahr ist alles anders. In die kindlichen Spiele mischen sich mehr und mehr halbbewusste erotische Machtspielchen, Eifersüchteleien, Verführungs- und Bestrafungsgelüste, die auf jenes Lebensalter hindeuten, die Pubertät nämlich, die im Französischen so sinnfällig "l’age ingrat" genannt wird.
Vinca kommt dabei die Rolle der Kindlicheren zu, des Mädchens, das durch seine angeborene Eigenschaft der Geduld, im großen Ganzen noch einigermaßen gut zurechtkommt mit der Situation. Phil jedoch ist ungestüm und ein Opfer seiner Triebe. Er bekommt auch schließlich, was er will - aber durch eine dritte Person, eben durch jene "dame blanche", in der Colette wohl auch ein diskretes Selbstporträt gegeben hat.
Es handelt sich bei dieser Madame Dalleray um eine schon reife Frau, die im Roman keine andere Funktion hat, als für Phil und mit ihm jenen "rite de passage" zu vollziehen, der ihm das nötige Selbstbewusstsein verleiht, nun auch auf seine ganz speziell fordernde Weise gleichfalls auf Vica zuzugehen. Denn im Grunde geht es Phil ja nicht um Madame, sondern um seine kleine Freundin. Ein Liebesreigen kommt in Gang, der, ganz an die sommerliche Kulisse angepasst, daherkommt in seiner Leichtigkeit und Heiterkeit, ohne dass die Autorin dabei aus den Augen verlieren würde, wie elementar und schicksalsschwer die erotische Erfahrung ist, die hier im Mittelpunkt steht.
Ein Juwel französischer Psychologenliteratur ist wieder zugänglich geworden.
Rezensiert von Tilman Krause
Colette "Erwachende Herzen"
Manesse, München 2008
300 Seiten, 17,90 Euro
Colette, geboren 1873 und damit zwei Jahre jünger als Proust, hat, weiß Gott, in ihrer Zeit auch Skandal gemacht. Ungebührlich fand man damals den Freimut, mit dem diese Autorin in ihren Büchern (aber natürlich nicht minder auch in ihrem wirklichen Leben) für sich in Anspruch nahm, was die "Herren der Schöpfung" seit Jahrhunderten bereits betrieben, nämlich die Trennung von Liebe und Sexualität, das Ernstnehmen von Triebwünschen und ihr Umsetzen in möglichst lustvolle Taten.
Wenn Colette in einem ihrer berühmtesten Romane, "Mitsou", 1919 ein Revuetheater-Mädchen im Angesicht ihres Galans lauthals in den Jubelschrei ausbrechen lässt "Fein, fein, wir wollen uns lieben" und die Autorin danach minutiös beschreibt, wie dieses freudige Ereignis in der Theatergarderobe vonstatten geht, ohne dass im Geringsten davon die Rede ist, dass wir hier einem Beischlaf beiwohnen, der dermaleinst durch den heiligen Stand der Ehe legitimiert werden wird, dann war das für die Zeitgenossen ebenso starker Tobak wie heutzutage die detailfreudige Schilderung weiblicher "Feuchtgebiete" und ihrer Aggregatzustände, mit denen uns Charlotte Roche beglückt.
Nur handelt es sich eben bei Colette, die nicht von ungefähr das erste weibliche Mitglied der Académie Goncourt und am Ende ihres Lebens auch deren erste weibliche Vorsitzende war, um eine große Stilistin, um eine großartige Heraufbeschwörerin der Regungen der Seele wie der Sinne. Diese Eigenschaften gehen auch aus einem anderen Roman hervor, den jetzt der Manesse-Verlag in sensibler Neuübersetzung von Stefanie Neumann und versehen mit einem informativen und textanalytisch kundigen Nachwort von Meike Feßmann auf den Markt bringt.
"Erwachende Herzen" heißt der kleine Roman, der in Frankreich erstmals 1923 erschien. Damals war Colette bereits eine gefeierte, wenngleich nicht unumstrittene Autorin, die nicht zuletzt ihrer wechselnden Liebesaffären, die Männern wie Frauen galten, immer wieder auch in den Klatschspalten von sich reden machte. Soeben hatte sie eine Amour mit ihrem Stiefsohn Bertrand de Jouvenel erlebt, dem Sohn aus erster Ehe ihres zweiten Mannes Henry de Jouvenel, eines politischen Publizisten, der kurze Zeit später die Seiten wechseln und, protegiert von Poincaré, auch in der politischen Arena Erfolge feiern sollte.
Bertrand, der Sohn, war 16 Jahre alt, als die über 40 Jahre alte Erfolgsschriftstellerin ihm ihre Gunst zuwandte. Das Erlebnis scheint sie tief und nachhaltig beschäftigt zu haben. Jedenfalls ist sehr selten der zauberhafte jungmännliche Schmelz eines 16-jährigen Jungen auf der Schwelle zur Mannbarkeit so subtil und einfühlsam in Literatur eingegangen wie in dieser kammerspielartigen Geschichte.
In "Erwachende Herzen" geht es um die erwachende Liebe zwischen dem 16-jährigen Phil und der 15-jährigen Vinca. Seit Jahr und Tag verbringen die beiden samt ihrer Familien die Sommerferien an der bretonischen Küste. Aber dieses Jahr ist alles anders. In die kindlichen Spiele mischen sich mehr und mehr halbbewusste erotische Machtspielchen, Eifersüchteleien, Verführungs- und Bestrafungsgelüste, die auf jenes Lebensalter hindeuten, die Pubertät nämlich, die im Französischen so sinnfällig "l’age ingrat" genannt wird.
Vinca kommt dabei die Rolle der Kindlicheren zu, des Mädchens, das durch seine angeborene Eigenschaft der Geduld, im großen Ganzen noch einigermaßen gut zurechtkommt mit der Situation. Phil jedoch ist ungestüm und ein Opfer seiner Triebe. Er bekommt auch schließlich, was er will - aber durch eine dritte Person, eben durch jene "dame blanche", in der Colette wohl auch ein diskretes Selbstporträt gegeben hat.
Es handelt sich bei dieser Madame Dalleray um eine schon reife Frau, die im Roman keine andere Funktion hat, als für Phil und mit ihm jenen "rite de passage" zu vollziehen, der ihm das nötige Selbstbewusstsein verleiht, nun auch auf seine ganz speziell fordernde Weise gleichfalls auf Vica zuzugehen. Denn im Grunde geht es Phil ja nicht um Madame, sondern um seine kleine Freundin. Ein Liebesreigen kommt in Gang, der, ganz an die sommerliche Kulisse angepasst, daherkommt in seiner Leichtigkeit und Heiterkeit, ohne dass die Autorin dabei aus den Augen verlieren würde, wie elementar und schicksalsschwer die erotische Erfahrung ist, die hier im Mittelpunkt steht.
Ein Juwel französischer Psychologenliteratur ist wieder zugänglich geworden.
Rezensiert von Tilman Krause
Colette "Erwachende Herzen"
Manesse, München 2008
300 Seiten, 17,90 Euro