Fantasie ist unverzichtbar
Heute konkurriert das Theater in Sachen Immersion – sprich dem "Eintauchen" in Welten – mit Techniken der virtuellen Realität. Doch was es trotz aller Innovationsversuche im Theater immer braucht, ist die Fantasie des Zuschauers.
Richard Sennett verficht so ungefähr genau das Gegenteil von dem, was die virtuelle Welt uns verspricht, wenn sie mit dem Schlagwort Immersion winkt. Da geht es viel eher um das anstrengungslose Eintauchen in eine andere Welt, das mühelose Erleben einer erweiterten Realität.
Wem einmal übel geworden ist beim Blick durch eine Virtual Reality-Brille, die einen mitnimmt auf wilde Fahrten durch Fantasielandschaften, der weiß, was die moderne Technik alles an immersiven Erfahrungen zu bieten hat. Da kann der Körper verrückt spielen, obwohl er sich gar nicht selbst bewegt und wir nichts berühren außer der nächsten Stuhllehne, um uns festzuhalten.
Sind immersive Formen des Theaters wirklich neu?
Es scheint also verschiedene Arten der Immersion zu geben. Sie müssen nicht unbedingt über die viel beschworene konkrete Berührung laufen, doch immer über die Sinne. Was aber bedeutet dann Immersion im Theater? Dass wir dem aufklärerischen Anspruch des Theaters den Rücken kehren und ganz in dem Versinken, was wir auf der Bühne – oder wahlweise um uns herum – sehen? Oder geht nicht eher beides zusammen? Derzeit wird ja viel gesprochen über neue Formen des immersiven Theaters, das die Grenzen zu anderen Künsten wie Musik und Installation überschreitet. Aber ist das wirklich neu? Oder ändern sich nur die Formen, die uns Immersion, also Versenkung ermöglichen?
Wer mit älteren Theaterliebhabern aus Berlin spricht, hört häufig, man sei 1988 in Peter Steins "Kirschgarten" "versunken", hätte angesichts dessen, was sich da an Wunderwerk auf der Bühne abspielte, "die Welt vergessen" oder sei "vollkommen darin aufgegangen".
Immersive Erfahrungen – zweifellos! Und zweifellos sind sie durch die Verbindung von extrem komplexer Regie- und Lichttechnik mit höchst subtiler Choreografie und ausgefeilter Schauspielkunst zustande gekommen. Würde dieselbe Inszenierung heute noch dieselben Reaktionen von Überwältigung hervorrufen? Ich würde behaupten, nein.
Gefühle des Eintauchens sind immer kulturell verankert
Denn das, was immersive Erfahrungen bereithalten kann, ändert sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte – genauso wie die Erfahrungen von Geschwindigkeit und Dynamik. Jene Menschen, die in den ersten Eisenbahnen des 19. Jahrhunderts fuhren, kamen sich vor wie von Pfeilen durch die Luft geschossen – dabei fuhren sie höchstens 30 km/h. Damit soll nicht Peter Steins "Kirschgarten" mit alten Eisenbahnen verglichen, wohl aber darauf hingewiesen werden, dass Gefühle des Eintauchens und sich Versenkens immer kulturell und historisch verankert und damit veränderbar sind.
Heute konkurriert das Theater in Sachen Immersion mit den Techniken der virtuellen Realität und unseren Erfahrungen damit – was es sicher nicht leichter macht. Doch was es trotz aller technischen und künstlerischen Innovationsversuche für die Immersion im Theater immer brauchen wird, ist die Fantasie des Zuschauers. Und das könnte sich als ganz großer Vorteil erweisen, denn die wird einem beim Aufsetzen einer Virtual-Reality-Brille ja komplett abgenommen. Da muss man dann nichts mehr selber machen. Das Theater aber, ob immersiv oder nicht, wird immer die Imaginationskraft des Publikums brauchen – und damit die von Richard Sennett beschworene Bereitschaft, sich auch an Widerständigem abzuarbeiten.