Braunschweiger Fußballfans machen Theater
Das Staatstheater Braunschweig bietet Fußballfans eine Bühne. Das Stück "Eintracht ist unser Leben!" fragt danach, was Menschen antreibt, so viel Geld, Zeit und Leidenschaft in einen Sport zu investieren, obwohl der immer mehr zur Ware zu verkommen droht.
"Auf die Fresse! Auf die Fresse!"
Kuttenträger, Ultras, sensible Familienväter: An diesem Abend im Staatstheater Braunschweig trifft die harte auf die zarte Welle.
"Das schönste Spiel meiner Kindheit war im Oktober ´77 gegen den HSV. Es war saueng im Stadion! Papa hatte mich auf die Schulter genommen. Wir standen da wo heute Block 5 ist. Danilo Popivoda spielte den HSV im Alleingang schwindelig!"
Bei Eintracht Braunschweig feiern sie ihre bewegte Vereinsgeschichte. In 120 Jahren viel Auf und Ab: Fans des Fußball-Zweitligisten mussten Demut lernen:
"Das sind diese magischen Momente, wo man eigentlich schon ins Stadion geht und denkt: Das kann heute nichts werden! - und am Ende klappt’s dann halt eben doch und wildfremde Menschen liegen sich in den Armen."
Sagt Henning Lübbe. In den letzten drei Jahrzehnten hat er kaum ein Spiel ”seiner” Mannschaft versäumt. Lübbe beschreibt die Proben für "Eintracht ist unser Leben!" als beglückende Zumutung. 23 Männer und Frauen haben die Theaterleute als Laiendarsteller auf die Bühne geholt, damit sie von ihren Leidenschaften erzählen:
Da ist die alleinerziehende Mutter, die nach einem einzigen Besuch im Stadion nicht mehr loskam vom Rausch der Gefühle, für die der Kontakt zur Mannschaft zum Lebensinhalt geworden ist.
Lisa-Christin Niehaus ist blind. Den Spielen lauscht die 21-Jährige von ihrem Rollstuhlplatz in Block 4:
"Wenn die Stimme ein bisschen höher geht, dann merkt man schon, das was passiert. Es wird ja alles haarklein beschrieben, zum Beispiel wo die Jungs gerade stehen. Wenn ein Tor fällt, kippt man fast aus dem Rollstuhl! Eintracht bedeutet für mich Emotion pur! Und vor allem werde ich so akzeptiert, wie ich bin!"
Ein blau-gelbes Fahnenmeer
Emsige Recherchen waren dem Theaterprojekt vorausgegangen: An einem Sonntag im Dezember sitzt Chefdramaturg Axel Preuß hoch oben im Stadion, um die Rituale der Verehrung zu studieren. Ergriffen lauscht er den an- und abschwellenden Fangesängen.
"Der Vorsänger ist wie der Chorführer in der Antike: Er steht im Dialog mit der Kurve, mit den singenden Fans, und natürlich ist er derjenige der sehen muss, welche emotionale Situation die Mannschaft gerade durchleidet."
Rhythmisches Klatschen dringt aus dem blau-gelben Fahnenmeer der Ultras.
Regisseur Michael Uhl rückt den Fans mit Schreibbock und Mikrophon zu Leibe.
"Da ist eine Neugierde, Menschen zu treffen, die dem Verein und dem Fußball ja doch einiges unterordnen. Und das ist mir ehrlich gesagt ein bisschen fremd. Für mich ist das gerade auch eine Reise zurück zu den Wurzeln – wo Fußball herkommt. Es gibt ein paar Akteure, die Spieler sind, genauso wie es Spieler auf der Bühne gibt. Es gibt ein paar Regeln – aber was passiert, weiß man nicht als Zuschauer. Und im guten Theaterstück weiß man das auch nicht. Es gibt eben nur den Moment, den man gemeinsam erlebt!"
Torsten Lieberknecht hat die Eintracht aus der Versenkung geholt und 2013 nach 28 Jahren wieder in die erste Liga geführt. Es folgte allerdings der schnelle Wiederabstieg. Als Lokalpatriot hat der Trainer seine Liebe zum Theater entdeckt:
"Wir haben schöne Momente auch zusammen erlebt mit der Kultur hier in Braunschweig! Das Theater spielt für Braunschweig - und wir mit der Eintracht spielen auch für Braunschweig!"
Seit einigen Jahren beziehen die Theaterleute die Stadtbevölkerung in ihre Projekte ein. Im Stadion wähnt Dramaturg Preuß die Bewohner der Löwenstadt in ihrer ganzen kulturellen Vielfalt versammelt, über alle sozialen Grenzen hinweg, einzigartig im Zusammenhalt.
"Es gibt die Fans, die in den Business seats Platz genommen haben. Das sind die, die natürlich viel Geld geben und deshalb auch dem Verein viel Geld in die Kasse spülen, die der Verein braucht, um konkurrenzfähig zu bleiben. Auf der anderen Seite gibt es die Fans, die einfach den Sport lieben, denen es relativ egal ist, ob ihre Truppe oben oder unten in einer Liga spielt. Die wollen Emotion, die wollen nicht gegängelt werden, durch irgendwelche Sicherheitsvorschriften, die die Deutsche Fußballliga natürlich an allen Ecken und Kanten aufstellt, damit der Fußball ein sauberes, keimfreies Produkt wird -ein Horror eigentlich!"
Was bleibt von diesem Theaterabend, der mehr sein will, als die bloße Zurschaustellung einer Subkultur, in der das Fan-Sein zum Familienersatz geworden ist? Die Unterhaltungsware Fußball ist unser wichtigstes Gesellschaftsspiel. Dabei geht es auch um die Verteidigung von Freiräumen. Darüber wird zu reden sein: Was uns wirklich wichtig ist!