Viele Geschäfte stehen vor dem Aus
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Einzelhändler haben ihre Geschäfte voller Ware. Doch nun können sie die Artikel nicht verkaufen, bei Saisonware ist das ruinös. In Berlin stehen viele Einzelhändler vor dem Aus. Doch der Lockdown ist dafür nicht der einzige Grund.
"Utermarck" leuchtet in gelber Schreibschrift über dem Eingang. Bei Utermarck gibt es fast alles: Schulhefte, silberschwarze Füllfederhalter und Bücher, aber auch ein Skatblatt, Topflappen und den roten Läufer für die Tischdekoration. Der Laden befindet sich an einer Hauptstraße in Berlin-Schmargendorf, einem etwas verschlafenen Stadtteil im Berliner Westen.
Hier schließen die Geschäfte am Samstag noch um 13 Uhr – auch Utermarck. Vor acht Jahren übernahm Martin Herrmann das Geschäft. Im ersten Corona-Lockdown, vor einem Jahr, beschloss Herrmann, es aufzugeben.
"Da hat so diese Corona-Geschichte die Unsicherheit, die ja übers Land gekommen ist oder über die Welt, einfach mental mit dazu beigetragen zu sagen, nein, es ist besser, jetzt den Schlussstrich zu ziehen."
Jetzt, ein Jahr später, prangt tatsächlich das Wort "Räumungsverkauf" auf rot-weißen Bannern mitten auf den Schaufenstern. Ende März schließt Utermarck.
"Es waren fünfstellige Beträge seitdem, die ich persönlich quasi aus meiner Altersvorsorge hier reingeschossen habe, immer in der Hoffnung, das fängt sich schon wieder. Aber jetzt ist einfach der Punkt erreicht, wo ich einsehen muss, dass die Hoffnung getrogen hat."
Die Pandemie ist allenfalls der Anlass. In keiner Phase musste Herrmann den Laden schließen. Die Umsätze seien im Corona-Jahr 2020 sogar stabil geblieben, sagt Martin Herrmann, ein ehemaliger Software-Manager, den die Sinnlichkeit des Schreibwaren- und Buchladens reizte.
Es fehlt eine Generation von Buchkäufern
Aber schon seit 2018 rentiert sich das Geschäft nicht mehr. Die Container einer Baustelle verdeckten zwei Jahre lang den Laden. Er war fast nicht mehr sichtbar. Seither blieben die Umsätze schwach. Und es gibt andere Gründe für das Ende.
"Es fehlen mindestens eine, vielleicht sogar zwei Generationen an Leuten, die Bücher lesen. Also wir haben eigentlich hier nie Leute in der Altersgruppe von 15 bis 35, die für sich selber ein Buch kaufen."
Martin Herrmann versuchte, was er konnte, um den Verkauf anzukurbeln.
"Wir haben einen Online-Buchshop, also rein fürs Buchgeschäft, der ist auch nie richtig ans Fliegen gekommen."
– "Morgen!"
– "Guten Morgen, Frau Engelhardt! Wir sind hier gerade im Interview"
- "Ja, das dachte ich mir."
- "Mit Tonaufnahme, da sind Sie jetzt auch mit drauf."
– "Morgen!"
– "Guten Morgen, Frau Engelhardt! Wir sind hier gerade im Interview"
- "Ja, das dachte ich mir."
- "Mit Tonaufnahme, da sind Sie jetzt auch mit drauf."
Geschäfte stehen leer
Frau Engelhardt und ihre Kollegin waren über Jahrzehnte die Stützen des Geschäfts. Martin Herrmann wusste seit langem, dass sie bald gehen würden.
"Es kam hinzu, dass auch die zwei tragenden Mitarbeiterinnen dieses Ladens, die ich schon mit übernommen habe, die seit über 20 Jahren in diesem Laden, der ja eine über 100jährige Geschichte hat, die mir quasi, als ich hier vor acht Jahren neu reinkam, gezeigt haben, wie es funktioniert, die die Kunden persönlich kennen, die gehen beide in Rente dieses Jahr."
Neben Utermarck stehen viele Geschäfte schon leer: eine Konditorei und ein Lederwarenladen – in bester Schmargendorfer Lage. Geschichten wie diese kennt der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen, zur Genüge.
"Corona ist der Brandbeschleuniger für Prozesse, die allesamt natürlich auch, sicherlich über Jahre gestreckt, sich vollzogen haben und auch weiterhin vollziehen werden."
Hilfsgelder reichen nicht
Busch-Petersen rechnet mit einer Pleitewelle unter den Geschäften in Berlin und Brandenburg. Fast 70 Prozent der Mitglieder seines Verbandes sagen, dass die staatlichen Hilfsgelder nicht ausreichten, um das Unternehmen zu erhalten.
"Je nach Monatslage und je nach Hoffnung auf Überbrückungshilfen, die dann wieder nicht kommen, zwischen etwas über 50 und über 60 Prozent, also zwischen der Hälfte und zwei Dritteln aller Kaufleute in den zwangsgeschlossenen Branchen, die davon ausgehen, dass, wenn sich die Lage nicht deutlich ändert, sie im ersten, spätestens im zweiten Halbjahr dieses Jahres schließen. Das sind tausende Geschäfte allein in Berlin und Brandenburg."
Umsatz halbierte sich
Zu den "zwangsgeschlossenen" Branchen gehört Veronica Pohles Damenboutique am Kurfürstendamm.
Hier verkauft Arik Tremmel, Assistent der Geschäftsführung, seit zwölf Jahren Kleider für feierliche Anlässe – auf 220 Quadratmetern. Knallrote, dottergelbe und mutig bunte Kleider aus Samt, Seide, mit Federn und Pailletten, Tüll und Plissée, aus Kreppstoff, Lurex und Jersey.
Auch hier war die Krise schon vor Corona angekommen. Seit 2018 läuft das Geschäft schleppend, wenn auch Tremmel und seine Chefin zunächst noch schwarze Zahlen schrieben – bis Corona kam. Der Umsatz halbierte sich.
"Durch die Corona-Krise: Wir haben hier einfach sehr viel Ware hängen, die sich nicht mehr bewegt seit einem Jahr. Also vor einem Jahr fing es ja an. Und seitdem hängt die einfach hier."
"Naja, es ist immer so der letzte Schubser, und es ist aber auch ein sehr starker Schubser, will ich mal sagen."
Eine Form von Erpressung
Auch Tremmels Chefin gründete ein Online-Verkaufsportal, wirbt jetzt über soziale Medien für ihre Produkte. Bislang ohne größeren Erfolg. Veronica Pohle muss wahrscheinlich schließen. Der Hauptgrund liegt im Kaufverhalten der Kunden.
"Es gibt genug Kunden, die dann auch kommen, was anprobieren, das auch schön finden, diesen ganzen Service, den wir bieten, auch in Anspruch nehmen, den wir ja auch gerne bieten. Und dann stehen sie in der Kabine mit dem Handy, schauen drauf und sagen: 'Hier, bei einem großen Onlinehändler gibt es das Kleid aber jetzt 20 Prozent billiger als bei Ihnen. Verkaufen Sie mir das jetzt für den gleichen Preis?' Und dann stehen sie praktisch mit dem Finger am Button und – ja, es ist dann schon eher so eine Form von Erpressung, die dann stattfindet."
Immer auf Schnäppchen
Ob "zwangsgeschlossen" oder nicht: Dasselbe Klagelied stimmt Martin Herrmann von "Utermarck" an.
"Das hat wirklich, glaube ich, die Kaufgewohnheiten in Deutschland massiv verändert: Immer überall auf Schnäppchen. Ja, also ich muss irgendwas immer zehn Prozent günstiger kriegen als mein Nachbar das gekriegt hat, damit ich beim nächsten Treffen sagen kann: 'Hey, schau her, was ich für ein geiler Hecht ich bin, ich hab das günstiger als Du gekriegt.'"
Martin Herrmann hat die Konsequenzen schon gezogen und schließt seinen Schreibwaren- und Buchladen. In der Damenboutique am Kudamm denken Veronica Pohle und Holger Tremmel noch darüber nach, wie ihr Unternehmen zu retten ist.