Schallplatten erzählen Geschichten deutscher Emigranten
Bis 1914 verließen zahlreiche Deutsche ihre Heimat in Richtung USA - viele landeten in New York. Schallplatten über den Alltag der Immigranten halfen Neuankömmlingen, ihre Sehnsucht zu überwinden. Im Ellis Island Immigration Museum werden sie gesammelt und übersetzt.
Eric Byron, ein Mann mit krausem, weiß-grauem Haar, akkurat gestutztem Schnurrbart und straff gezogenen Hosenträgern, steht vor einem antiken Schallplattenspieler aus Walnussholz und zieht das Gerät mit einer Kurbel auf. Wir befinden uns im dritten Stock des Ellis Island Immigration Museum auf der gleichnamigen Insel im Hudson River, kurz vor Manhattan.
Ellis Island war lange Zeit Sitz der Einreisebehörde für New York – und eine Sammelstelle für Immigranten in die USA. Von ihnen stammen auch die teils über 100 Jahre alten Schallplatten, die Byron gesammelt hat.
Die Schellackplatten sind so empfindlich, dass Byron für jede Wiedergabe eine neue Nadel verwendet. Die Aufnahmen, die er seit 18 Jahren für das Ellis Island Museum aufspürt, katalogisiert und auswertet, sind in vielen Sprachen verfasst – auch auf Deutsch. Es sind kurze Musikshows, Dialoge und Geschichten über den Alltag der Einwanderer, aufgenommen für die Neuankömmlinge aus der alten Heimat – zu einer Zeit, in der es noch kein Radio gab.
"Kinder, Weibsvolk und everybody"
In dem Stück "Wie man Englisch lernt": In diesem Stück aus dem Jahr 1915 beschreibt der deutsche Immigrant Karl Frischer, wie man in den USA einer Frau seine Liebe gestand – in einem ungewöhnlichen Mix aus Deutsch und Englisch:
"Ladies and Gentlemen, Kinder, Weibsvolk und everybody. Mein Name ist Heinrich Friedrich Wilhelm Luis Lutz Putzelheimer von Blitzenhausen. Ich bin noch nicht sehr lange in Amerika, hab aber schon ein sehr schönes Mädchen kennengelernt. Das einzige Unglück ist: She is Irish. Und ich kann noch nicht so gut Englisch sprechen ..."
Byron: "Auf den Aufnahmen sind die Sprachen der Immigranten zu hören. Es ist eine unbeschreibliche Mischung aus Englisch und verschiedenen anderen Einflüssen wie Norwegisch, Italienisch oder auch Deutsch. Ein Beispiel ist das Wort 'gelunched', das in einer Aufnahme zu hören ist – eine Mischung aus dem englischen 'lunch', dem Mittagessen, und der deutschen Vergangenheitsform."
"Mein liebes, liebes Zuckerherz, my dear little sweet sugar heart, seitdem ich mich mit dir verbunden habe – das ist nicht so leicht von Deutsch ins Englische zu übersetzen ..."
Phonograph statt Kuscheltier
Zwischen 1880 und 1924 immigrierten über 26 Millionen Menschen in die USA. Viele Einwanderer kamen aus England, Irland, Deutschland und Skandinavien, aber auch viele aus Italien, Russland und Österreich-Ungarn. Sie flohen vor bitterer Armut und religiöser Verfolgung, vor allem vor dem zunehmenden Antisemitismus in Europa. Die tausenden Schellackplatten, die der 67-jährige Anthropologe Eric Byron für das Ellis Island Museum auf Flohmärkten, in Gebrauchtwarenläden und Internetauktionen gesammelt hat, zeugen von dieser Zeit. Die Leidenschaft für Tonaufnahmen begleitet Byron seit seiner Kindheit:
"Mein Vater war Elektrotechniker, deshalb war ich schon als kleines Kind umgeben von Technik. Normalerweise, wenn du ein kleiner Junge bist, schläfst ja mit einem Stofftier im Arm ein. Meine Eltern aber gaben mir stattdessen ein 45er RPM Phonographen, mit Bildern aus dem Märchen Alice im Wunderland darauf. Mit diesem Phonographen im Arm bin ich jede Nacht eingeschlafen (lacht). Es hat also früh angefangen."
Die Aufnahmen der New Yorker Immigranten stammen aus einer Zeit, in der ein Grammophon so neu und reizvoll war wie für uns heute Smartphone und Tablet-Computer: jeder wollte einen besitzen. Findige Geschäftsleute aus New York gründeten schnell erste Plattenlabels – und entdeckten die Einwanderer als Kundschaft. Offenbar sehnten sie sich nach langer, strapaziöser Überfahrt nach Klängen aus der Heimat und wollten am gesellschaftlichen Fortschritt teilhaben. Trotz hoher Kosten.
Eine mühsame Arbeit
"Die Schallplatten waren in der damaligen Zeit recht teuer. Während des Ersten Weltkriegs kostete eine 10-Inch-Platte etwa 75 Cent, eine 12-Inch-Platte war bedeutend teurer – sie kostete bis zu 7 Dollar. Und das, obwohl viele Immigranten nicht mehr als 5 Dollar pro Woche verdienten! Das Interesse an den Platten rührt vermutlich daher, dass Immigranten seit den 20er-Jahren Kredite aufnehmen durften – und zwar ausschließlich für Kühlschränke und Phonographen. Aus diesem Grund sind zehntausende Platten entstanden: die Menschen kauften sie!"
Auch die Darsteller versuchten, mit den Auftritten ein möglichst gutes Geschäft für sich herauszuschlagen. Für einige war das große Ziel: der Broadway.
"Ich denke, viele Darsteller aus den Hörstücken wollten über ihre Rollen ins Showgeschäft einsteigen. Sie hatten realisiert, dass ihnen dieser Markt gewisse Chancen bietet. Manche blieben bei den Plattenaufnahmen, andere wiederum schafften den Absprung ins Theater."
Die meisten Geschichten plätschern humorvoll bis seicht vor sich hin, kippen aber bisweilen ins Bösartige. In Beiträgen über andere Einwanderergruppen werden häufig Stereotype verwendet: So wird Juden Geschäftstreiberei nachgesagt, Italienern Faulheit und geringe Bildung. Um die Geschichten auf den Schellackplatten genauer betrachten zu können, müssen sie transkribiert und übersetzt werden – eine mühsame Arbeit, für die Byron auf ehrenamtliche Helfer angewiesen ist. Dafür ist Eric Byron auf Hilfe angewiesen:
Noch vieles unbearbeitet
"Wir freuen uns über Freiwillige, die uns bei der Übersetzung helfen möchten! Professionelle Übersetzer wollen ja für ihre Arbeit bezahlt werden – aber das Geld haben wir nicht. Doch auch ehrenamtliche Übersetzer zu finden, ist nicht einfach: Man muss die zusammengeflickte Sprache der Immigranten verstehen, die mit der Muttersprache oft nicht viel zu tun hat. Manchmal sind auch seltene Dialekte hören. Einige Freiwillige sagten mir: Ich verstehe zwar grob, worum es geht – aber ich kann das nicht übersetzen."
Die meisten deutschen Aufnahmen wurden bereits transkribiert und übersetzt. Vor allem aus dem Italienischen und Jiddischen ist aber noch vieles unbearbeitet. Byron, der mit 67 Jahren an einen baldigen Ruhestand denkt, fürchtet um die Zukunft des Projekt – seines Lebenswerks.
"Ich bin nicht sicher, was aus der Sammlung wird. Ich hoffe, dass sie einen festen Platz bekommt und weiterhin gepflegt wird – am besten hier im Ellis Island Museum, vielleicht in Partnerschaft mit einer Hochschule. Denn unser größtes Problem ist: Wir haben nicht genug Mitarbeiter, die sich um die Auswertung der Aufnahmen kümmern können."