Einzigartige Zeichnungen und Aquarelle von Yanomami-Indianern

Von Michael Köhler |
Der Künstler Lothar Baumgarten lebte 1978/79 bei Yanomami-Indianern in Amazonien. In dieser Zeit fertigen sie unter seiner Anregung zum ersten Mal Zeichnungen und Aquarelle an. Die entstandenen Blätter werden derzeit im Essener Museum Folkwang gezeigt - zusammen mit Film- und Tonbandaufnahmen sowie Zeichnungen von Baumgarten von damals.
Hartwig Fischer: "Was wir jetzt zeigen, erstmals, ist etwas ganz und gar Einzigartiges. Es ist die von einem Künstler selbst, im Zusammenwirken und Zusammenleben mit den Indianern geschaffene Sammlung, die das Dokument nicht nur der Kultur selbst der Yanomami ist, sondern auch des Dialogs, die nur aus diesem Kontext heraus entstehen konnte."

Mit dieser ethnografisch geprägten Ausstellung setzt Direktor Hartwig Fischer eine Gründungsidee des Museum Folkwang von 1902 fort, nämlich auch alte und außereuropäische Kunst zu sammeln.

In neun gestalteten Räumen des Untergeschosses mit so poetischen Titeln wie "Augen ohne Ohren", "Die Farbe der Geister", "Stimmen im Wald" usw., sind Pfeilspitzen, Federn, Objekte, Alltagsgegenstände, Fotografien und Zeichnungen versammelt. Man kann die Ausstellung sehen, hören, riechen. Die Wände sind mit Farbe aus geriebenen Pflanzensamen bestrichen und geben einen leichten Geruch ab.

Lothar Baumgarten hat bei den Yanomami-Indianern im Grenzgebiet von Brasilien und Venezuela gelebt, mit ihnen getauscht, ihre Ordnung der Dinge und der Welt geteilt. Kurator Hans-Jürgen Lechtreck sagt zur Gestaltung der Ausstellung

"Also, es ist eine Ausstellung, die Lothar Baumgarten eingerichtet hat, um diese Sammlung von Yanomami Ethnografica in ihrem eigenen Recht zeigen zu können.

Es geht ihm also darum, die Dinge in ihrer gemachten Erscheinung, auch in ihrer gemachten Schönheit vorzustellen, und deshalb hat er sehr viel Mühe darauf gewendet für die Pfeile und Bögen einen Rhythmus zu finden, für die Pfeilspitzen in den Vitrinen eine Form zu finden, die diesen Dingen einen Raum gibt, in dem sie erscheinen können für den Betrachter, sichtbar sind, und zwar auf die beste Weise sichtbar sind."

Die schriftlose Gesellschaft der Yanomami kennt keine Überlieferung in unserem Sinne. Die Muster und Einfärbungen der Pfeilspitzen erzählen die Geschichten der Menschen, die sie gebrauchten.

Als Lothar Baumgarten Notizen in seine Skizzenbücher eintrug, schauten ihm die Indianer über die Schulter, ahmten ihn nach und griffen erstmals zu Papier und Stift, zu Pinsel und Wasserfarbe. Sie nahmen es in ihre Kultur auf. An den Wänden hängen über hundert kleinformatige, farbige Blätter, die so entstanden sind - gezeichnet von den Yanomami.

Sie zeigen abstrakte Formen, Kreise, Striche, Linien, sehr rhythmisch übers ganze Blatt vollformatig verteilt. Man hat den Eindruck, der Geburt von Kunst beizuwohnen.

Lechtreck: "Also Lothar Baumgarten ist ein Forscher, glaube ich, ein Forscher, der versucht, Dinge zusammenzuführen in seinem Werk, die wir immer nur getrennt wahrnehmen können. Und durch diese Zusammenführung uns neue Einsichten – im besten Fall – anbietet."

Die Ausstellung zeigt diese Zusammenführung. Sie führt das Sammeln und Zeigen vor. Sie zeigt Fotos der Indianer aus ihrem Alltag und ihrer Kultur.

Und sie verfremdet und befragt die Alltagsgegenstände wie Speere und Pfeilspitzen. Denn sie werden nicht ausgestellt wie in einer Waffenkammer oder einer ethnologischen Ausstellung, sondern als fremde und befremdliche Objekte. Sie stehen in Gruppen von mehreren Exemplaren wie Nachbarn beisammen.

Baumgarten: "Man guckt ja Dinge an, die man nicht kennt und konnotiert ja irgendwas, Analogien, das ist so ähnlich wie, oder man denkt es gar nicht, oder setzt sich als visuelle Information so ab."

Es geht dem mehrfachen documenta-Teilnehmer Lothar Baumgarten um Maß und um Proportion, im Denken und im Berühren. Die Ausstellung will eine Hommage an die Kultur der Yanomami sein. Sie ist überdies eine Hommage an die indianische und schamanistische Kultur sowie eine Kritik der westlichen Kulturindustrie mit ihren Verwertungszusammenhängen.

Fischer: "Er ist ein überaus kluger, sehr eigenständiger Künstler, der früh begriffen hat, dass die Kommerzialisierung von Kunst als Ware nichts ist, was er bedienen möchte, noch bedienen kann."

So wird der Besucher den Eindruck nicht ganz los, hier doppelt Historischem beizuwohnen, nämlich einer historischen, einer untergegangenen, glücklicherweise dokumentierten Kultur. Und dem kritischen Gestus von Kunst als Gegenwelt, einer Positionen aus den späten 70er-Jahren.

Zur besonderen Qualität zählt das Arrangement der Objekte. Ungerahmte Fotos der Indianer an den Wänden, Körbe und Holzgegenstände am Boden, Federschmuck, Klänge und Filme erlauben noch mal direkter, anders hinzusehen und zu hören.

Fischer: "All das ist ganz und gar einzigartiges Material, um es so profan zu benennen. Und das können wir hier zeigen."
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