Einsamkeit

Wenn das soziale Netz reißt

29:42 Minuten
Ein Mann sitzt alleine auf einem Steg am See.
Deutlich mehr Männer als Frauen sind von Einsamkeit betroffen. © imago/ Photocase
Von Susanne Billig und Petra Geist |
Audio herunterladen
Nie war es so leicht, mit anderen in Kontakt zu kommen, doch immer mehr Menschen fühlen sich einsam. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Woran liegt das? Und welche Wege führen aus der Isolation?
Wind fegt über eine leere Landschaft. Symbole. Es gibt eine Insel, die Einsamkeit heißt. Sie liegt im Nordpolarmeer, zwanzig Quadratkilometer groß, menschenleer, im Winter vom Packeis eingeschlossen. Oder die Bilder des Malers Edward Hopper: Gebäudefronten an drückend-heißen Sommertagen. Erschöpfte Menschen, deren leerer Blick nach innen fällt. "Ich bin bewohnt von einem Schrei", schrieb die Dichterin Silvia Plath. Die gebürtige Inderin Mini Kapur hat für sich ein eigenes Bild gefunden:
"Es ist ein schwarzer Raum und du weißt gar nicht, wo der Ausgang ist. Du siehst keinen Ausgang. Für mich war es das. Und du sitzt wie ein kleines Mädchen in diesem Raum, das sich gar nicht entscheiden kann. So ist das."
Alleinsein kann angenehm sein, sogar bewusst gewählt werden. Doch wenn es weh tut und quält, wenn es den Brustkorb einschnürt, manchmal mitten unter Menschen – dann ist es Einsamkeit.
"Manchmal hat sie auch was Peinliches. Wenn du nämlich in einer großen Gruppe stehst – und du stehst da so ganz alleine. Alle anderen sind irgendwie in Gemeinschaft, lachen, und ich sitze da – dann hab ich eher das Gefühl, mich zunehmend unbehaglicher zu fühlen."
Das erzählt Hedy Gerstung, die in einem Kinderheim unter dem grausamen Kuratel katholischer Nonnen aufwuchs.

Sich von anderen schmerzhaft getrennt fühlen

Anflüge von Einsamkeit kennt jeder: Als Kind am Rand eines Spiels zu stehen, ohne eingeladen zu sein. Am neuen Arbeitsplatz sitzen die Kollegen in der Kantine zusammen, kein Stuhl ist mehr frei. Sich von anderen schmerzhaft getrennt zu fühlen, gehört zur evolutionären Grundausstattung.
Dabei werden sogar dieselben Hirnareale aktiviert wie bei körperlichen Schmerzen. Wie Hunger oder Durst ist Einsamkeit ein Warnsignal, betont der weltweit angesehene US-Psychologe John Cacioppo in seinem Buch "Einsamkeit" über seine Forschung.
Während die Depression einen Menschen ausbremst, will die Einsamkeit das "soziale Tier" Mensch aktivieren und zurück in die schützende Gruppe treiben. Die meisten Menschen finden tatsächlich schnell wieder Anschluss. Forscher nennen diesen Impuls "reaffiliation motive", "Wiederangliederungsmotiv". Gefährlich und chronisch wird Einsamkeit, wenn das aus eigener Kraft nicht mehr gelingt. Ein Teufelskreis: Der Einsame wird immer verstörter – seine Umgebung zieht sich befremdet zurück.

Man unterscheidet "emotionale" und "soziale" Einsamkeit

Zwei Grundformen der Einsamkeit unterscheidet die Psychologie. Ein "emotional einsamer" Mensch kann selbst einer geliebten Person nicht mehr nah sein. Das erlebte die Krankenschwester Marianne Osten, als ihr Mann sie plötzlich verließ.
"Ich habe mich dann in die Arbeit gestürzt, viel Nachtdienste gemacht in der Zeit, bewusst auch, weil ich gedacht habe, ich halte die Nächte nicht aus. Das war ganz schwierig, dass ich halt wusste, mein Mann ist bei dieser andern, das war auch so eine permanente Dauertraurigkeit irgendwie. Man zieht sich ja dann, oder ich hab mich ja dann zurückgezogen, ja, und ich wollte die anderen halt auch nicht nerven, die anderen Leute."
Eine Krankenschwester geht über den ansonsten leeren Flur einer Neugeborenen-Station.
Nach einer Trennung habe sie sich in die Arbeit gestürzt, sagt die Krankenschwester Marianne Osten.© picture alliance / dpa / Boris Roessler
"Soziale Einsamkeit" nennt man das schmerzliche Gefühl, nicht dazu zu gehören, als stünde man hinter einer unsichtbaren Wand. Mini Kapur wanderte vor vielen Jahren von Indien nach Deutschland ein. In ihrer Heimat angesehen und erfolgreich, stand sie plötzlich als Niemand in einer fremden Kultur.
"Weil, ich komme aus Indien – tausend Leute um dich jeden Tag, und auf einmal bist du wirklich einsam gewesen. Nur eins. Allein. Und das kannte ich nicht. Und damit umzugehen war ein langer Prozess. Ich konnte nicht verstehen, was mit mir los ist. I am a highly educated woman, erfolgreich – und auf einmal: nichts funktioniert."
Bislang gibt es nur wenige Studien über die kulturelle Dimension der Einsamkeit. Offenbar reagieren Menschen umso stärker, je mehr ihre Gesellschaft auf Gemeinschaft ausgerichtet ist – in Spanien sind alte Leute schneller einsam als in Schweden, in den USA junge Menschen ohne Liebesbeziehung schneller als in Korea. Nicht die reale soziale Isolation zählt, sondern das subjektive Gefühl, dass vertraute, innige Beziehungen fehlen. Der Soziologe Janosch Schobin, Dozent an der Universität Kassel.
"Es ist in Deutschland verglichen mit anderen Ländern vergleichsweise glimpflich abgelaufen. Es scheint sich auch nicht, wenn man sich die Daten anguckt, auszuweiten. In Deutschland sind es so ungefähr fünf Prozent der Leute, die sich die meiste Zeit einsam gefühlt haben in der letzten Woche – in Russland sind es ungefähr dreimal so viele, ungefähr 15 Prozent."

Männer leiden häufiger unter Einsamkeit

Fünf Prozent aller Deutschen rücken Einsamkeit immerhin in die Größenordnung drängender sozialer Probleme wie das der Arbeitslosigkeit. Wer sind diese einsamen Menschen? Nach einer bundesweiten Studie von 2014 gibt es mehrere Einsamkeitstypen. Zum Beispiel die "Workaholics" – junge Menschen, die sich in ihre Arbeit vergraben. Oder die "Verletzlichen" – zu 70 Prozent Frauen –, die aus Angst Beziehungen vermeiden.
Singles sind, wenig überraschend, einsamer als Menschen in einer Beziehung. Interessanterweise macht es keinen Unterschied, ob sie Kinder haben oder nicht. Männer leiden deutlich häufiger als Frauen, obwohl sie an ihr soziales Leben viel geringere Ansprüche stellen, weder ein großes Freundschaftsnetz brauchen noch häufig Gefühle austauschen möchten. Ihnen ist vor allem wichtig – eine Partnerin.
"Wenn was in der Partnerschaft beispielsweise passiert wie jetzt eine Verwitwung – Frauen erholen sich da viel schneller und das liegt einfach daran, dass die ein viel größeres Netzwerk haben. Bei Männern ist es so, die hängen sehr stark von ihrer Partnerin ab, und wenn die dann nicht mehr da ist, dann leiden Männer extrem, weil sie einfach nicht so großes Netzwerk haben und dann darüber das kompensieren können."
Sonia Lippke, Professorin für Gesundheitspsychologie an der Jacobs- Universität Bremen. Lebenspartner bieten einen Schutz – aber keine Garantie. Ein großer Teil der einsamen Menschen – in den USA sind es 80 Prozent – leben in einer Beziehung. Und die Alten? Sie passen sich von der Tendenz her ihrer Lebenssituation erstaunlich flexibel an, schrauben Ansprüche nach unten und versuchen zu genießen, was ihnen vergönnt ist. Es sind die 40- bis 49-Jährigen, die heute am häufigsten mit Einsamkeit kämpfen.

Der Kinder-Kosmos ist verlorengegangen

Es gibt eine weitere Gruppe, für die Einsamkeit ein schwerwiegendes Problem sein kann – Kinder. Das erlebte auch der freie Fernsehredakteur Klaus Purkart, dessen Mutter depressiv war.
"Das war so mit drei, vier Jahren. Die einzige Bezugsperson war meine Mutter, mein Vater war den ganzen Tag bei der Arbeit, und deswegen kann ich mich erinnern, dass ich da tagelang allein in meinem Zimmer gesessen habe. Ich hab mich da sehr in meine Fantasie geflüchtet; ich hab dann mit Stofftieren gespielt und ich kann mich erinnern, dass ich damals dachte: Ich kann bald in die Schule, das hat mich immer fasziniert, dass ich da bald bin."
Erst im Grundschulalter können Kinder ihre Einsamkeit bewusst reflektieren und zu ihrem eigenen Verhalten in Beziehung setzen. Wenn Kinder sich als Verlierer im Status-Gerangel wiederfinden, wie es längst auch den Kindergarten erreicht hat, wenn sie keine Aufgabe im Fußball- oder Theaterspiel erhalten, ähnelt ihre Ursachenanalyse der von Erwachsenen: Soziale Erfolge nehmen sie als Zufall wahr, Misserfolge schreiben sie sich selbst zu – "ich bin langweilig, hässlich und dumm." In Wirklichkeit fällt vor allem schüchternen oder aggressiven Kindern der Zugang zu Gleichaltrigen schwer.
Professor Veit Rößner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Dresden: "Ein Erwachsener kann Beziehungen viel besser einschätzen, auch die Intensität einer Beziehung viel besser einschätzen und hat einen viel breiteren Werkzeugkoffer: Wie geht er zukünftig mit einer Beziehung um? Intensiviert er die oder lässt er die eher ein bisschen an den Rand treten, was Kindern natürlich ganz logischerweise aufgrund der Lebenserfahrung, aufgrund der kognitiven, emotionalen Fähigkeiten, der sprachlichen Fähigkeiten überhaupt nicht möglich ist."
Kinder springen am 17.05.2015 bei wechselhaftem Wetter auf einer Hüpfburg in Elstal (Brandenburg) und heben sich dabei als Schatten vom Himmel ab.
Ausgelassen springen Kinder auf einer Hüpfburg herum.© picture alliance/dpa/Ralf Hirschberger
Große Kindergruppen, die ohne Aufsicht frei in den Straßen spielen? Ein Bild aus vergangenen Zeiten. Heute fehlen oft Geschwister und Nachbarskinder und viele Eltern lassen ihren Nachwuchs nicht mehr allein aus dem Haus. Kinderpsychologen sprechen von einer "Verinselung": Sämtliche Aktivitäten werden von Erwachsenen geplant und gesteuert. Eine davon unabhängige, in Kinderhand liegende Erlebenswelt gibt es kaum noch. Auch ein Zuviel an Aktivitäten kann zur Vereinzelung führen.
"Nehmen wir zum Beispiel das Thema Sport im Verein", sagt Veit Rößner."Also, Eltern neigen immer häufiger dazu, nach der ersten Anfangseuphorie, wenn die verflogen ist, zu sagen, 'dann probier doch mal was anderes aus'. Und deswegen wird viel gefahren, viel ausprobiert, aber dadurch entsteht auch keine tragfähige Beziehung, die einfach eine gewisse Zeit braucht."

Kinder brauchen das Gefühl von "Selbstwirksamkeit"

Wie vertragen wir uns nach einem Streit? Was fangen wir miteinander an, wenn uns langweilig ist? Kinder brauchen Zeit, das zu erleben und auszuprobieren – und können es nicht, wenn Eltern ein Unterhaltungsprogramm rund um die Uhr organisieren. Ein Kind muss "Selbstwirksamkeit" spüren – aus eigener Kraft und mit eigenen Ideen Freundschaft und Gemeinschaft zum Laufen zu bringen.
"Viele der Kinder, die wir sehen", so Veit Rößner, "haben eine gewisse Zeit Ansätze eines Einsamkeitsgefühls, aber diese Leere wird vor allem durch die Eltern gefüllt. Aber wenn das Kind dann – meist so zweite, dritte Klasse – merkt, dass irgendwas mit ihm anders ist, dass es eben doch nicht in der Fußballmannschaft integriert ist oder in der Theatergruppe wirklich vermisst wird, wenn es nicht kommt, dann haben die Kinder natürlich schon auch Züge von depressiven Reaktionen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten."
Wenn nur noch eine Therapie weiterhelfen kann, richtet sie sich nicht allein an das Kind.
"Man muss auch den Eltern ganz klar sagen, sie müssen sich mit anstrengen. Das gesamte System muss sich verändern, und nur dann hat das Kind überhaupt eine Chance, aus so einer erlernten festgefahrenen Rolle wieder rauszukommen."

Das Internet ist nicht schuld an Einsamkeit

Jugend – Zeit des glücklichen Party-Lebens? In einer Umfrage des Deutschen Studentenwerks gaben vier Prozent der Studierenden an, so große Kontaktschwierigkeiten zu haben, dass sie Hilfe wünschen. Weitere elf Prozent spürten depressive Verstimmungen, die oft aus Einsamkeitsgefühlen resultieren. Ein Großteil der Abiturienten in Deutschland bewirbt sich nicht an Universitäten, die weit von ihrem Heimatort entfernt liegen, selbst wenn deren Ruf exzellent ist – aus Angst vor Einsamkeit, sagen Psychologen.
Jugendliche Einsamkeit, heute oft lapidar dem Internet zugeschoben, hat einen wichtigen entwicklungspsychologischen Sinn: Der emotionale Bezugspunkt der Eltern muss wegbrechen, damit ein junger Mensch sich von zu Hause löst und seine wichtigsten Beziehungen nun außerhalb des Elternhauses sucht.
Ein Junge sitzt mit einem Laptop auf seinem Bett, hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und schaut sich einen Horrorfilm an.
Ein Kind starrt gebannt auf den Bildschirm eines Laptops.© picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Was die Internetnutzung angeht, zeigte 2015 ein Studie der Klinik für Psychosomatische Medizin in Mainz, wo der gesunde Mittelweg liegen mag: Jugendliche, die mehr als sechs Stunden, also mit Suchtcharakter, täglich online sind, haben es schwerer, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Sie kommunizieren weniger, vertrauen ihren Freunden weniger und fühlen sich von anderen stärker entfremdet. Doch in Maßen genutzt, stärken digitale Netzwerke die realen Freundschaften sogar.
Das bestätigt auch Sonia Lippke: "Es gibt auch viele Menschen, die erst mal vollkommen damit glücklich sind, einfach Menschen um sich herum zu haben, auch wenn man die jetzt gar nicht so im realen Leben trifft – das kann dieses Gefühl der Einsamkeit auf jeden Fall sehr gut überbrücken, die Frage ist nur: Muss es dann nicht doch auch mal Möglichkeiten geben, sich wieder zu sehen?"

Ein große Rolle spielen Persönlichkeitsfaktoren

Wo liegen, wenn das Internet nicht schuldig ist, die Ursachen heutiger Einsamkeit? Persönlichkeit spielt eine Rolle: Wer eher pessimistisch ist, angsterfüllt oder ständig auf sich selbst fokussiert, ist eher gefährdet. Auch wer als Kind einen unsicheren, abweisenden oder besitzergreifenden Bindungsstil erfahren hat, hat es später im Leben schwer, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, das konnten die amerikanische Forscherin Kim Bartholomew und ihr Kollege Leonard Horowitz 1991 in einer viel beachteten Untersuchung nachweisen.
Ein Beispiel erzählt der Sänger und Gesangslehrer Sam Thiel. Er wuchs auf dem Land in Texas auf – jahrelang als Einzelkind und meilenweit von anderen Kindern entfernt: "Meine Eltern waren sehr daran interessiert, dass ich gut erzogen werde, aber nicht demonstrativ mit Umarmungen, das habe ich nicht gekannt. Wenn jemand zu nahe kommt, da werde ich etwas argwöhnisch. Es gibt eine bestimmte Distanz, die gut ist. Heute noch. Mein Partner beklagt sich, weil ich sehr privat bin; ich brauche meine Zeit alleine. Ich tendiere heute noch dazu, immer meine Probleme alleine lösen zu wollen. Auch wenn jemand Hilfe anbietet. Das ist immer ein Problem, das anzunehmen."
Und die gesellschaftlichen Ursachen der Einsamkeit? Die Single-Haushalte allein sind es nicht, denn wer so wohnt, muss weder partnerlos noch sozial isoliert oder subjektiv einsam sein – selbst Menschen in Wohngemeinschaften gelten offiziell als "Single".
Der Soziologe Janosch Schobin betont ein anderes Phänomen: "Eine Familie, wo ich nur meine Eltern habe und mein eigenes Kind: Schon der Ausfall einer Person reicht da aus, damit ich fast schon in der sozialen Isolation lebe. Die Eltern sterben zwangsläufig irgendwann und dann ist nur noch das Kind da. Der Mangel an Bindungsreserven kommt irgendwann an einen Erschöpfungspunkt. Soziale Katastrophen kann ich da ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr abfedern."
Porträtfoto von Janosch Schobin
Der Soziologe Janosch Schobin untersucht die gesellschaftlichen Ursachen der Einsamkeit.© Hamburger Institut für Sozialforschung
Das soziale Gefüge der Gesellschaft dünnt aus. Darum sind Menschen im mittleren Alter heute schon besonders betroffen – sie haben zu wenig Verwandte. Viele sind bereits Einzelkind zweier Einzelkinder, also ohne Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins, Schwägerinnen, Schwager, Nichten oder Neffen. Ganz allein müssen sie sich um ihre Eltern kümmern, was einsame Alte hervorbringt.

Der "Matthäus-Effekt" sozialer Gefüge

Hinzu kommt der "Matthäus-Effekt" sozialer Gefüge. Wer hat, dem wird gegeben, mit exponentieller Wirkung: Ein paar gut vernetzte Freunde sorgen für einen Fluss an Kontaktangeboten. Menschen mit vielen Kindern sind mit Enkeln meist reich gesegnet. Wer nicht hat, geht leer aus. Schon 2004 gehörten in Deutschland acht Prozent der Erwachsenen in die Gruppe der "Solos" – Menschen ganz ohne Angehörige. Kontakte zu nahen Menschen, besonders von Angesicht zu Angesicht, nehmen in Industriegesellschaften messbar ab.
"Unsere Gesellschaft produziert schlicht und ergreifend Gruppen, die für soziale Isolation – also für sehr starke soziale Isolation – und daran anschließend für Vereinsamung anfällig sind", sagt Janosch Schobin.
"Ich komme aus einem Land, wo viele Menschen sind", erzählt Mini Kapur. "Und du hast keine Sekunde für dich. Und ich wollte ich Ruhe haben, habe ich immer wieder zu meinem Vater gesagt: 'Ich gehe so weit weg von euch!' Und er hat mich nur angelächelt und immer gesagt: 'Mini, keiner kann auf einer Insel leben. Du brauchst eine Gesellschaft.' In Indien hast du so viele Leute um dich. Du kannst jeden Tag mit irgendeiner Person über irgendeinen Teil von dir irgendwie Austausch haben. Diesen Stil des Lebens von Indien schätze ich heute viel mehr, als wo ich in Indien war."
Auch in Deutschland sind Familien noch immer sehr solidarisch. Eltern, Kinder und Großeltern leben zwar nicht mehr unter einem Dach, aber als "multilokale Mehrgenerationenfamilie" oft nah beieinander, mit lebenslangen engen Bindungen. Großeltern kümmern sich um die Enkel, Eltern unterstützen Großeltern.
Das ist mit Freiheitseinbußen und Belastungen verbunden, doch hat gegenüber Freundschaftsnetzwerken einen entscheidenden Vorteil: Familiäre Beziehungen lassen sich nur schwer kündigen – und man darf sich danebenbenehmen. Freundschaften hingegen wollen ständig gepflegt und aktualisiert sein. Darum zeigen Menschen sich darin eher von ihrer Schokoladenseite – eine Einsamkeitsfalle.

Einsamkeit ist ansteckend

Geteiltes Leid sei halbes Leid, sagt das Sprichwort, und geteilte Freude doppelte Freude. Im Licht der Einsamkeitsforschung stimmt das nur bedingt. Das konnte auch die berühmte "Framingham"-Langzeitstudie in den USA zeigen: Wer mit einem glücklichen Menschen befreundet ist, wird selbst um durchschnittlich fünfzehn Prozent glücklicher. Sogar seine Freunde, die den Glücklichen gar nicht persönlich kennen, werden noch um zehn Prozent glücklicher und deren Freundinnen und Freunde noch um sechs Prozent – eine phänomenale Weitergabe um drei Ecken.
Zum Vergleich: 10.000 Dollar mehr Jahresverdienst schenken nur zwei Prozent mehr Glücksgefühle. Doch auch Einsamkeit steckt an, fand John Cacioppo anhand der Framingham-Daten heraus. Mehr als die Hälfte der Freunde und Angehörigen von einsamen Menschen entwickeln innerhalb von zwei Jahren selbst Gefühle von Einsamkeit und mehr noch: Sie verlieren ebenfalls ihre sozialen Kontakte.
"Sind Freunde, die dichter beieinander leben, eher in Gefahr, sich gegenseitig anzustecken? Das scheint so zu sein", sagt Sonia Lippke, "denn diejenigen, die sich zurückziehen, vermitteln natürlich auch das Gefühl: 'Ich möchte mit dir jetzt nichts mehr zu tun haben!' Und auf die anderen wirkt das dann im Sinne von: 'Du verstehst mich nicht, lass mich in Ruhe!' Und das ist dann wie so ein Teufelskreis."

Gesellschaftspolitische Entscheidungen mit Folgen

Janosch Schobin konnte in seiner Forschung sogar zeigen, wie gesellschaftspolitische Entscheidungen Einsamkeit handfest produzieren. Eindrücklich ist das Beispiel afroamerikanischer Bürgerinnen und Bürger in den USA.
"Ich hab jetzt im Kopf eine ältere Frau, die hab ich interviewt, die ist in den 50er-Jahren in Harlem aufgewachsen", erzählt Janosch Schobin. "Harlem war damals ein kleinbürgerliches Aufstiegsviertel: kleine Geschäfte, als Friseure oder als Mechaniker, also kleinbürgerliche Existenzen, die aber eine relativ solide ökonomische Basis hatten. Und die Familien waren extrem stark integriert. Die wohnten alle in dem gleichen Haus. Die Kinder konnten zwischen Wohnungen hin und her gehen. Die Familien waren groß. Man gehörte dazu und es gab auch kein wirkliches Ausbrechen. Und das ist, wenn man so will, die Urszene 1950. Und dann kommt erstmal Vietnam."
Für den Krieg rekrutiert die Armee überdurchschnittlich viele schwarze junge Männer und reißt sie in den Tod. Väter, Söhne, Brüder gehen verloren. Die Heimkehrer sind häufig traumatisiert. Drogen schwemmen in die schwarzen Wohnviertel, der Krieg mit und gegen Drogen beginnt. Zahllose Ehemänner, Väter, Brüder, Großväter verschwinden hinter Gittern. Dann steigen in den 1990er-Jahren die Immobilienpreise. Die Reste der schwarzen Familien werden aus ihren angestammten Wohnvierteln verdrängt und verstreuen sich in alle Winde.
"Die Gemeinschaft, die es irgendwann 1950 gegeben hat, ist inexistent mittlerweile", sagt Janosch Schobin, "und alles kann man eigentlich zurückführen auf relativ klare politische Faktoren."

Einsamkeit macht auch körperlich krank

Menschliche Netzwerke bieten Rollen an, in die hinein sich Identität und Zugehörigkeit entwickeln. Sie erfüllen das Grundbedürfnis, in anderen Menschen Halt, Orientierung und eine Bestätigung des eigenen Wertes zu finden. Nur in Gemeinschaft erwerben Menschen ein Verhalten, das auch die Gesellschaft insgesamt zusammenhalten kann: Freundlich und großzügig zu sein, weil das mit sozialer Akzeptanz belohnt wird, und Egoismus zu meiden, weil der unsympathisch macht und isoliert.
Freundliche, nahe Menschen sind eine der wichtigsten Ressourcen der Stressbewältigung im Leben – das hält auch den Körper gesund. 2010 wertete die amerikanische Psychologin Julianne Holt-Lunstad die Daten von mehr als 300.000 Amerikanern aus. Ihr Ergebnis: Sozial isoliert zu sein senkt die Lebenserwartung. Es ist so schädlich wie Alkoholismus oder 15 Zigaretten täglich und sogar doppelt so schädlich wie Fettleibigkeit. Dauerhaft Einsame leiden häufiger unter Erschöpfung, Entzündungen, Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen oder hohem Blutdruck.
"Es gibt Annahmen über die Wirkmechanismen", erläutert Sonia Lippke, "die sind nicht bis ins letzte Detail mittlerweile wissenschaftlich geklärt, aber es wird eben angenommen, dass die Einsamkeit auf Cortisol, also auf Hormone wirkt, aber eben auch auf Gesundheitsverhalten oder Risikoverhaltensweisen und direkt auch über Schlaf, auf die kardiovaskuläre Aktivierung. Also das heißt, der ganze Körper reagiert."
Ein Hausarzt misst in seiner Praxis einer Patientin den Blutdruck.
Dauerhaft einsame Menschen leiden zum Beispiel häufiger unter Kreislaufstörungen oder hohem Blutdruck.© Bernd Weissbrod/dpa
Krank durch Einsamkeit – das ist ein subtiler Verschleißprozess, sagt Einsamkeitsforscher John Cacioppo in seinem Buch. Es fehlen körperliche Berührungen, Trost und Beruhigung. Die Selbstfürsorge lässt nach. Wenn man ganz allein ist, achtet niemand darauf, dass man täglich gesund kocht, sich an der frischen Luft bewegt, weniger raucht und trinkt, Medikamente nimmt und zum Arzt geht. Im Notfall ruft niemand Hilfe. Einsame brauchen dreimal länger, um einzuschlafen, und selbst wenn sie gleich viel schlafen, fühlen sie sich anschließend weniger erholt.
Um ihrem Schmerz Linderung zu verschaffen, verfolgen Einsame viele Strategien. Nicht alle sind hilfreich. "Fernseher an" ist die häufigste Notlösung, es folgen Musikhören, Lesen, Kochen, allein Spazierengehen. Doch so findet man keine neuen Freunde. Selbst Menschen, die sich wegen Stress im Beruf sozial isoliert fühlen, stürzen sich in noch mehr Arbeit, um den Schmerz zu betäuben. Psychologen sagen: "Einsamkeit ist eine Gefängniszelle, die sich nur von innen öffnen lässt."

Anti-Einsamkeitsprogramm: "EASE"

Die Immigrantin Mini Kapur hat eine Galerie eröffnet. Sie heißt "Under the Mango Tree" und fördert junge Künstler – ein Hauch des Lebensgefühls und der Gemeinschaftlichkeit Indiens mitten in Berlin.
"Wenn ich offen gewesen wäre, hätte ich nicht so viel leiden müssen", erzählt sie. "Einsamkeit für mich, wie ich es sehe, ist eine Frage des Wählens: froh zu sein oder traurig zu sein. Zu entscheiden! Entscheidend war wirklich der Moment, wo ich Berlin innerlich zu meiner Heimat gemacht habe. Das war der Moment, wo ich entschieden habe, no more! Wenn du offen bist, nach draußen zu gehen und mit Menschen zu reden und neu anzufangen, diese Freude zu haben – du kannst auch gewinnen, weißt du."
Basierend auf seiner Forschung hat John Cacioppo das Anti-Einsamkeitsprogramm "EASE" entwickelt – zu Deutsch "Erleichterung". Das "E" steht für "extent" – den eigenen Aktionsradius erweitern, ein Ehrenamt ist dafür ideal. Das "A" steht für "action" – nur eigene Aktivitäten führen aus der Einsamkeit. Die Krankenschwester Marianne Osten bildete sich zur Gesundheitsberaterin fort:
"Ich habe Autogenes Training gelernt und habe das dann, weil das mir sehr gut getan hat, auch gelernt zu lehren. Ich hab dann noch im Knast Autogenes Training unterrichtet, in Plötzensee und im Jugendzentrum. Ich war dann plötzlich nicht mehr nur als Krankenschwester tätig, sondern mit Kriminellen in Plötzensee und mit höchst aktiven Jugendlichen im Rütli-Jugendzentrum. Und dann war ich plötzlich wie in so einer fremden Welt, ja, hat mir schon auch Spaß gemacht."

Wichtig: selbst ein guter Freund sein

Das "S" im EASE-Programm steht für "selective". Einsame sollten sich genau überlegen, mit welchen Menschen sie Umgang haben möchten – und sich dann hartnäckig darum bemühen. Das letzte "E" bedeutet "erwarte das Beste" – ein Appell, Misstrauen und alte Feindschaften fallen zu lassen.
Der Fernsehredakteur Klaus Purkart legt heute viel Wert darauf, selbst ein guter Freund zu sein. "Ich habe sehr lange gebraucht, um überhaupt da hinzukommen, wo ich mir denke: 'Ich kenne dieses Gefühl. Ich hab diese Angst vor dem Alleinsein aus frühester Kindheit.' Ich arbeite jetzt im Erwachsenenleben dagegen. Ich habe einen großen Freundeskreis und mach sehr viel und bring mich ein, soziales Engagement zu leben und auch von anderen geliebt zu werden."
Hedy Gerstung arbeitet heute als Therapeutin. Ihre schmerzvolle Kinderzeit im Heim hat sie in die Fähigkeit verwandelt, andere Menschen zu begleiten.
"Ich hab zehn Jahre Therapie gemacht und das war eine Bemutterung", sagt Hedy Gerstung. "Das war wirklich durch die ganze Scheiße durchwaten, mit viel Vertrauen. Ich glaube, wenn Menschen alleine sind und das Gefühl haben, sie sind einsam, ist die Frage, was sie brauchen. Was ist das Thema? Woran liegt es, dass ich nicht in Kontakte gehen kann? Und grundsätzlich bin ich immer dafür: Holt euch die Unterstützung von professionellen Personen, wenn das Gefühl der Einsamkeit zu groß wird – bis dahin zu sagen: 'Ich muss aus dem Leben scheiden, weil ich geh hier unter, ich geh hier ein'."

Sozialpolitik muss Bindungen der Menschen berücksichtigen

Einsamkeitsforscher mahnen dringend ein politisches Umdenken an. Menschen brauchen Gelegenheiten, miteinander in Kontakt zu treten und etwas für sich und andere zu tun. Darum müsse die Politik mehr Geld zum Beispiel in Nachbarschaftsarbeit stecken. Janosch Schobin hat noch grundsätzlichere Forderungen:
"Unsere Arbeitsmarktpolitik ist im Moment so gestrickt, dass sie von Leuten im Prinzip erwartet, dass sie für einen Job egal wo in Deutschland umziehen. Ob das klug ist, wage ich zu bezweifeln. Insgesamt würde ich die Forderung aufstellen, dass man unsere Sozialpolitiken immer auch auf die Frage 'Wie wirkt sich das eigentlich die sozialen Bindungen der Bürger aus?' mit befragen sollte."
Die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft dürfen nicht vergessen werden, unterstreicht der Kinderpsychologe Veit Rößner. Mehr Geld und kinderpsychologisches Know-how müssen in die Lehrerausbildung fließen – und keinesfalls darf es unmodern werden, sich für andere einzusetzen.
"Gerade Kinder, die eben still sind, die am Rand stehen, die bräuchten viel häufiger jemanden", sagt Veit Rößner. "Egal ob Nachbar oder Elternteil eines Klassenkameraden, dass da mal jemand sagt: Oh, das fällt mir auf, da engagiere ich mich, da gehe ich auch das Risiko ein, vielleicht Ärger zu bekommen. Aber ich kann doch nicht einfach zugucken, wie jemand am Rand steht und immer trauriger wird."

Autorinnen: Petra Geist und Susanne Billig
Sprecherin: Susanne Billig
Technik: Peter Seyffert
Regie: Beate Ziegs
Redaktion: Kim Kindermann

Die Erstausstrahlung des Features von Susanne Billig und Petra Geist war am 21. Juli 2016.
Mehr zum Thema