Einsiedler in Japan

Eine Million Japaner leben in Isolation

04:08 Minuten
Ein Hikikomori, ein junger Japaner, der seit Monaten in sozialer Isolation gelebt hat, rastet im Jahr 2010 auf einer Pilgertour zur Tempelstadt Nikko, die er mit Seinesgleichen unter Anleitung des Performers Yasuda unternimmt. Viele der Hikikomori – manche Forscher schätzen ihre Zahl damals auf eine Million – begannen ihre Isolation, als sie aus dem hochkompetitiven Schulsystem rutschten. Meist sind es männliche Jugendliche – genannt wurde hier die Zahl von 20 Prozent aller heranwachsenden männlichen Japaner.
Ein Hikikomori auf einer Pilgerreise, deren Ziel es ist, die Isolation zu überwinden: Über eine Million Japan verlassen ihre Wohnungen nicht. © Picture Alliance / EPA /Everett Kennedy Brown
Von Kathrin Erdmann |
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In Japan hat in dieser Woche ein Mann eine Schülerin und deren Vater getötet. Danach tötete er sich selbst. Er war ein Hikikomori, praktisch ohne Kontakt zur Welt außerhalb seiner Wohnung. Kathrin Erdmann hat zwei solche Einsiedler getroffen.
"Außer zu meiner Familie, mit der ich lebe, habe ich keinen Kontakt zu irgendjemandem", sagt Kento, dessen Name für den Bericht geändert wurde. "Ich habe mich auch die letzten zwei Jahre bei niemandem gemeldet."
Während er spricht, fasst er sich an oft an seine Arme, an die Hände. Er wirkt, als fühle er sich in seinem Körper unwohl. Er wirkt zart, fast zerbrechlich. Früher, als er noch in der Grundschule war, habe er viele Freunde gehabt, sagt Kento. Aber schon auf der Oberschule habe er sich dann immer mehr zurückgezogen.
Damit ist Kento nicht allein. In Japen gelten inzwischen mehr als eine Million Menschen als "Hikikomori". Der Begriff bezeichnet Menschen, die länger als ein halbes Jahr nicht ihre Wohnung verlassen und jeglichen Kontakt zur Außenwelt abgebrochen haben.
Das Phänomen wird auch deshalb problematischer, weil die "Hikikomori" immer älter werden. Eine Organisation in Tokio, die sich "Warmer Ort" nennt, versucht, die Menschen aus ihrer Isolation zu holen.
Miho Goto ist gelernte Krankenschwester und hat "Hidamari" vor fünf Jahren gegründet, um den Hikikomori eine Anlaufstelle und Austausch zu bieten.
"Der Auslöser ist bei jedem Menschen ein anderer, aber meist geht es um Mobbing oder familiäre Probleme mit den Eltern. Und dann werden sie zunächst depressiv, so fängt es an", sagt Goto.

Vor allem Jungen und Männer betroffen

Die jüngste Statistik des japanischen Arbeitsministeriums zeigt: Fast eine Million Japaner haben mindestens ein halbes Jahr ihr Zuhause nicht verlassen. Fast 80 Prozent sind danach männlich. Krankenschwester Goto sieht die Statistik allerdings kritisch:
"Es gibt auch sehr viele weibliche Hikikomori, aber sie sind weniger sichtbar, weil sie oft Hausfrauen sind und sich um die Familie kümmern. Von einem Mann erwartet man jedoch, dass er rausgeht und arbeitet. Da fällt das dann eher auf."
Die Gründerin der Organisation "Warmer Ort" fährt fort:
"Wir haben hier Menschen, die erst eine Woche, dann zwei, manchmal drei zur Arbeit zu gehen. Wir unterstützen sie dabei. Frauen schaffen am ehesten den Absprung, in dem sie heiraten. Die kommen dann auch nicht mehr. Sie sind ja dann 'geheilt', weil sie wieder zur Gesellschaft gehören."
Dass er so schnell wieder zur Gesellschaft gehört, glaubt Puroto nicht. Der 29-Jährige, auch sein Name ist geändert, ist optisch ein Schwergewicht. Wenn er spricht, schließt er die Augen. Seine Tage daheim sehen fast immer gleich aus:
"Ich spiele Videospiele, manchmal lese ich auch Bücher oder gucke Fernsehen, aber meist spiele ich."

Eltern übernehmen die Versorgung

Rundum versorgt wird er von seinen Eltern, die ihn aber sonst in Ruhe lassen. Seit einem halben Jahr besucht er bis zu drei Mal die Woche die Hilfsorganisation in Tokio.
Otohiko Hosaka kennt das Problem seit Jahren – von ihrem Kind.
"Mein Sohn ist jetzt 30 Jahre alt. Im Alter von zehn ging er zwar nicht mehr zur Schule, aber immerhin noch fünf Jahre raus. Aber seit dem 15. Lebensjahr hat er keinen Schritt mehr vor die Tür gemacht.
Der Familienvater hat viel versucht, aber nichts erreicht. Letztlich räumt er aber auch ein:
"Zu der Zeit, als das mit meinem Sohn losging, war es in Japan üblich, die Hikikomori so zu akzeptieren wie sie sind und sie nicht zu zwingen, rauszugehen. Meine Frau und ich haben ihn deshalb auch nicht bedrängt."
Otohiko Hosaka hat inzwischen aufgegeben, das spürt man bei jedem Satz. Was sein Sohn den ganzen Tag in seinem Zimmer macht, weiß er nicht: Die Tür sei verschlossen, sagt er.
Dabei macht er sich Sorgen, denn er ist selbst schon 60 Jahre alt. Was soll mit seinem Sohn passieren, wenn er mal nicht mehr ist. Eine Frage, die sich sicher immer mehr Eltern mit Hikikomori-Kindern stellen – denn auch das zeigt die jüngste Statistik der Regierung. Die Mehrzahl der Stubenhocker ist zwischen 40 und 64 Jahre alt und lebt bei Papi und Mami.
"Aber es tut mir auf jeden Fall gut, hier zu Hidamari zu kommen und mich mit anderen Eltern von Hikikomori auszutauschen", sagt Hosaka.
Auch wenn sein Sohn die Hälfte seines Lebens bisher ausschließlich drin verbracht hat, krank sei er nicht. Das hätten schließlich die Ärzte gesagt.

Für Online leicht bearbeitet (mfu)
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