Eisbaden

Vom Warmduscher zum Winterschwimmer

23:02 Minuten
Mario von den "Berliner Seehunden". Winterschwimmer mit Bademantel im eiskalten Wasser.
Bei den "Berliner Seehunden" haben sich die Winterschwimmer organisiert und gehen zusammen ins eiskalte Wasser. © Deutschlandradio/Fritz Schütte
Von Fritz Schütte |
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Winterschwimmer lassen sich von tiefen Temperaturen nicht schrecken, ganz im Gegenteil. Nach der ersten Überwindung und dem Sprung ins Wasser beginnt für die Wassersportler das eisige Vergnügen. Das große Zittern danach gehört auch dazu.
"An so Tagen, wo es so nieselig ist, so grau und so, dann ist es echt eine Überwindung: oh, jetzt ins kalte Wasser. Es gibt so Tage, wo es echt schwer ist", sagt Matthias Kaßner. Das Wetter: zunächst dicht bewölkt, später sonnige Auflockerungen. Abends erneut Wolken bei zwei bis vier Grad Celsius.
Es ist der letzte Sonntag im November. Vom S-Bahnhof Schlachtensee in Berlin-Zehlendorf sind es nur wenige Schritte bis zum gleichnamigen See. Jogger mit Mütze auf dem Kopf sind unterwegs. In der Ferne läuten Kirchturmglocken. "Das Wasser hat gerade so knapp unter sieben Grad hier im Schlachtensee." Kaßner wirkt fröhlich, wenn man bedenkt, was ihm bevorsteht. "Ich schwimme jetzt so circa 20 Minuten."
Vor elf Jahren entdeckte Kaßner das Freiwasserschwimmen für sich. Er durchquerte die Straße von Gibraltar den Ärmelkanal und den North Channel. Wer durch 27 Kilometer raue See von Irland nach Schottland schwimmen will, muss einen Kältetest bestehen. Dafür trainiert er in heimischen Gewässern.
"Nun habe ich am Anfang aber überhaupt keine Idee gehabt, wie man im Winter schwimmt. Es gab zu der Zeit keine Winterschwimmer, jedenfalls nicht in Berlin, und nicht, dass es mir bekannt war." Den Sport habe es noch nicht gegeben. "Deswegen bin ich zu den Berliner Seehunden gegangen. Das sind Winterbader, die haben es nicht erlaubt, dass jemand schwimmt."
Eine Vorsichtsmaßnahme vermutlich. Jahrelang hat Kaßner an Wochenenden tief Luft holend in eiskaltem Wasser ausgeharrt. "Dann bin ich aber hier mal zum Schlachtensee gegangen und einfach mal so 200 Meter geschwommen. Das war ein Riesenschritt für mich."
Er wusste, dass er gut zehn Minuten bei Kälte aushält. "Aber ich wusste nicht, was passiert, wenn ich den Boden unter den Füßen verlasse. Was passiert dann? Was passiert in meinem Kopf? Weil am Anfang, wenn man es nicht gewohnt ist, hat man, wenn man den Kopf ins Wasser gut, so einen Schmerz in den Nebenhöhlen." Das hatte er die ersten Jahre ziemlich stark.

Mit Überwindung ins Wasser

"Hi, Peggy. Hallo, ich bin schon wieder zu spät." Kaßner hat schon die Badekappe auf, als Trainingspartnerin Peggy Henning dazu kommt. Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt müssen sich beide überwinden, ins Wasser zu gehen.
"Rein geht, aber dieses Danach, das ist furchtbar." Dann werde es immer schwierig, sich zu motivieren, reinzugehen. "Ich starte schon mal, wir sehen uns."
Ohrstöpsel drinnen. Matthias ist schon in seiner eigenen Welt. "Wo schwimmt er hin? Wieder rüber? Aber nur in Sichtweite, nicht um die Ecke. Es ist extrem kälter geworden im Vergleich zum letzten Mal. Ich merke ja immer jedes null Komma, und das sind dieses Mal, glaube ich, zwei Grad. Okay, ich mache mal los."
Peggy zieht eine Boje hinter sich her. "Alle Welt hat Mitleid mit den Schwimmern, und wir, die Begleiter, stehen immer draußen und zittern. Es ist immer so kalt", sagt Matthias Kaßners Ehefrau Ina. Sie behält die Badekappe ihres Mannes im Auge. Wenn es sehr kalt ist, packt sie seinen Rucksack und begleitet ihn am Ufer. "Sollte er dann schnell raus müssen, stehe ich da mit seinen ganzen Anziehsachen."

Erinnerung an Meisterschaft in Russland

Was mag Kaßner jetzt durch den Kopf gehen? Vielleicht seine Teilnahme an die Eisschwimmweltmeisterschaften 2019 in Russland nördlich des Polarkreises. "Das Wasser da hatte wirklich null Grad", erzählt er. "Die haben permanent aus dem Becken, das die da ins Eis geschnitten hatten, Eis rausgefischt, weil das immer wieder gleich zugefroren ist. In Murmansk bin ich 17 Minuten und irgendwas geschwommen. Das weiß ich nicht mehr genau."
Nach tausend Metern bei null Grad sei man dann schon ein bisschen in seiner eigenen Welt. "Das, was so um einen herum passiert, das kriegt man dann nicht mehr so wirklich mit. Ich habe da gesessen und gezittert. Die haben mir immer wieder nasse, heiße Handbücher umgelegt. Eine Frau hat immer bloß die Handtücher zu den anderen geworfen. Es sind auch viele Schwimmer, die die da hatten."
Kaßner sieht krebsrot aus, als hätte er sehr lange in der Sonne gelegen. "Was auch wichtig ist, wie seine Hautfarbe sich ändert. Jetzt schön durchblutet, das kann noch röter werden. Wenn das anfängt so ganz fahl zu werden, so gräulich, ist das ein gefährliches Zeichen." Es reicht ihm jetzt. Das waren 20 Minuten. Kaßner trocknet sich hastig ab. Hauptsache, schnell in die Sachen reinkommen.

Das große Zittern

"Ich glaube, so fünf Minuten oder so und dann fängt man an zu zittern. Also, es dauert einen Moment. Das geht nicht sofort los. Man hat immer noch Zeit, sich anzuziehen und dann fängt man an zu zittern."
Durch das Zittern werde man dann auch warm, immer wenn man nach so einem Schwimmen anfange zu zittern, wisse man, dass die Welt noch in Ordnung sei. "20 Minuten ist es so, dass ich so richtig doll zittere. Ich kriege dann so weiße Hände, die sind dann gar nicht mehr so richtig durchblutet. Das sieht man dann auch."
Bei extremer Kälte pumpt der Körper kein Blut mehr in Hände und Füße. Aber dann zum Aufwärmen die Arme durch die Luft zu schleudern, wäre nicht sinnvoll, denn es würde noch kaltes Blut in die Körpermitte zurückpressen.
"Siehst du, jetzt geht es los mit dem Zittern. Also, jetzt geht es noch, aber wenn es so richtig Winter ist, einen Tee trinken, das fällt einem dann echt schwer, wenn man immer die Hälfte verkippt. Das geht dann nicht mehr."
Kaßner weiß: "Es ist kalt. Der Körper reagiert und sagt: ‚Geh raus!‘ Diese Überwindung ist genau, was wir üben."
Der ganze Trick sei, dass man sich, sobald man im Wasser ist, bemühe, ruhig zu atmen. "Der Körper gerät schon in so einen Panikmodus und wenn du dem nachgibst, könnte alles Mögliche passieren. Aber das ist dann meistens der Punkt, wo die Leute aus dem Wasser rauskommen."
Die "Eisschwimmerin" Alisa Fatum
Die "Eisschwimmerin" Alisa Fatum ist Weltmeisterin und scheut die Kälte nicht. © Chris Fatum
Menschen, die gern in kaltes Wasser gehen, gibt es in der Millionenstadt Berlin auch in anderen Gewässern. Es ist der erste Samstag im Dezember. Am Ufer der Spree wartet Jakob Neumann auf Verabredungen, die er über den Messenger-Dienst Telegram getroffen hat. Keine Verpflichtung, kein Stress. Alles kann, nichts muss. Die "Icedippers", wie sie sich nennen, sehen das locker.
"Man kann es so als persönliche Reise sehen, dass man sich bemüht, sich zu steigern, sich zu verbessern", sagt Neumann. "Aber gleichzeitig wird das Wasser hier immer kälter. Wenn du letzte Woche elf Minuten drinnen warst, dann ist das Wasser diese Woche kälter und dann sind diese Woche zehn Minuten das, was du schaffst."

Selbstfindung oder Abenteuer

Nach und nach trudeln Teilnehmer ein. International, Mitte bis Ende 20, in Berlin zur Selbstfindung oder auf Abenteuersuche. Niemand muss sich vorstellen. "Das einzige, was wir euch raten, versucht länger als 30 Sekunden auszuhalten, denn so lange braucht der Körper, um zu merken, dass er nicht wirklich in Gefahr ist", gibt Neumann erste Anweisungen.
"Seine erste Reaktion ist: Puh, ist das kalt. Raus hier! Euer Job ist, ruhig weiter zu atmen: Ja, es ist kalt, aber wir können das ein bisschen länger aushalten." Mit der richtigen Atemtechnik sei der Körper zu Leistungen imstande, die der Geist nicht für möglich halte. Das hätten die "Icedippers" vom niederländischen Extremsportler Wim Hof gelernt. "Nehmt 30 tiefe Atemzüge, wiederholt das drei Mal und macht nach dem dritten Mal Ausatmen Liegestütze."
Zehn Frauen und Männer stellen sich in einer Reihe am Ufer auf. Dann klettern sie über eine eiserne Leiter ins Wasser, das bis zur Hüfte reicht, und hocken sich hin. Mit den Händen an den Wollmützen wirken sie wie Yogis.
Leise steht einer nach dem anderen auf und schreitet auf die Leiter zu. "Man kann nicht rauskommen, ohne zu lächeln. – Das ist super, mit Sonne dabei. Es ist unglaublich. – It was great." Nach einer Viertelstunde beendet der Letzte die Andacht.
"Es gibt Leute, die machen noch länger. Letztes Jahr gab es einen Kumpel von uns, der war 45 Minuten drin." "Eigentlich gehe ich jetzt öfter baden als im Sommer." "Gerade wenn ihr euren ersten Winter Eisbaden geht, macht langsam! Das, was wir im Fernsehen sehen von den Eisschwimmweltmeisterschaften, das sind Leute, die machen das Jahre lang. Das sollte man nicht unterschätzen. Das ist Vorbereitung, die dahintersteckt."

Beschäftigung mit Extremsportler Wim Hof

Josephine Worseck aus Potsdam ist promovierte Molekularbiologin und hat sich wissenschaftlich mit Wim Hof beschäftigt. Der Extremsportler, der Stunden lang in Eislöchern verharrt oder unter Eisdecken hindurch taucht, will den Beweis erbringen, dass seine Trainingsmethode vor Infektionen schützt. Das hat Worsecks Neugier geweckt:
"So habe ich Wim kennengelernt, habe die Methode kennengelernt, habe das selbst ausprobiert und war überrascht davon, wie schnell man mit so einer Atemübung entspannen kann und welche Kraft das Eisbad hatte."
Worseck hat eine Ausbildung zur Trainerin nach der Wim-Hof-Methode absolviert. Gerade ist ihr Buch erschienen: "Die Heilkraft der Kälte. Immunsystem stärken, Stress reduzieren, leistungsfähiger werden." Sie sagt:
"Die Wim-Hof-Methode besteht aus Atmen, Mindset und Kälte. Diese Methode ermöglicht es Menschen wie dir und mir, so ein bisschen an unsere Grenzen ranzukommen, also nicht die körperlichen Grenzen zu überschreiten, aber einfach die Grenzen zu überschreiten, die in unserem Kopf sind. Raus aus der Komfortzone, rein in den Bereich, der immer noch möglich ist für den Körper, aber wo wir meistens denken: ‚Nein, das kann ich doch nicht.'"
Wim Hof verspricht auf der Internetseite den Teilnehmern seiner Kurse: "Gesundheit, Glück und Stärke mit der Kraft deines Körpers und Geistes". Dazu Josephine: "Ich glaube, Menschen, die sich mit der Kälte beschäftigen, lernen etwas von dieser gleichen Urquelle, von der Wim auch sein Wissen hat: von der Kälte. Von der Kälte lernt man, loszulassen. Man kann nicht mit Anspannung dagegen ankämpfen. Das Einzige, was hilft, ist dieses Loslassen, und zu sagen: ‚Ich fokussiere mich auf mich, fokussiere mich nach innen.'"
Mindset ist ein Begriff aus dem Coaching. "Arbeit an der inneren Haltung" klingt besser als "den inneren Schweinhund bekämpfen".
Wer sich Kälte aussetzt, kommt voran. "Die Leute, die das schon immer machen, bevor sie irgendwas von Wim Hof gehört haben, ich glaube, die haben oft ein ähnliches Mindset entwickelt", sagt Worseck. "Wir messen noch unterm Gefrierpunkt am Müggelsee und in Eiskeller, jeweils ein Grad. Ansonsten null Grad in Potsdam, Prenzlau und in Berlin-Steglitz."

Das Interesse wächst

So richtig schön: leichtes Eis, blauer Himmel, kein Wind, schön kalt. Ich glaube, das wird heute ein schöner Eisbadetag", sagt Jelena Bundesmann. Sie kennt sich aus und ist im Vorstand der Berliner Seehunde:
"Wir sind eine Betriebssportgemeinschaft von Bergmann-Borsig. Wir sind jetzt 125. Ich bin seit sechs Jahren dabei. Da waren wir 60 und jetzt sind wir praktisch verdoppelt. Es boomt. Es gibt ein Wahnsinnsinteresse. Was machen wir? Wir treffen uns ab Oktober bis April und gehen gemeinsam baden."
Treffpunkt ist das Strandbad am Orankesee. Aber wegen Corona ruht das Vereinsleben. Heute ist Bundesmann mit Mario und Ute am Kaulsdorfer See verabredet. "Dazu gekommen bin ich einfach, weil ich zu viel krank war und gedacht habe, so geht das nicht weiter. Dann habe ich mich an Herrn Kneipp erinnert und dachte: ‚Na dann versuche ich es mal, kostet ja nicht so viel, ins kalte Wasser zu gehen."
Aber richtig Spaß macht es nur gemeinsam. Mario hat den Bademantel geschürzt und zerhackt mit einem Stock die Eisdecke. Mittlerweile dürfen "Seehunde" auch schwimmen, aber Baden steht im Vordergrund.
"Ich bin der Typ: Ich kämpfe zwischen ‚Drei-mal-rein-raus‘ und ‚Dieses Mal halte ich es aber länger aus‘", sagt Mario. "Ich bin der Genießer. Ich gehe kurz rein, gehe dann raus, stehe draußen zwei, drei Minuten und dann das zweite Mal noch mal rein, weil dann macht es richtig Spaß, weil es nicht ganz so weh tut."
Nicht auf die Eisschollen treten! Für den Anfänger hat Bundesmann gute Tipps parat. "Atmen! Atmen! Ich höre euch bis hier. Es ist ein Kribbeln wie von tausend Nadelstichen. Atmen nicht vergessen! Merkst du, wie es anspringt? Merkst du noch was? Vorsicht beim Herauswaten! Jetzt nur nicht ausrutschen!"
Schnell abrubbeln und anziehen. Die Euphorie kommt mit Verzögerung. Eisbaden macht glücklich. "Kaum Wind oder gar kein Wind. Das Wasser ist spiegelglatt, so wie wir es uns eigentlich wünschen." Alisa Fatum hält das Thermometer ins Wasser. "Jetzt zeigt es schon 8,2 Grad und dort, wo wir dann wirklich schwimmen, ist es meist noch ein bisschen kühler."

Weltmeisterin Alisa Fatum am See

Was für ein Unterschied zum Sommer, wenn Badebetrieb herrscht am Kulkwitzer See bei Leipzig. Eines Herbsttages beschloss Fatum, auch im Winter weiterzutrainieren. "Das erste Mal ist sie noch alleine, mein Mann war dann noch mit, und beim nächsten Mal habe ich gesagt: ‚Ich komme mit.‘ Ich bin meistens ein bisschen schneller drin oder schneller weg, aber Alisa ist natürlich so schnell, die holt mich dann immer schnell ein."
Alisas Mutter Petra packt die Badetasche aus: Pullover, Skihose, Thermoskannen. "Wichtig ist, alles für nachher richtig hinzulegen", sagt sie. Alisa Fatum ist 25 Jahre alt, exzellente Beckenschwimmerin, im Freiwasser schneller als viele Konkurrentinnen und auch im Winter imponiert sie mit ihren Leistungen.
"Im Kalten gibt es jetzt momentan noch keinen, der auf der langen Strecke schneller ist als ich." Fatum ist amtierende Weltmeisterin im Winter- und im Eisschwimmen, letzteres bei Wassertemperaturen unter fünf Grad.
"Es ist vor allem auch die mentale Stärke, die wir jetzt trainieren, dass wir wirklich durchhalten, dass wir uns überwinden reinzugehen." Winterschwimm- und Eisschwimmverband tragen abwechselnd Weltmeisterschaften aus. Die ersten fanden im Jahre 2000 in Finnland statt.
Mutter und Tochter bleiben in Ufernähe und orientieren sich an Wendemarken. "Im Sommer machen wir natürlich richtige Runden über den See. Aber jetzt bei den Temperaturen nicht. Bei den sieben Grad würde es auch gehen, aber wenn es dann unter fünf Grad wird, wird es dann schon zu gefährlich." Bei der Eisschwimm-WM haben sie erlebt, dass Teilnehmer aus dem Wasser geholt werden mussten.
"Es gibt ja wirklich Sportler, die die doppelte Zeit von mir brauchen für die tausend Meter. Da ist es schon denkbar, dass denen natürlich auch schwindlig werden könnte", sagt Alisa Fatum und ihre Mutter fügt an: "Die anderen Damen haben ordentlich noch ein bisschen was drauf. Nicht dick, um Himmels willen nicht falsch verstehen. Aber da ist die Alisa doch sehr, sehr schmal."
"Das ist unser Lebenselixier, der warme Tee danach", so Alisa Fatum. "Das ist jetzt wirklich ganz heißer Tee und wenn wir mit dem Schwimmen fertig sind, dann ist der schon so gekühlt, dass man ihn trinken kann und dass er uns von innen langsam wieder aufwärmt."
Petra Fatum stapft ohne zu zögern ins Wasser. Wahrscheinlich denkt sie: Jetzt nur nicht nachdenken! Alisa Fatum hat ihre Mutter auf der kurzen Strecke bald mehrfach überrundet. "So, ich schlüpfe jetzt erst mal in die Schuhe rein, dann geht es noch schön Tee trinken und anziehen."
Jetzt muss jeder Handgriff sitzen, bevor das große Zittern einsetzt. Wichtig ist es, erst den Oberkörper zu bedecken. "Dann kommen ein paar ganz besondere Socken, selbst gestrickte Socken von meiner Oma."
Fatum war heute knapp unter 14 Minuten unterwegs. "Das ist fürs Training schon recht gut. Ich muss einfach noch ein paar Schritte gehen, um wieder ein bisschen aufzuwärmen."
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis auch Petra Fatum ihr Pensum absolviert hat. "Heute habe ich einen Fisch gesehen. Die machen sich sonst jetzt immer ein bisschen rar bei den Temperaturen, aber heute war ein kleiner da. Im Frühjahr sind hier vorn so riesengroße Karpfen, so Graskarpfen oder so."

Rückblick in die DDR-Geschichte

Der 4. Februar 1984 war auch ein Samstag. Damals zeigte das Thermometer 4,4 Grad, als zehntausend Zuschauer, auch um sich warm zu halten, 250 Eisbadenen zujubelten. Die "Leipziger Pinguine" hatten eingeladen. Alle waren gekommen: Die Rügener Zitteraale, die Schweriner Walrosse und die Eisrobben aus Gera. In der DDR gab es 30 Sektionen. Fünf Jahre zuvor hatte die Pionierzeitung "Die Trommel" den Seehundpokal ausgelobt.
"Das Trommel-Treffen hat sich dann mächtig verbreitert, sodass das in vielen Gegenden in der DDR losgegangen ist mit den ganzen Aktivitäten. Es war fast jedes Wochenende irgendwo ein Treffen in der Republik. Man konnte in der kleinen DDR dadurch auch viel hin- und herfahren, von der Ostsee bis ins Erzgebirge. Da lernt man Leute kennen. Das macht Spaß und Freude. Das war eben schön. Das hat jeder gerne gemacht", erzählt Rüdiger Thiem.
Ein Thema auf der 6. Nationalen Gesundheitskonferenz 1977 in Dresden war Abhärtung. So wurde das Eisbaden in der DDR mehr oder weniger geboren?
Thiem aus Potsdam ist heute 67 Jahre alt und topfit. "Husten, Schnupfen, Heiserkeit ist bei mir nie rangekommen." Er ist eines der letzten Exemplare seiner Art. "Wir nennen uns die Havelwale Potsdam. Wir sind zurzeit noch sechs aktive Winterschwimmer. Wir waren mal eine Gruppe über 40."
Die Winterschwimmer waren im Deutschen Schwimmsportverband der DDR organisiert als Freizeit- und Erholungssportler.
"Früher haben wir ganz aktiv erst mal Erwärmung gemacht, Gymnastik, sind wir vom Strandbad Babelsberg aus gerannt, den Weg runter bis Richtung Glienicker Brücke, bis dort sind wir gerannt im Dauerlauf und zurück, und dann ins Wasser rein." Auch um das Strandbad im Winter nutzen zu dürfen, schlüpften die Havelwale unter das Dach der BSG Motor Babelsberg.
"Wir haben auch einen kleinen Obolus bezahlt. Da war man dann Mitglied im Betriebssportverein, hieß das, glaube ich, sogar. Nach der Wende ist das dann auseinandergegangen. Es wurde aufgelöst, da war man eine Weile dann, ich sag mal, vereinslos." Der VEB Lokomotivbau Karl Marx Babelsberg wurde abgewickelt und die dazugehörige Betriebssportgemeinschaft aufgelöst.
Eine neue Heimat fanden die Havelwale im Eifelverein, einem Wanderverein mit bundesweiten Ortsgruppen. Thiem ist der letzte organisierte Havelwal.
"Ich behalte das bei. Das Geld spielt da keine Rolle, was ich bezahle. Aber ich habe einen Briefkopfbogen und kann damit auch beim Strandbad Babelsberg sagen: ‚Wir sind vom Verein.‘ Das hat schon seine Richtigkeit und was Gutes dabei." Und: "Hast du mal einen dicken Kopf vom vorher Geburtstag feiern oder so, immer ins Wasser rein. Ich habe ja den Schlüssel auch. Ich muss sowieso immer hingehen. Ich hätte mich nicht rausreden können: ‘Ja, ich bleibe auf der Couch liegen. Das Wetter ist schlecht.‘ Das gibt es nicht."

Kältetraining im eigenen Garten

Schwimmen oder Baden? Was ist angenehmer? "Wenn du schwimmst, hast du Bewegung. Durch die Bewegung geht das Wasser über den Körper rüber weg. Wenn du stehst, bildet sich ja ein kleines Polster", erklärt Thiem. Er habe es in der Sauna mal gemacht im Tauchbecken. "Da bin ich stehen geblieben, ohne mich zu bewegen. Habe ich sieben Minuten da gestanden: Wenn du dich dann bewegst, dann merkst du: Oh, jetzt wird es kalt."
Sie habe von Ralf zu Chanukka so einen Pool bekommen für den Garten, sagt Jaqueline Jänike, so einen aufblasbaren, drei Meter Durchmesser, damit sie, wenn sie von der Arbeit nach Hause komme und es schon dunkel ist, auch baden könne:
"Dann kann ich nicht mehr an den See gehen. Das ist mir zu riskant. Da kann mich Ralf nicht sehen. Das ist mir nichts, sodass ich dann mein Kältetraining im Garten machen kann. Da habe ich gemerkt: Das ist eine völlig andere Hausnummer, wenn man sich dann nur reinsetzt oder ob man reingeht und sofort los schwimmt. Das ist überhaupt nicht vergleichbar."
Schwimmen ist deutlich leichter. Seit sechs Jahren schwimmt Jänike an Wochenenden im Heiligen See in Potsdam: "So, dann wollen wir uns mal so langsam startklar machen." Ihr Mann Ralf misst gerade die Temperatur: "Wir haben vier Grad Luft und fünf Grad Wasser." Es geht auf Weihnachten zu.

Treffen der Veteranen

"Ich werde die übliche Runde schwimmen, so ein bisschen hier am Rand entlang bis da hinten und zurück. Dann habe ich knappe tausend Meter", sagt Jaqueline Jänike. Sie hat vor vielen Jahren das Freiwasserschwimmen begonnen, fand es aber schon im Sommer nicht immer lustig:
"Oh, ich war der komplette Warmduscher. Es fiel mir so schwer. Wenn wir hier reingegangen sind zu trainieren. Er war immer schon drinnen und ich stand hier, und er immer vom Wasser aus gerufen: ‚Jetzt komm endlich rein! Es wird nicht wärmer.‘ Ich war immer schon am Schlottern." Dann habe sie gegoogelt, wie man das Trainieren kann. Und bin darauf gestoßen, dass es diese Eisschwimmwettkämpfe gibt, und war so krass fasziniert, dass ich gesagt habe: ‚Das will ich machen.'"
Jetzt sind die Schwimmhallen pandemiebedingt geschlossen und Jaqueline Jänike hatte gehofft, Vereinskameraden fürs Winterschwimmen gewonnen zu können. "Es ist irgendwie schade, dass da nur noch so wenige kommen. Aber so ist das halt. Ein großer Teil ist schon vor ein paar Wochen ausgestiegen, als es kälter wurde."
Aber es ist trotzdem nicht einsam. Eine Gruppe von Winterbadeveteranen trifft sich regelmäßig am Heiligen See. "Da ist einer dabei, der geht rein, geht raus, trocknet sich ab, läuft ein bisschen so nackelig rum mit einem Handtuch umgebunden, geht wieder rein, also, der geht drei, vier, fünf Mal rein, rein, raus, kalt, warm, obwohl warm ist ja relativ."
Oder: "Gestern war hier einer drinnen, da haben wir echt nicht schlecht geguckt. Der ist nackig rein, aber auch ohne Badekappe und Schwimmbrille. Der ist richtig kraul geschwommen mit dem Kopf im Wasser. Das würde ich nicht tun, weil über den Kopf verliert man ja eine Menge Wärme und wenn mein Gehirn einfriert. Das würde ich nur dann machen, wenn ich keins hätte."
"Das ist gemein, Jaqui." Und: "So, Kappe auf. Kappen auf. In diesem Sinne, bis gleich. Meine Uhr noch schnell auf Null stellen. Gestern war ich eine Viertelstunde drinnen." Puh, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es ist warm."
Jaqueline schwimmt im Bade-, Ralf im Neopren-Anzug. Die beiden sind noch im Wasser, als der erste Winterbader sein Fahrrad an den Baum lehnt. "Meistens sind wir fünf, sechs Mann. Aber immer können ja nicht alle."
Lutz kann immer. Jeden Tag, sieben Tage die Woche. Klaus ist gestern noch geschwommen, zehn Minuten, dann hat er die Schuhe nicht mehr gebunden gekriegt. "Ich war bis vor einer Woche drei bis vier Mal drinnen. Jetzt gehe ich nur noch einmal rein."
Ein weiterer Eisbader stellt sein Fahrrad an. "Det is Klaus." Klaus scheint es wieder gut zu gehen. "Morgen! Wie kalt ist es?" fragt er. Eisbaden ist ein Kick. Aber kann es auch zwanghaft werden?
Jaqueline Jänike und ihr Mann Ralf lassen auch mal Fünfe gerade sein. "Gestern war ich nur bis zu den Knien drin. Ich hatte das Gefühl, es geht nicht", sagt Jaqueline Jänike. "Ich hatte solche Tage auch schon. Da sind wir ans Wasser gefahren, ich ziehe mich tapfer um, gehe mit den Füßen rein und merke, es geht heute nicht. Dann sind wir wieder nach Hause gefahren." Da lachen sogar die Enten. Jetzt fängt das fiese Zittern an.

Josephine Worseck: "Die Heilkraft der Kälte. Immunsystem stärken, Stress reduzieren, leistungsfähiger werden"
riva-Verlag, München 2020,
220 Seiten, 19,99 Euro.

Dieser Beitrag ist eine Wiederholung, Erstsendedatum: 31.01.2021.
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