Einstellen, hohes Gericht

Von Stephan Detjen |
Herr Bundespräsident, der Angeklagte. Nach den Regeln des Protokolls steht Christian Wulff immer noch die Anrede mit dem Titel des höchsten Staatsamtes zu. Zwischen beiden Bezeichnungen – Bundespräsident und Angeklagter - tut sich ein Spannungsverhältnis auf, das die ganze Fallhöhe des Sturzes markiert, den Christian Wulff erlebt und durchlitten hat.
Aus dem strahlenden Glückskind der Politik wurde der Protagonist eines Spektakels, das republikanisches Königsdrama und staatsbürgerliches Trauerspiel zugleich war. Auch als Angeklagtem gilt für Wulff die strafrechtliche Unschuldsvermutung. Zugleich hat die Öffentlichkeit bereits ein vernichtendes Urteil über ihn gesprochen. Es steht im Rückblick außer Frage, dass es bei der kampagnenartigen Jagd auf Wulff über weite Strecken nicht mehr mit gerechten Dingen zuging.

Die Aufklärungs- und Wächterfunktion traditioneller Medien stand lediglich am Anfang der Affäre. Investigativ recherchierende Redaktionen hatten mithilfe höchstrichterlicher Anweisungen Einsichtsrechte in Grundbücher erwirkt, ohne dass sich die ursprünglichen Verdachtsmomente erhärten ließen.

Es kennzeichnete den Fortgang der Affäre, dass die Substanz der Mutmaßungen und Anschuldigungen immer wieder zusammenschmolz. Irgendwann ging es um die Bobbycars der Kinder. Auch der Eröffnungsbeschluss, mit dem das Landgericht Hannover jetzt die Anklage gegen Wulff zulässt, ist davon gekennzeichnet, dass der Vorwurf noch einmal reduziert wird – von Bestechlichkeit auf Vorteilsannahme.

Es geht um eine Hotelübernachtung im Wert von wenigen Hundert Euro und ein Empfehlungsschreiben aus der niedersächsischen Staatskanzlei. Auf diesen strafrechtlich kaum noch zu fassenden Restvorwurf hat sich reduziert, was zuweilen wie ein Sumpf aus Vetternwirtschaft, zwielichtiger Kumpanei und ominösen Rotlichtverbindungen erscheinen sollte.

Die Recherchen klassischer Medien und Staatsanwälte waren in diesem denkwürdigen Fall immer nur ein Teil der öffentlichen Skandalisierung. Der andere war das diffuse Raunen, Munkeln und Mutmaßen, das sich von halbseidenen Internetforen bis in höchste Partei und Regierungskreise hineinzog.

Hier lag die neuartige und für Christian und Bettina Wulff besonders verletzende Dimension dieser Affäre. Der Prozess, der dem Strafverfahren in Hannover voranging, war ein Prozess tiefer Entwürdigung. Könnte ein Gericht nach der Maßlosigkeit dieser Vorgeschichte jetzt überhaupt noch ein gerechtes Strafmaß für Wulff festsetzen?

Der neue Akt des Dramas, der heute eingeleitet wurde, verspricht ein neues Spektakel sondergleichen. Die Querelen um den Medienzugang zum Münchner NSU-Prozess erlauben eine Vorahnung von dem, was sich im Umfeld des für den 1. November terminierten Prozessauftakts in Hannover abspielen dürfte.

Noch lässt die Strafprozessordnung allen Beteiligten einen Ausweg. Nach wie vor kann das Gericht das Verfahren einstellen, bevor Wulff auf der Anklagebank Platz nehmen muss, wenn sich die Beteiligten darauf verständigen. Voraussetzung ist nach dem Wortlaut des Gesetzes, dass kein öffentliches Interesse an einer weiteren Verfolgung besteht. Dem öffentlichen Interesse an einer Verfolgung des Christian Wulff sollte indes Genüge getan sein.