Lucy fährt in die Zukunft
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Im Erzgebirge soll ein moderner Campus für die Erforschung automatisierter, digitaler Bahntechnik entstehen. Mehr als 100 Unternehmen, zwei Universitäten und die Stadt Annaberg-Buchholz haben sich für das ambitionierte Projekt zusammengeschlossen.
"Ich werde jetzt die Lucy starten, indem ich die beiden Maschinenanlagen starte, nacheinander."
Lokomotivführer Silvio Köstler hat die Maschinen des Versuchszuges Lucy angelassen. Man hört, wie sich der Luftbereiter einschaltet, der die Luftbehälter des Triebwagens füllt. Immer wieder wechselt sein konzentrierter Blick zwischen den beiden Außenspiegeln und den Instrumenten des Armaturenbrettes im Lokführerstand. Dann setzt sich der kurze Zug langsam in Bewegung und rollt aus dem halbrunden historischen Lokschuppen in Chemnitz-Hilbersdorf.
Unzählige Antennen und Sensoren auf dem Dach
Lucy ist ein 1994 gebauter Triebwagenzug, der seit Monaten in Chemnitz vom französischen Hochtechnologie-Konzern Thales umgebaut wird. Von außen lässt sich kaum erkennen, dass unzählige Antennen und Sensoren auf dem Dach und an der Unterseite des glänzend dunkelgrau-lackierten Zuges verbaut sind. Nur eine kleine Erhöhung über dem Führerhaus deutet darauf hin.
Lucy soll zu einem Prototypen für das automatisierte Eisenbahnfahren aufgebaut werden. Um Lucy zu befähigen, automatisch zu fahren, kommen auch Technologien aus der Luft- und Raumfahrt im computergesteuerten System des Laborzuges zum Einsatz. Thales-Sprecher Kay Taylor:
"Das Besondere an der Lucy ist, das ist für uns unser Labor auf Rädern für die Schiene. Dass wir die gesamte DNA der Thales miteinbringen, also aus der Luft- und Raumfahrt, Satelliten-Technologie, Cyber-Technologie, der Bahntechnologie, zusammen mit unseren Partnern, und das ist, denke ich, sehr wichtig auch gerade hier im Sinne vom deutschen Standort, dass man diese Technologien hier zusammenbringt für die Zukunft."
Mehr Bahnverbindungen durch Automatisierung
Mit Hilfe des automatisierten Fahrens wäre es möglich, künftig mehr Kapazität an Bahnverbindungen in der bestehenden Infrastruktur anzubieten und zugleich das Personal im Zug zu unterstützen. Dazu dienen die so genannte digitale Schiene sowie Signale, Weichen und Achszähler, die via Mobilfunk kommunizieren. Eine Zukunftsprojektion im künftigen 5G-Hochleistungs-Mobilfunk-Netz. Das Ziel "ist, dass die Lokführer entlastet werden können. Sie können sich auf andere Sachen konzentrieren. Man kann sich im Betrieb dann auch mehr um die Passagiere oder um die Fracht kümmern. Man kann vor allen Dingen auch die Züge enger takten und das führt dazu, dass man da auch ökologischer unterwegs ist."
Lokomotivführer Silvio Köstler kann sich sehr gut vorstellen, dass das automatisierte Fahren ihn als Triebwagenführer sichtlich entlasten könnte: "Zweifelsohne, weil man muss auf so viele Dinge achten, ich meine, es gibt die punktförmige Zugbeeinflussung, der Funk, alles muss gleichzeitig bedient werden manchmal, und wenn man da hier oder da eine Technik hat, die das für mich übernimmt, natürlich bin ich da in dem Moment von dieser Aufgabe oder dieser Überwachung entbunden, und kann mich dann mehr aufs Fahren konzentrieren."
Neue Perspektive für die westliche Erzgebirgs-Region
In wenigen Monaten schon ist eine erste größere Testfahrt angesetzt. Große Hoffnungen richten die Projektpartner auf diesen Zug, der international Maßstäbe setzen und eine ganz neue Perspektive für die etwas abgelegene westliche Erzgebirgs-Region bringen könnte.
Denn hier soll eine der modernsten Eisenbahn-Forschungsstätten Europas entstehen. Über 100 Unternehmen, die Stadt Annaberg-Buchholz, zwei Universitäten und mehrere renommierte Forschungseinrichtungen haben sich bereits zu einem Verbund zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie mit dem neuen "Smart Rail Connectivity Campus" das automatisierte Fahren der Eisenbahn voranbringen.
Bis zur ersten richtigen Testfahrt in wenigen Monaten sei noch viel zu tun, sagt Informatiker Mirko Caspar vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt mit Blick auf den auf den Passagierraum voller Kabel, Kartonagen und Werkzeuge:
"Weil noch viele Arbeiten notwendig sind, bis der Zug dann tatsächlich auch technisch kontrollierbar wird von Computern über standardisierte Schnittstellen, die gerade europaweit festgeschrieben werden, so dass wir momentan diese Schnittstellen in den Zug hinein einbauen müssen und dann die Möglichkeit haben, verschiedene Verfahren zur Fernsteuerung, verschiedene Verfahren zum automatischen Fahren in diesem Zug umzusetzen."
Sicheres automatisiertes Fahren setzt voraus, dass sich die genauen Positionen sowie die exakten Abstände zwischen den einzelnen Zügen gesichert berechnen lassen, und genau das ist eines der Hauptprobleme für die Informatiker an Bord des Versuchszuges Lucy, der in Chemnitz stationiert ist:
Die Sicherheit muss nachgewiesen werden
"Das Hauptproblem ist das Bereitstellen oder das Nachweisen der Funktion und der Sicherheit dieser Systeme, weil das der Eisenbahnsektor fordert, die Sicherheitsphilosophie, die hier 180 Jahre lang gewachsen ist, die fordert das eben auch von jedem Computer, der hier im Einsatz ist und da tun wir uns eben als Informatiker schwer, das bewerkstelligen zu können."
Hinzu kommt die Kernfrage des digitalen Zeitalters: die Cyber-Sicherheit. "Das ist ein Riesen-Thema, was die Eisenbahn momentan auch beschäftigt, genauso wie viele andere Branchen, das Thema Security, das heißt Schutz vor Angriffen von außen, vor Manipulationen, vor Sicherheitsproblemen durch Angreifer."
Rund 35 Kilometer nördlich von Chemnitz liegt die stolze Erzgebirgsstadt Annaberg-Buchholz. Schon weit, bevor man die Stadt erreicht, grüßen die erhabenen Türme der hoch gelegenen Annenkirche den Besucher. Vier Bahnhöfe hat die Stadt, doch seit dem Mauerfall vor fast 30 Jahren ist der Eisenbahnverkehr deutlich zurückgegangen, stehen imposante Bahnhofsgebäude leer.
"Wir sind hier in Annaberg-Buchholz auf dem unteren Bahnhof. Ja, eine Riesen-Immobilie, die wir vor einer Weile von der Deutschen Bahn zurückerworben haben, auch unter Denkmalschutz stehend und daraus wollen wir jetzt etwas Besonderes machen."
Rolf Schmidt, Oberbürgermeister von Annaberg-Buchholz steht mit leuchtenden Augen auf dem Bahnsteig und schaut auf das stattliche, leer stehende mehrstöckige Hauptgebäude des ehemals belebten Bahnhofes seiner Stadt: "Ja, das war noch in der Zeit, als ich noch Kind war und auch in der Wende war alles in Betrieb, also Ticketschalter, es waren Verkaufseinrichtungen drinnen, also so, wie es üblich war in solch riesigen Bahnhofsgebäuden."
Europas modernstes digitales Stellwerk
Große gelbe Banner mit dunkler Schrift schmücken die Fassade des von mehreren großen Spitz-Giebeln gegliederten hellen Gebäudes. "Der Campus kommt!", steht darauf zu lesen. Hier soll also der neue Smart Rail Connectivity Campus – kurz SRCC – entstehen, eine der modernsten Eisenbahnbahnforschungsstätten Europas.
Denn hier, in Annaberg-Buchholz steht zum einen seit über einem Jahr Europas modernstes digitales Stellwerk, zum anderen verfügt man hier über eine rund 25 Kilometer lange Eisenbahnstrecke, zwischen Annaberg und Schwarzenberg, die derzeit nicht für den Linienbetrieb genutzt wird und somit zu Testzwecken für das automatisierte Bahnfahren verwendet werden kann.
Gemeinsam mit der TU Chemnitz hat die Stadt Annaberg-Buchholz das Projekt angeschoben und Dutzende Firmen sowie Forschungseinrichtungen fest für das Projekt gewonnen. Siemens ist bereits dabei, die Deutsche Bahn, die TU Dresden, das Fraunhofer-Institut, ABB und ganz intensiv der französische Konzern Thales.
"Und man kann mit Fug und Recht glaube ich schon behaupten, dass wir dort Eisenbahngeschichte geschrieben haben, die Thales AG, die DB, viele Partner dazu", sagt Sören Claus, der technische Leiter des Eisenbahn-Campus zufrieden.
Mit Lucy habe man bereits im vergangenen September einen wichtigen Test erfolgreich durchgeführt. Das soll nur der Anfang sein. Jetzt arbeiten alle auf die erste voll automatisierte Testfahrt hin.
Claus hat seit Monaten um Fördermittel des Bundes gekämpft und gewonnen. Die ersten Millionen fließen jetzt in den Forschungscampus. Weltweit einzigartige Forschungsmöglichkeiten werden damit erschlossen - mitten im Erzgebirge.