Quantenphysik im Theater
Das Berliner Ensemble und das Schauspiel Dortmund eröffnen die Spielzeit mit einem völlig neuartigen Projekt: Einer Simultan-Uraufführung von "Die Parallelwelt", die zeitgleich in Berlin und Dortmund stattfindet. Stefan Keim war in Dortmund dabei, Tobi Müller in Berlin.
Dortmund (von Stefan Keim)
Eine große Projektionswand steht auf der Bühne. Meist wird sie in vier, oft auch in zwei Bildebenen unterteilt. Vorhänge gehen hoch, die von Kameras gefilmte Live-Szenerie wird sichtbar. Während das Geschehen auf der anderen Bühne stets sichtbar und hörbar bleibt. Das Dortmunder Schauspiel und das Berliner Ensemble zeigen "Die Parallelwelt", ein Stück von Kay Voges, Alexander Kerlin und Eva Verena Müller, in dem Schauspieler auf eine Entfernung von 420 Kilometer Luftlinie live miteinander agieren. Verbunden sind sie per Glaskabel auf der Datenautobahn, die Verzögerungen bei Bild und Ton sind miminal.
Es geht nicht um technische Spielereien
Schon vor Beginn winken die Zuschauer aus Dortmund und Berlin sich zu, mit sehr kleinen Ausnahmen funktioniert die Technik ausgezeichnet. Doch das ist nicht die hauptsächliche Qualität dieser Aufführung. Kay Voges geht es nie nur um technische Spielereien, der Mensch steht im Mittelpunkt. "Die Parallelwelt" erzählt das Leben eines Mannes namens Fred. In Berlin geht es chronologisch von der Geburt bis zum Tod, in Dortmund ist die Reihenfolge umgekehrt. In der Mitte, der Hochzeit, treffen sich die Zeitebenen. Vorher gab es kurze, gespenstische Ahnungen der anderen, die auch schon zu berührenden Bildern führten. Zum Beispiel wenn Fred in seiner Altersheimtrostlosigkeit aus dem Fenster schaut und dort sich selbst als Kind wahrnimmt.
Auf der Hochzeit explodiert die Aufführung, wird zur aggressiv-philosophischen Komödie. Die Bräute schauen sich an, beide gleich gekleidet und frisiert, in Dortmund und Berlin. Annika Meier in der Hauptstadt rastet aus, will es nicht hinnehmen, dass sie im schönsten und individuellsten Moment ihres Lebens eine Doppelgängerin hat. Während Bettina Lieder in Dortmund obwohl ihr das sehr schwer fällt auf der Erkenntnis herum kaut, dass sie nicht so originell und originär ist wie sie dachte.
Anarchische Verhältnisse, die keinen Regeln gehorchen
"Die Parallelwelt" ist Quantenphysik auf dem Theater. In der Mikrowelt der kleinsten Teilchen gibt es Raum und Zeit nicht wie wir sie kennen, die Verhältnisse sind anarchisch, gehorchen keinen Regeln. Das haben die Autoren Voges, Kerlin und Eva Verena Müller – die in vorproduzierten Videos auch als schräger, weiser Samiel zu sehen ist, eine Figur aus Kay Voges Hannoveraner "Freischütz"-Inszenierung – für die Makroebene durchgespielt. Ein zutiefst menschlicher, nachdenklicher und unterhaltender Abend.
Berlin (von Tobi Müller)
Im Berliner Ensemble wird ein Kind geboren, im Schauspiel Dortmund stirbt gleichzeitig ein Mann. Es ist Fred, dieselbe Person. Das Publikum in Berlin sieht den expressionistisch hart gefilmten Tod auf der Leinwand, die Geburt auf der Bühne und auch noch einmal im realistischer ausgeleuchteten Video. In Dortmund ist es andersrum.
Denn "Die Parallelwelt" ist eine Simultanaufführung mit zwei Ensembles, viel Technik und einer zentralen Idee: Was wäre, wenn Einstein Recht gehabt hätte, wir gleichzeitig an zwei Orten gleichzeitig sein könnten und wenn die Zeit sich krümmte? Der technisch aufwendige Abend in der Regie des Dortmunder Schauspielchefs Kay Voges variiert diesen Gedanken während zwei bilderberauschten Stunden und überprüft, was er für das Theater bedeutet.
So kompliziert, wie es klingt, sind weder der Gedanke noch die Inszenierung. Die Digitalisierung verändert das Raumgefühl im Alltag von allen mit Internetzugang, und die Zeit und ihre Archive verhalten sich nicht zwingend linear, wenn alles schnell und gleichzeitig abgerufen werden kann. Relativität ist eine Alltagserfahrung.
Die Geschichte folgt Fred von zwei Seiten. Er verliebt sich. Hier ist er zärtlich, dort schroff. Als er in der Mitte des Abends heiratet, nehmen sich die zwei Ensembles gegenseitig wahr, sie erkennen ihre Doppelgänger. Nach vielen Szenen, die zwar wunderschön gerahmt, gespielt und technisch gelöst sind, aber auch vorhersehbar und wiederholend im Sinne von redundant das Verdoppelungsmotiv ausbreiten, verlässt der Abend in der wuseligen Hochzeitsszene den allzu raunenden Ton und gewinnt an Tiefe.
Gerade in der hochtourigen Komik der Hochzeit gerät die Kränkung in den Fokus. Die Kränkung, womöglich nicht einzigartig zu sein. Wer ist nun die Tapete von wem? Berlin als Hintergrund für das Ruhrgebiet, ha! Eine Braut, die aussieht wie die andere? Ein Publikum sogar, das sich verdoppelt, wie beim Scherz mit Zwillingen, wo die eine in Berlin, die andere in Dortmund sitzt? Hier haben die Schauspielerinnen und Schauspieler lange Leine und sie nutzen sie.
Höchstleistungsvideotheater zeigt Grenzen des Theaterraumes auf
Meistens ist einfach wahnsinnig viel los, als herrsche eine Angst vor der Leere. Dabei wäre genau dieser Horror einer von vielen Schmerzpunkten. In der Psychoanalyse von Freud spielen Doppelgänger und unheimliche Ähnlichkeiten eine große Rolle in der Verdrängungsleistung. Oder Kleists "Amphitryon" zittert, durchaus komisch, vor dem Abgrund, der in der Verdoppelung klafft – "Die Parallelwelt" orientiert sich da eher an "Zurück in die Zukunft" oder "Yellow Submarine", also an Filmen und Stoffen, die psychedelisch grundiert sind, mit Humor arbeiten, weil das mit LSD einfach besser geht, dabei aber eigentlich immer nur eines sagen: Wow, irre. Wahnsinn. Nichts gegen das Staunen und das Lachen, beides sind ja nicht Dauergäste im deutschen Theater. Aber irgendwann hat ausgestaunt, wer keine Drogen nimmt.
Deshalb überzeugt der Bilderabend dann am meisten, wenn er statt die Idee abermals zu visualisieren, zu konkreten und sehr lustigen Situationen findet. Tod, Kot, Schreie und ein verschmiertes Neugeborenes, nun gut, wir werden halt geworfen, erst auf die Welt und dann in die Grube. Aber was Currywurste in Bochum (Dönninghaus im Bermuda Dreieck, sehr zu empfehlen) oder Konnopke in Berlin mit Entsubjektvierung, dem Raum-Zeit-Kontinuum und virtuellem Theater zu tun haben, da muss man erst drauf kommen.
Am Ende stellt sich ein paradoxer Effekt ein, vielleicht rührt er von den Schauspielern: Das Höchstleistungsvideotheater hat die Grenzen des Theaterraumes erweitern wollen und sie dadurch erst sichtbar gemacht. Am Ende hat man das Gefühl, Voges und Co. halten ein Plädoyer für die analoge Bühne. Gleichzeitig.