Eis-Zeiten

Von Udo Pollmer |
Wenn im Januar endlich die Seen zufroren, dann rannten die Kinder früher zum Eislaufen und die Älteren zum Eisstockschießen. Heute gibt es das ganze Jahr künstliches Eis - in Eissporthallen genauso wie im Privathaushalt in der Tiefkühltruhe.
Der Monat Januar war vor 100 Jahren noch ein typischer Erntemonat, so wie der August. Geerntet wurde damals aber nicht frostharter Kohl, sondern Natureis. In großen Blöcken wurde es aus der Eisfläche von Seen und Flüssen gesägt und in die Lagerhäuser verbracht. Es war die einzige Möglichkeit, Vorräte eine gewisse Zeit zu kühlen. Das galt vor allem für Produkte, die nur in der kalten Jahreszeit hergestellt werden konnten - wie ein helles Bier: Bis auf 5 Grad musste die Bierwürze vor der Gärung heruntergekühlt werden. Im April endete vielerorts die Brausaison. Der fertige Gerstensaft lagerte derweil in speziellen Eiskellern, die mit Schatten spenden Kastanien bepflanzt waren. Daher übrigens der internationale Name "Lager" für das, was bei uns ein "Helles" ist.

Im Sommer wurde aus dem Eis natürlich auch Speiseeis hergestellt. Es war heiß begehrt und galt folgerichtig als "ungesund". Der kleine Johann Wolfgang von Goethe jammerte noch darüber, dass seine Mutter das Eis, das man ihm geschenkt hatte, einfach wegschüttete. Die Kälte verdirbt den Magen, hieß es, und da nutzte auch ein hoher Zuckergehalt nichts mehr – denn Zucker war im Volksglauben das, was heute die Vitamine sind. In der Enzyklopädie Larousse wurde 1892 ausdrücklich vor gekühlten Getränken gewarnt: "Dieser Brauch fordert zahlreiche Opfer, namentlich unter den Frauen". Er hätte nämlich Schwindsucht zur Folge. Diese führe nicht nur zu Schlankheit – damals eine grauenvolle Vorstellung für die Damenwelt – sondern zu allem Überfluss auch noch zum Tode.

Mitte des 19. Jahrhundert wird die Natureis Gewinnung industrialisiert. Mit Spezialgeräten wird das glasklare, fehlerfreie Kerneis aus den Seen gewonnen, ohne Einschlüsse von Schnee, Luftblasen oder Verunreinigungen. Die Größe der Eisblöcke wird exakt vorgegeben, um den Transport zu erleichtern und Lagerfläche zu sparen. Mit diesem Eis beliefern US-amerikanische Konzerne Europa, namentlich England – aber auch Südamerika, Australien, China und Indien. Der Handel mit Eis wurde dadurch zu einem interkontinentalen Fernhandel, Jahr für Jahr werden Hunderttausende von Tonnen per Schiff und Eisenbahn transportiert.

Für die Fleischwirtschaft sollte sich das als Glücksfall erweisen. Vieh wurde meist nur im Winter geschlachtet, im Frühjahr schlossen die paar Schlachtbetriebe. Wenn man das Frischfleisch in der Kälte pökelte, so hielt es sich bis in den Herbst. In Südamerika schlachtete man die Rinderherden sogar nur wegen ihrer Häute, ihr Fleisch war wertloser Abfall. Doch mit dem Natureis änderte sich der gesamte Markt. Teilweise wurden sogar Eisberge aus der Antarktis bis nach Peru geschleppt. Nun konnte man Fleisch gekühlt über weite Strecken transportieren. Und die Schlachtbetriebe konnten dank der Eiskühlung das ganze Jahr über produzieren. Lebendtransporte von Tieren wurden unwirtschaftlich – mit Eis passten fünfmal mehr Rinderhälften in einen Waggon.

Einen neuen Schub bringt die Entwicklung künstlicher Kälte. Das erste Fleischgefrierwerk entsteht in Sidney. Nun können Australien und Argentinien Fleisch bis nach Europa liefern. Dank der Kühlung entstehen auch bei uns Schlachthöfe, Hausschlachtungen verlieren an Bedeutung. Dadurch wurde eine wirksame Fleischbeschau möglich. Ab 1880 werden die Käsereifereien mit Kühlanlagen ausgestattet, seither lassen sich Roquefort, Cheddar und Gorgonzola ganzjährig produzieren. Bald kommen auch Obst und Gemüse aus fernen Ländern auf den Tisch. Bananendampfer bringen frische Früchte nach Nordamerika und Europa. Auch Eier, ein verderblicher Saisonartikel, gibt’s das ganze Jahr über.

Die globale Arbeitsteilung in der Nahrungsproduktion hat auf breiter Front begonnen. Die Kühltechnik beendet die Zeit des Salzfisches, des Pökelfleisches und der Trockenfrüchte. Das markiert einen Wendepunkt in unserer Ernährung: Seither kommen frisches Fleisch, frischer Fisch und ein breites Angebot an Obst und Gemüse auf den Tisch – und das im Sommer wie im Winter. Mahlzeit!

Literatur:
Hellmann U: Künstliche Kälte. Anabas-Verlag, Gießen 1990
Geer RM: On the use of ice and snow for cooling drinks. Classical Weekly 1935; 29: 61-62
Kittel JB: Süßigkeiten bei Goethe. Kazett, Dresden 1927
Briley GC: A history of refrigeration. ASHRAE Journal 2004; Suppl: S31-S34
Reinke-Kunze C: Die Packeiswaffel. Birkhäuser, Basel 1996
Stott P: The Knickerbocker Ice Company and inclined railway at Rockland Lake, New York. Journal of the Society for Industrial Archeology 1979; 5: 7-18
Harris WE, Pickman A: Towards an archaeology of the Hudson River ice harvesting industry. Northeast Historical Archaeology 2000; 29: 49-82
Blain BB: Melting Markets; The Rise and Decline of the Anglo-Norwegian Ice Trade, 1850-1920. Working Papers of the Glocal Economic History Network, London 2006; 20
Procter DV: Ice carrying trade at sea. Maritime Monographs & Reports 1981; 49
Gifford-Wood Co: How to Harvest Ice. Hamilton, Albany 1912