Einst Utopisten, jetzt Citoyens
Die Grünen haben nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Albrecht von Lucke extrem von den Ereignissen in Japan profitiert. So seien die Themen der Grünen wie Erhaltung der Umwelt bislang eher als utopistisches Interesse verstanden worden. Doch seit der Katastrophe von Fukushima sei daraus ein "aufgeklärtes Eigeninteresse" geworden, was den Grünen immensen Zulauf gebracht habe.
Klaus Pokatzky: Noch nie sind die Grünen bei irgendwelchen Wahlen, egal ob Kommunal- oder Landtags- oder Bundestags- oder Europawahl, über die 20-Prozent-Marke gekommen. Gestern in Baden-Württemberg war es soweit: 24,2 Prozent haben sie bekommen, und dazu noch neun Direktmandate in Stuttgart und Freiburg, Heidelberg, Mannheim und Tübingen. Albrecht von Lucke ist nun im Studio, Politikwissenschaftler und Redakteur der Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Willkommen, Herr von Lucke!
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Müsste nach den Wahlen gestern, Herr von Lucke, nicht auch dem Allerletzten klar geworden sein: Das bürgerliche Lager, wie wir immer sagen, wird heute von den Grünen repräsentiert?
von Lucke: Zumindest ist ganz deutlich geworden, dass wir es mit dem bürgerlichen Lager, von dem Sie so schön sprechen, nicht mehr identisch mit dem Phänomen Bürgertum und Bürgerlichkeit zu tun haben. Bürgerliches Lager in klassischer Konnotation in Deutschland, in der Bundesrepublik, bedeutete immer: CDU und FDP. Das war das alte Phänomen, Union und FDP, CSU inbegriffen.
Hier zeigt sich aber schlagartig – und keiner hätte das besser verkörpern können als Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der Grünen –, dass mittlerweile Bürgertum und Bürgerlichkeit mit diesem "bürgerlichen Lager" wenig zu tun haben. Denn Winfried Kretschmann, ich möchte es mal verdeutlichen, war ja gewissermaßen so etwas – man fühlte sich ja fast zurückversetzt – wieder wie eine Verkörperung fast eines Theodor-Heuss-artigen Bildungsbürgertums.
Wir haben also gewissermaßen eine Form der Haltung wieder gestern gesehen, die man gar nicht mehr kannte, einer Gelassenheit, die auch mit dem ganzen Betrieb, der Betriebsamkeit, ich sage es mal ganz hart, der Westerwelle-Bürgerlichkeit, die schon lange keine klassische Bürgerlichkeit des Bildungsbürgerlichen war, völlig gebrochen hat.
Und da merkt man plötzlich, dass da ein Bruch durch die Parteien ging, und dass die Grünen in diese Phalanx des bürgerlichen Lagers lange schon eingebrochen sind und damit diese ganze Konstruktion von bürgerlichem Lager völlig infrage stellen.
Pokatzky: Aber was ist denn dann heute überhaupt noch bürgerlich?
von Lucke: Bürgerlichkeit ist eben sehr zu unterscheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was in den letzten 20 Jahren gewissermaßen als neoliberale Bürgerlichkeit, als fast radikalisierte Bürgerlichkeit in ökonomistischer Hinsicht entstanden ist, …
Pokatzky: Das, was Sie Westerwelle-Bürgerlichkeit nennen.
von Lucke: Das ist eine Westerwelle-Bürgerlichkeit, die gewissermaßen allein das Eigeninteresse formuliert hat. Das haben wir auf der einen Seite. Es gibt aber eine andere. Das würde man klassischerweise auch als das Bourgeoise, das rein vom Öffentlichen abgetrennte Interesse, begreifen. Ein Bourgeoise ist ein rein am Privatistischen orientiertes Bürgerlichkeitsphänomen.
Pokatzky: Jetzt kommen wir zum Positiven.
von Lucke: Wir kommen zum Positiven, und das ist das Interessante: Dieses andere Phänomen von Bürgerlichkeit, klassischerweise auch mit dem Citoyen in französischer Konnotation belegt, also dem am Staatswohl, am Gemeinwohl interessierten Bürgerlichkeitsinteresse, dieses Phänomen verkörpern jetzt in anderem Maße ganz andere, auch schon lange andere Parteien.
Das sind übrigens auch keineswegs nur die Grünen, auch die SPD würde für sich grundsätzlich reklamieren, dass sie in dem Sinne aufgeklärt-bürgerlich, als Bürger dieses Staates ist. Wir hatten neulich eine Debatte, das ist eine Weile her, da hat der Beck sich völlig zu Recht mit Vehemenz dagegen …
Pokatzky: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident.
von Lucke: … der rheinland-pfälzische, soeben gewählte, wiedergewählte Ministerpräsident, das war noch in seiner Zeit als Parteivorsitzender der SPD, die ja bekanntlich nicht sehr lange währte. Da hat er sich sehr vehement dagegen gewehrt, zu Recht, wie ich finde, dass ihn CDU und FDP nicht als Teil des bürgerlichen Spektrums bezeichnet haben. Er hat gesagt, was bin ich denn, wenn nicht Bürger dieses Staates und auch dieser Gesellschaft?
Jetzt aber das Spannende bei dieser Geschichte: Klassischerweise hatten die Grünen das Problem, dass sie gewissermaßen im Zuge von '68 ja auch als links und damit als bloße Utopisten – in Teilen jedenfalls – verkörpert und wahrgenommen wurden. Und sie haben gewissermaßen dies menschheitliche Interesse, linke Interesse Gerechtigkeit, aber auch die große Frage, wie erhalten wir die menschliche Natur und die Umwelt, dieses Interesse wurde gewissermaßen als linkes utopistisches verstanden.
Jetzt plötzlich, mit dem Einschnitt von Fukushima, wird deutlich, dass es auch ein aufgeklärtes Eigeninteresse daran gibt, also ein zutiefst gewissermaßen mit dem Individualinteresse einhergehendes Interesse an einer Umwelt. Und deswegen haben die Grünen bei dieser Wahl Zufluss von allen Seiten bekommen. Denn der Bürger hat natürlich immer auch ein Interesse an seinem Eigenen, zuallererst, nicht zuletzt, weil es um sein Privates geht.
Und wenn deutlich wird, wie bei einem Fall wie in Fukushima, die Atomreaktoren gefährden nicht zuletzt unser Eigenes, dann kommt gewissermaßen aufgeklärtes Menschheitsinteresse, im großen Sinne, im utopistischen Sinne, und das Eigeninteresse zusammen. Und deswegen haben die Grünen bei dieser Wahl immens gewonnen.
Pokatzky: Aber Herr von Lucke, dass der Bürger als Citoyen, der sich sozial betätigt, der vielleicht auch als Mäzen tätig ist, der nicht nur an seine eigenen Wirtschaftsinteressen denkt – das würde ja auch die CDU für sich in Anspruch nehmen. Oder wenn wir jetzt darüber denken, Sorge um die Umwelt, Angst vor dem Atom – das waren Themen der Katholikentage, der evangelischen Kirchentage, auch schon in den 80er-Jahren, das waren ja nicht nur die Achtundsechziger.
von Lucke: Völlig richtig.
Pokatzky: Die Frage ist: Warum kommt die CDU, die ja auch diese Wurzeln hat und die diese Flügel hat, warum kommt die in den Städten überhaupt nicht mehr an? Wie kann es sein, dass die Grünen jetzt auf Anhieb neun Direktmandate in größeren Städten, in Universitätsstädten einfach so einkassieren, wo früher die CDU … und jetzt auch fast alle weiteren Direktmandate bekommen haben?
von Lucke: Weil die Union immer zwei Seiten hatte: Sie hatte immer eine wertkonservative, auf das Gemeinwohl, auch auf den Nachhaltigkeitsfaktor ziehendes Interesse, sie hatte eine im Sinne von Erhaltung der Schöpfung orientierte Position, das war das Wertkonservative.
Sie hatte aber auch eine zutiefst strukturkonservative Seite. Und die Ironie dieses Ereignisses Wahl, vor allem in Württemberg, war Folgendes: Angela Merkel, die Kanzlerin, die ja lange auf die neue Bürgerlichkeit schon zugegangen war, die immer versucht hatte, ihre Partei weiter zu öffnen, femininer zu machen, großstädtischer zu machen, metropolitaner zu machen, auch die neuen bürgerlichen Schichten, die wir hier in Berlin manchmal ja schon ein bisschen spöttisch das Bionade-Biedermeier zu nennen gelernt haben, also die grünen Kreise, die gerne im Ökoladen kaufen, die hat sie versucht, zu erreichen.
Aber sie hat in einer entscheidenden Krise sozusagen einen großen Fehler gemacht, dass sie zurückkehrte zu einem völlig strukturkonservativen Ansatz, nämlich im letzten Jahr, als sie dezidiert sagte: Ich breche den atomaren Kompromiss des Ausstiegs aus der Atomkraft auf. Damit trat sie voll gewissermaßen in die Kohl-Nachfolge, der als Partei gewissermaßen der Atomkraft Politik machte.
Und damit hat sie das – ich mache es mal ganz hart –, das Wertkonservative der Union gegen das Strukturkonservative verraten. Sie hat gewissermaßen den strukturkonservativen Teil übernommen, aber den wertkonservativen abgespalten. Und das ist ihr bei dieser Wahl ganz massiv auf die Füße gefallen.
Pokatzky: Ja, sind die Grünen nun auf dem Weg zur Volkspartei? Was müssen sie in Baden-Württemberg noch machen, um demnächst vielleicht stärkste Partei zu werden?
von Lucke: Die Grünen würden ein großes Problem haben, wenn sie Volkspartei in Gänze werden, denn sie haben momentan noch das Phänomen, dass sie beides bespielen, sie sind gleichermaßen die Partei mit dem Überschuss, mit dem Unbedingtheitsanspruch einer großen Aufgabe, des Utopischen. Das Ironische ist ja, dass die Grünen gerade im Gegenwind gewissermaßen eher in den letzten Jahren langweilig zu werden drohten. Die Wahrnehmung der Grünen war ja eine als einer stinknormalen Partei.
Jetzt haben sie durch dieses ungeheure Ereignis der Katastrophe von Fukushima noch mal eine Beglaubigung ihres großen Anspruchs der 80er-Jahre, Menschheitsfragen im Blick zu haben. Das haben sie erfahren. Dadurch bekommen sie eine ganz besondere Seite, aber sie kombinieren sie mit ihrer pragmatischen Seite jetzt, die sie dann volksparteitauglich macht.
Aber sie müssen weiter diesen Widerspruch in gewisser Weise aushalten. Deswegen wird es für die Grünen sehr spannend, dass sie einerseits ihren Anspruch auf mehr Gerechtigkeit, mehr auch Umweltschutz und mehr Erhaltung der globalen Ressourcen aufrecht erhalten mit einem gewissen Unbedingtheitsanspruch, auf der anderen Seite natürlich das versuchen, pragmatisch umzusetzen. Und das verkörpert natürlich auch Herr Kretschmann idealerweise. Er in Württemberg ist genau die Inkarnation dieser wertkonservativen wie auch pragmatischen Seite.
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Müsste nach den Wahlen gestern, Herr von Lucke, nicht auch dem Allerletzten klar geworden sein: Das bürgerliche Lager, wie wir immer sagen, wird heute von den Grünen repräsentiert?
von Lucke: Zumindest ist ganz deutlich geworden, dass wir es mit dem bürgerlichen Lager, von dem Sie so schön sprechen, nicht mehr identisch mit dem Phänomen Bürgertum und Bürgerlichkeit zu tun haben. Bürgerliches Lager in klassischer Konnotation in Deutschland, in der Bundesrepublik, bedeutete immer: CDU und FDP. Das war das alte Phänomen, Union und FDP, CSU inbegriffen.
Hier zeigt sich aber schlagartig – und keiner hätte das besser verkörpern können als Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der Grünen –, dass mittlerweile Bürgertum und Bürgerlichkeit mit diesem "bürgerlichen Lager" wenig zu tun haben. Denn Winfried Kretschmann, ich möchte es mal verdeutlichen, war ja gewissermaßen so etwas – man fühlte sich ja fast zurückversetzt – wieder wie eine Verkörperung fast eines Theodor-Heuss-artigen Bildungsbürgertums.
Wir haben also gewissermaßen eine Form der Haltung wieder gestern gesehen, die man gar nicht mehr kannte, einer Gelassenheit, die auch mit dem ganzen Betrieb, der Betriebsamkeit, ich sage es mal ganz hart, der Westerwelle-Bürgerlichkeit, die schon lange keine klassische Bürgerlichkeit des Bildungsbürgerlichen war, völlig gebrochen hat.
Und da merkt man plötzlich, dass da ein Bruch durch die Parteien ging, und dass die Grünen in diese Phalanx des bürgerlichen Lagers lange schon eingebrochen sind und damit diese ganze Konstruktion von bürgerlichem Lager völlig infrage stellen.
Pokatzky: Aber was ist denn dann heute überhaupt noch bürgerlich?
von Lucke: Bürgerlichkeit ist eben sehr zu unterscheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was in den letzten 20 Jahren gewissermaßen als neoliberale Bürgerlichkeit, als fast radikalisierte Bürgerlichkeit in ökonomistischer Hinsicht entstanden ist, …
Pokatzky: Das, was Sie Westerwelle-Bürgerlichkeit nennen.
von Lucke: Das ist eine Westerwelle-Bürgerlichkeit, die gewissermaßen allein das Eigeninteresse formuliert hat. Das haben wir auf der einen Seite. Es gibt aber eine andere. Das würde man klassischerweise auch als das Bourgeoise, das rein vom Öffentlichen abgetrennte Interesse, begreifen. Ein Bourgeoise ist ein rein am Privatistischen orientiertes Bürgerlichkeitsphänomen.
Pokatzky: Jetzt kommen wir zum Positiven.
von Lucke: Wir kommen zum Positiven, und das ist das Interessante: Dieses andere Phänomen von Bürgerlichkeit, klassischerweise auch mit dem Citoyen in französischer Konnotation belegt, also dem am Staatswohl, am Gemeinwohl interessierten Bürgerlichkeitsinteresse, dieses Phänomen verkörpern jetzt in anderem Maße ganz andere, auch schon lange andere Parteien.
Das sind übrigens auch keineswegs nur die Grünen, auch die SPD würde für sich grundsätzlich reklamieren, dass sie in dem Sinne aufgeklärt-bürgerlich, als Bürger dieses Staates ist. Wir hatten neulich eine Debatte, das ist eine Weile her, da hat der Beck sich völlig zu Recht mit Vehemenz dagegen …
Pokatzky: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident.
von Lucke: … der rheinland-pfälzische, soeben gewählte, wiedergewählte Ministerpräsident, das war noch in seiner Zeit als Parteivorsitzender der SPD, die ja bekanntlich nicht sehr lange währte. Da hat er sich sehr vehement dagegen gewehrt, zu Recht, wie ich finde, dass ihn CDU und FDP nicht als Teil des bürgerlichen Spektrums bezeichnet haben. Er hat gesagt, was bin ich denn, wenn nicht Bürger dieses Staates und auch dieser Gesellschaft?
Jetzt aber das Spannende bei dieser Geschichte: Klassischerweise hatten die Grünen das Problem, dass sie gewissermaßen im Zuge von '68 ja auch als links und damit als bloße Utopisten – in Teilen jedenfalls – verkörpert und wahrgenommen wurden. Und sie haben gewissermaßen dies menschheitliche Interesse, linke Interesse Gerechtigkeit, aber auch die große Frage, wie erhalten wir die menschliche Natur und die Umwelt, dieses Interesse wurde gewissermaßen als linkes utopistisches verstanden.
Jetzt plötzlich, mit dem Einschnitt von Fukushima, wird deutlich, dass es auch ein aufgeklärtes Eigeninteresse daran gibt, also ein zutiefst gewissermaßen mit dem Individualinteresse einhergehendes Interesse an einer Umwelt. Und deswegen haben die Grünen bei dieser Wahl Zufluss von allen Seiten bekommen. Denn der Bürger hat natürlich immer auch ein Interesse an seinem Eigenen, zuallererst, nicht zuletzt, weil es um sein Privates geht.
Und wenn deutlich wird, wie bei einem Fall wie in Fukushima, die Atomreaktoren gefährden nicht zuletzt unser Eigenes, dann kommt gewissermaßen aufgeklärtes Menschheitsinteresse, im großen Sinne, im utopistischen Sinne, und das Eigeninteresse zusammen. Und deswegen haben die Grünen bei dieser Wahl immens gewonnen.
Pokatzky: Aber Herr von Lucke, dass der Bürger als Citoyen, der sich sozial betätigt, der vielleicht auch als Mäzen tätig ist, der nicht nur an seine eigenen Wirtschaftsinteressen denkt – das würde ja auch die CDU für sich in Anspruch nehmen. Oder wenn wir jetzt darüber denken, Sorge um die Umwelt, Angst vor dem Atom – das waren Themen der Katholikentage, der evangelischen Kirchentage, auch schon in den 80er-Jahren, das waren ja nicht nur die Achtundsechziger.
von Lucke: Völlig richtig.
Pokatzky: Die Frage ist: Warum kommt die CDU, die ja auch diese Wurzeln hat und die diese Flügel hat, warum kommt die in den Städten überhaupt nicht mehr an? Wie kann es sein, dass die Grünen jetzt auf Anhieb neun Direktmandate in größeren Städten, in Universitätsstädten einfach so einkassieren, wo früher die CDU … und jetzt auch fast alle weiteren Direktmandate bekommen haben?
von Lucke: Weil die Union immer zwei Seiten hatte: Sie hatte immer eine wertkonservative, auf das Gemeinwohl, auch auf den Nachhaltigkeitsfaktor ziehendes Interesse, sie hatte eine im Sinne von Erhaltung der Schöpfung orientierte Position, das war das Wertkonservative.
Sie hatte aber auch eine zutiefst strukturkonservative Seite. Und die Ironie dieses Ereignisses Wahl, vor allem in Württemberg, war Folgendes: Angela Merkel, die Kanzlerin, die ja lange auf die neue Bürgerlichkeit schon zugegangen war, die immer versucht hatte, ihre Partei weiter zu öffnen, femininer zu machen, großstädtischer zu machen, metropolitaner zu machen, auch die neuen bürgerlichen Schichten, die wir hier in Berlin manchmal ja schon ein bisschen spöttisch das Bionade-Biedermeier zu nennen gelernt haben, also die grünen Kreise, die gerne im Ökoladen kaufen, die hat sie versucht, zu erreichen.
Aber sie hat in einer entscheidenden Krise sozusagen einen großen Fehler gemacht, dass sie zurückkehrte zu einem völlig strukturkonservativen Ansatz, nämlich im letzten Jahr, als sie dezidiert sagte: Ich breche den atomaren Kompromiss des Ausstiegs aus der Atomkraft auf. Damit trat sie voll gewissermaßen in die Kohl-Nachfolge, der als Partei gewissermaßen der Atomkraft Politik machte.
Und damit hat sie das – ich mache es mal ganz hart –, das Wertkonservative der Union gegen das Strukturkonservative verraten. Sie hat gewissermaßen den strukturkonservativen Teil übernommen, aber den wertkonservativen abgespalten. Und das ist ihr bei dieser Wahl ganz massiv auf die Füße gefallen.
Pokatzky: Ja, sind die Grünen nun auf dem Weg zur Volkspartei? Was müssen sie in Baden-Württemberg noch machen, um demnächst vielleicht stärkste Partei zu werden?
von Lucke: Die Grünen würden ein großes Problem haben, wenn sie Volkspartei in Gänze werden, denn sie haben momentan noch das Phänomen, dass sie beides bespielen, sie sind gleichermaßen die Partei mit dem Überschuss, mit dem Unbedingtheitsanspruch einer großen Aufgabe, des Utopischen. Das Ironische ist ja, dass die Grünen gerade im Gegenwind gewissermaßen eher in den letzten Jahren langweilig zu werden drohten. Die Wahrnehmung der Grünen war ja eine als einer stinknormalen Partei.
Jetzt haben sie durch dieses ungeheure Ereignis der Katastrophe von Fukushima noch mal eine Beglaubigung ihres großen Anspruchs der 80er-Jahre, Menschheitsfragen im Blick zu haben. Das haben sie erfahren. Dadurch bekommen sie eine ganz besondere Seite, aber sie kombinieren sie mit ihrer pragmatischen Seite jetzt, die sie dann volksparteitauglich macht.
Aber sie müssen weiter diesen Widerspruch in gewisser Weise aushalten. Deswegen wird es für die Grünen sehr spannend, dass sie einerseits ihren Anspruch auf mehr Gerechtigkeit, mehr auch Umweltschutz und mehr Erhaltung der globalen Ressourcen aufrecht erhalten mit einem gewissen Unbedingtheitsanspruch, auf der anderen Seite natürlich das versuchen, pragmatisch umzusetzen. Und das verkörpert natürlich auch Herr Kretschmann idealerweise. Er in Württemberg ist genau die Inkarnation dieser wertkonservativen wie auch pragmatischen Seite.