Gefährliche Sehnsucht nach Europa
Hunderte Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr auf dem Wasser kurz vor Italien ums Leben. Um sie schneller retten zu können, haben die Italiener die Operation Mare Nostrum ins Leben gerufen. Viele Menschen konnten so bereits gerettet werden - doch es gibt auch Kritik daran.
Die Boote der Küstenwache liegen zur Zeit eher selten im Hafen von Syrakus – wie dieses fast 20 Meter lange hochmoderne, schnelle und hochtechnische Schlauchboot, das vor ein paar Monaten eigens angeschafft wurde, um Migranten auf dem Meer zu retten. Die Mannschaft ist in diesen Wochen im Dauereinsatz. Und mit diesem Schiff sind sie schon bis vor die libysche Küste gefahren, um zu verhindern, dass Flüchtlingsboote untergehen, sagt Domenico La Tella, der Hafenkommandant:
"Die Boote sind übervoll. Praktisch ohne Sicherheitsvorkehrungen. Und dann sind das Menschen, die noch nie das Meer gesehen haben. Die sind es nicht gewohnt auf einem Boot zu sein. Wenn man sich vorstellt, dass auf einem Boot von zehn Metern Länge mit, sagen wir, 200 Menschen, sich alle auf eine Seite bewegen, dann besteht das Risiko, dass das Boot umkippt quasi zu einhundert Prozent. Wir sind immer bereit, loszufahren. 24 Stunden am Tag. In dem Moment, in dem sie anrufen, ist die Mannschaft an Bord."
Mehr als 58.000 Migranten sind in diesem Jahr schon über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Weitaus mehr als im gesamten letzten Jahr. Und es ist wohl Domenico La Tella und seinen Leuten, den Soldaten der italienischen Marine und vielen anderen Helfern zu verdanken, dass in diesem Jahr weniger Menschen auf dem Mittelmeer gestorben sind als im vergangenen.
Die Flüchtlingsströme in die Häfen dirigieren
Nach dem Unglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, als mehr als 360 Menschen beim Kentern ihres Bootes gestorben waren, hat Italien die Aktion Mare Nostrum gestartet. Seitdem sind die Boot der Marine und Küstenwache weit draußen auf dem Meer unterwegs, um die Menschen aufzunehmen und neue Unglücke zu verhindern.
"Die Situation ist die, dass die Operation Mare Nostrum verhindert, dass die Flüchtlingsboote direkt an den italienischen Küsten ankommen. Nur im letzten Jahr sind rund um Syrakus 11.500 Menschen an Land gegangen, zwischen dem Hafen von Syrakus und dem Hafen von Porto Palo di Capopassero."
Jetzt gehen die Migranten in den größeren Häfen an Land, in Augusta zum Beispiel oder in Porto Empedocle. Wenn oft über tausend auf einmal ankommen, herrscht der Ausnahmezustand. Während 2013 Lampedusa im Fokus stand, weil viele Flüchtlingsboote direkt hier ankamen, ist es auf der südlichsten italienischen Insel jetzt verhältnismäßig ruhig. Dafür ist auf Sizilien die Lage angespannt. Auch hier gibt es zu wenige Plätze zur Unterbringung, die Verteilung der Migranten in andere Regionen Italiens funktioniert schlecht. Giampiero Parinello leitet ein Flüchtlingslager bei Syrakus – für ihn sind die Massenankünfte ein Problem:
"Der ständige Fluss dieser Migranten bringt alle Einrichtungen in Italien dazu, übervoll zu sein. Und dann kommen die Schwierigkeiten. Auch wenn die meisten, die ankommen, wie die Syrer, sich sehr schnell entfernen, weil ihr Ziel nicht ist, in Italien zu bleiben, sondern nach Europa zu ziehen, nach Deutschland, Frankreich, Schweden, Holland…"
Auf eigene Faust in den Norden. So kann man viele der Migranten rund um die Bahnhöfe in italienischen Städten sehen. Manch einer steht am Straßenrand und bietet seine Arbeitskraft an, um etwas Geld zu haben für die Reise. Alle wissen: Man darf sich von den italienischen Behörden nicht die Fingerabdrücke nehmen lassen, sonst wird man aus anderen europäischen Ländern schnell wieder abgeschoben nach Italien. Und möglicherweise hält sich der Ehrgeiz der italienischen Behörden auch in Grenzen, alle zu erfassen.
Schon in Afrika sterben viele
Es gibt Kritik an Mare Nostrum, die lautet: die Operation lockt immer mehr Migranten an, weil die Überfahrt durch sie scheinbar weniger gefährlich ist. Aber der Grund für die steigenden Zahlen sind wohl eher die sich ausweitenden Krisenherde in Syrien, jetzt im Irak in den Staaten südlich der Sahara. Und von einer ungefährlichen Reise kann keine Rede sein. Schon in Afrika sterben viele und auch bei der Überfahrt über das Mittelmeer. Genaue Zahlen sind schwer zu beschaffen. Aber nach Angaben der Organisation Sant’Egidio sind im letzten Jahr 710 Migranten auf dem Seeweg nach Italien umgekommen, im ersten Halbjahr 2014 waren es demnach 207 Menschen – es könnten aber auch mehr sein.
Viele, die sich auf die Reise machen, kommen aus Syrien, viele aus Ländern südlich der Sahara. Und fast alle haben in Libyen, wo die Überfahrt meist beginnt, schlimme Erfahrungen gemacht. Menschen wie Mohammed, den wir in einem Lager in Malta getroffen haben.
Der Inselstaat fährt einen harten Kurs. Migranten, die hier ankommen, werden in geschlossene Internierungslager gesteckt – für bis zu zwei Jahre.
Nackter Beton, Stahlgitter, ein paar Ventilatoren durchquirlen die heiße Luft. Innen laufen Musikvideos im Fernsehen, draußen gibt es immerhin einen steinigen Fußballplatz.
Vertreter von Menschenrechtsorganisationen sagen, viele der Migranten sind kräftig, wenn sie hier ankommen, aber gebrochen, wenn sie irgendwann die Lager wieder verlassen. Auch Mohammed hat eine weite Reise hinter sich:
"Ich habe in Togo gelebt. Mein Vater und meine Mutter sind gestorben, ich habe da niemanden. Und dann bin ich nach Libyen gegangen, das war vor acht Jahren. Aber die Situation in Libyen ist schlecht. Sie haben Menschen getötet, mit denen ich unterwegs war. Und dann hat mir ein Freund gesagt: Mohammed, hier bleiben wir nicht. Wir gehen nach Italien."
Wie viele hier ist auch Mohammed enttäuscht darüber, dass er es nicht bis nach Italien geschafft hat. Alle wollen wieder weg hier.
Schwimmwesten kosten extra
Bis zu zehn, manchmal bis zu 15.000 Euro haben sie für die Überfahrt bezahlt. Schwimmwesten kosten extra. Und die werden gebraucht, wie die vielen Toten auch in diesem Jahr zeigen.
Schon vorher haben Schleuserbanden mehrfach an ihnen verdient und auch wenn sie ankommen, ob in Malta oder auf Sizilien, wird mit ihnen wieder ein Geschäft gemacht. Es hat sich eine regelrechte Migranten-Industrie entwickelt. Mit offiziellen Strukturen, aber auch mit Ausbeutung, Prostitution, Kinderarbeit.
Schon in Afrika haben alle Gewalt erlebt: Frauen werden dort vergewaltigt, Männer geschlagen. Pfarrer Carlo D’Antoni, der seine Kirche in Syrakus für die Flüchtlinge geöffnet hat:
"Die schrecklichen Erfahrungen, die sie gemacht haben, haben sie körperlich und in ihrer Würde verletzt. Schon in ihrem Heimatland, wo Gewalt herrscht, Krieg, Bomben, Gewehre, Messer – da fliehen sie. Und mehr als einen haben wir gefunden, dem es richtig schlecht ging."
Ein Ende ist nicht in Sicht: An den Küsten Nordafrikas sollen nach Angaben des italienischen Innenministers Hunderttausende darauf warten, die Überfahrt nach Europa zu beginnen. Und das, obwohl sich bei vielen herumgesprochen hat, was sie erwartet. Denn das ist immer noch besser als die Lage dort, wo sie herkommen.