"Eis"
Ein hoch gelobtes Debüt aus Schweden, ein Experiment auf Leben und Tod, ein Thriller über existenzielle Themen, über Gehorsam und Verantwortung - der Roman "Eis" von Jerker Virdborg.
Einen Roman mit dem Titel "Eis" aus der Feder eines schwedischen Autors präsentiert zu bekommen, mag kaum überraschen. Wird doch jenseits aller Mittsommernachtsromantik die literarische Produktion Nordeuropas gern vor einer rauhen, oft eisigen Landschaft als Kulisse gedacht, in deren unwegsamen Wäldern das Unheil droht. Der 1971 geborene Jerker Virdborg beweist mit seinem Debüt Mut, indem er dieses Klischee nicht bedient.
Dem Roman "Eis" liegt vielmehr ein kluges und konfliktvolles Denkschema zugrunde, das sich mit dem Motiv des Verrats und des Vertrauensbruchs beschäftigt. Virdborg entwirft bereits in den ersten Sätzen ein Land in Nordeuropa - einiges deutet auf Schweden hin -, das sich in einem Kriegszustand befindet. Doch das Kriegsgeschehen ist weder zeitlich, noch räumlich genau verortet - die Permanenz einer umfassenden Bedrohung umhüllt jede Sequenz, konturiert jedes Bild im Text. Klug inszenierte Details, wie ein klingelndes Handy oder mit verschlüsselten Botschaften gespeicherte CDs, verhindern eine historisierende Einordnung der Handlung (darin dem Roman "Kallocian" (1940) von Karen Boye verwandt). Die Erzählweise konzentriert sich vielmehr darauf, Koordinaten zu entwerfen, in denen das Motiv umfassenden Verrats facettenreich entfaltet und raffiniert durchgespielt werden kann.
Die Idee zum Roman, so Virdborg in einem Interview, ging von einem Bild aus, das ihn lange Zeit beschäftigte: eine vom kalten Mondlicht eingehüllte Gruppe von Schlittschuhläufern ist gezwungen, in gleichgeschalteten, kraftvollen Bewegungen ein gefrorenes Meer zu überqueren. Für den Autor - der neben Literatur-, auch Film- und Musikwissenschaft studierte - ein Gleichnis für die totale Vereinzelung und extreme Machtlosigkeit, die nur in einer strengen Hierarchie entstehen kann. Der daraus entstandene Plot seines Romans trägt dieses Bild in sich und ist schnell erzählt:
Vier junge Männer - ausgesuchte Spezialisten -, die sich nur wenige Stunden kennen, werden zu einem Spezialtrupp formiert, um eine ihnen unbekannte Fracht über den zugefrorenen Seeweg, durch feindlich besetztes Schärengebiet zu bringen. Sollten sie das Ziel nicht rechtzeitig erreichen, zerstört sich der Inhalt der Fracht selbst.
Doch die Bedeutung des geheimnisvollen Auftrags (die Aktion "Schwarze Krabbe", wie auch der schwedische Originaltitel lautet), bildet im Roman nur den Punkt, von dem aus die Landschaft des Erzählten überblickt werden soll. Die endlos scheinende Weite der bizarren, schwarzen Eisfläche verwandelt sich dabei zu einer inneren Landschaft, in der unterdrückte Ängste und Sehnsüchte lauern. Sehr einprägsam wird zudem geschildert, dass sich die Männer die unheilvolle Fracht mittels Rucksack selbst auf den Rücken geladen haben: die Todesangst sitzt ihnen damit im Nacken. Ein Ballast, der nicht abzuschütteln ist und - darauf konzentriert sich die Darstellung - ein Auftrag, der ohne Widerstand zu leisten, ausgeführt wird. Dabei gehen Virdborgs Figuren nicht naiv ins Geschehen, sie alle haben bereits - wie P.O.Enquist es nannte - ihre "Frostschäden an der Seele". So stellt sich die Frage, warum sie nicht in der Lage sind, eine andere "Blickrichtung" einzunehmen und es vorziehen, unter der ihnen bekannten "Willkür", voll Misstrauen gegeneinander zu leben. Über eindringliche, sehr gelungene Sprachbilder und eine eigenwillige Strategie syntaktischer Auslassungen entsteht ein erzählerischer Sog, der die Wahrhaftigkeit des von einem Erzähler Geschilderten bis zum Schluss anzweifelt. So wie die Schlittschuhläufer im Roman schlittert auch der Leser über vorgefertigte Meinungen und bequeme Denkmuster hinweg und begibt sich auf dünnes Eis, wenn er dem Erzählten blindlings vertraut.
Indem Jerker Virdborg existentielle Grenzsituationen durchspielt, gibt sich sein Roman "Eis" als eine Parabel zu erkennen, in der sich die Kälte zwischenmenschlichen Verrats wie eine Eisschicht auf das Geschehen legt, unter der alles zu erstarren droht.
Jerker Virdborg: Eis
Aus dem Schwedischen übersetzt von Susan Bindermann und Pär Hakeman
Reclam Leipzig 2005, 255 Seiten
Originaltitel Svart Krabba. Norstedt Förlag 2002
Dem Roman "Eis" liegt vielmehr ein kluges und konfliktvolles Denkschema zugrunde, das sich mit dem Motiv des Verrats und des Vertrauensbruchs beschäftigt. Virdborg entwirft bereits in den ersten Sätzen ein Land in Nordeuropa - einiges deutet auf Schweden hin -, das sich in einem Kriegszustand befindet. Doch das Kriegsgeschehen ist weder zeitlich, noch räumlich genau verortet - die Permanenz einer umfassenden Bedrohung umhüllt jede Sequenz, konturiert jedes Bild im Text. Klug inszenierte Details, wie ein klingelndes Handy oder mit verschlüsselten Botschaften gespeicherte CDs, verhindern eine historisierende Einordnung der Handlung (darin dem Roman "Kallocian" (1940) von Karen Boye verwandt). Die Erzählweise konzentriert sich vielmehr darauf, Koordinaten zu entwerfen, in denen das Motiv umfassenden Verrats facettenreich entfaltet und raffiniert durchgespielt werden kann.
Die Idee zum Roman, so Virdborg in einem Interview, ging von einem Bild aus, das ihn lange Zeit beschäftigte: eine vom kalten Mondlicht eingehüllte Gruppe von Schlittschuhläufern ist gezwungen, in gleichgeschalteten, kraftvollen Bewegungen ein gefrorenes Meer zu überqueren. Für den Autor - der neben Literatur-, auch Film- und Musikwissenschaft studierte - ein Gleichnis für die totale Vereinzelung und extreme Machtlosigkeit, die nur in einer strengen Hierarchie entstehen kann. Der daraus entstandene Plot seines Romans trägt dieses Bild in sich und ist schnell erzählt:
Vier junge Männer - ausgesuchte Spezialisten -, die sich nur wenige Stunden kennen, werden zu einem Spezialtrupp formiert, um eine ihnen unbekannte Fracht über den zugefrorenen Seeweg, durch feindlich besetztes Schärengebiet zu bringen. Sollten sie das Ziel nicht rechtzeitig erreichen, zerstört sich der Inhalt der Fracht selbst.
Doch die Bedeutung des geheimnisvollen Auftrags (die Aktion "Schwarze Krabbe", wie auch der schwedische Originaltitel lautet), bildet im Roman nur den Punkt, von dem aus die Landschaft des Erzählten überblickt werden soll. Die endlos scheinende Weite der bizarren, schwarzen Eisfläche verwandelt sich dabei zu einer inneren Landschaft, in der unterdrückte Ängste und Sehnsüchte lauern. Sehr einprägsam wird zudem geschildert, dass sich die Männer die unheilvolle Fracht mittels Rucksack selbst auf den Rücken geladen haben: die Todesangst sitzt ihnen damit im Nacken. Ein Ballast, der nicht abzuschütteln ist und - darauf konzentriert sich die Darstellung - ein Auftrag, der ohne Widerstand zu leisten, ausgeführt wird. Dabei gehen Virdborgs Figuren nicht naiv ins Geschehen, sie alle haben bereits - wie P.O.Enquist es nannte - ihre "Frostschäden an der Seele". So stellt sich die Frage, warum sie nicht in der Lage sind, eine andere "Blickrichtung" einzunehmen und es vorziehen, unter der ihnen bekannten "Willkür", voll Misstrauen gegeneinander zu leben. Über eindringliche, sehr gelungene Sprachbilder und eine eigenwillige Strategie syntaktischer Auslassungen entsteht ein erzählerischer Sog, der die Wahrhaftigkeit des von einem Erzähler Geschilderten bis zum Schluss anzweifelt. So wie die Schlittschuhläufer im Roman schlittert auch der Leser über vorgefertigte Meinungen und bequeme Denkmuster hinweg und begibt sich auf dünnes Eis, wenn er dem Erzählten blindlings vertraut.
Indem Jerker Virdborg existentielle Grenzsituationen durchspielt, gibt sich sein Roman "Eis" als eine Parabel zu erkennen, in der sich die Kälte zwischenmenschlichen Verrats wie eine Eisschicht auf das Geschehen legt, unter der alles zu erstarren droht.
Jerker Virdborg: Eis
Aus dem Schwedischen übersetzt von Susan Bindermann und Pär Hakeman
Reclam Leipzig 2005, 255 Seiten
Originaltitel Svart Krabba. Norstedt Förlag 2002