Ungleiche Nachbarn
29:29 Minuten
Eisenhüttenstadt entstand als "sozialistische Musterstadt" der DDR, eine Kirche war dort nicht vorgesehen. Nebenan liegt Neuzelle mit einem barocken Kloster. Das haben Mönche vor drei Jahren wiederbelebt. Eine ungewöhnliche Nachbarschaft begann.
Um 12 Uhr Mittag sitzen die Mönche beim Chorgebet in der Klosterkirche von Neuzelle. Als komme überirdischer Reichtum über die Gläubigen herab, ist die Kirche mit barockem Schmuck beladen: Früchte und Girlanden aus Stuck zieren die Decke, schneeweiße Engel tummeln sich zwischen Ornamenten über den Säulenkapitellen, die sich schneckenförmig einrollen.
Vor drei Jahren kamen die Mönche
Barocker Prunk im Kloster, betende Mönche als touristische Attraktion – ausgerechnet in Brandenburg an der polnischen Grenze. Mehr Atheisten leben wohl kaum auf einem anderen Fleck in Deutschland. Aber trotzdem – oder gerade deshalb – sind 2018 wieder Zisterzienser im Kloster eingezogen. Vor 200 Jahren wurden sie vertrieben, als Neuzelle preußisch wurde. In der DDR wurde die Anlage anderweitig genutzt.
Die Wiederbesiedlung des Klosters vor drei Jahren war ungewöhnlich, aber ist schnell zur Erfolgsgeschichte geworden. Die Menschen hier interessieren sich für die Mönche, und auch für den wachsenden Tourismus in der wenig beachteten Region sind sie wichtig.
Für Eingeweihte, insbesondere für Architekturinteressierte, gibt es allerdings noch einen anderen Grund für einen Ausflug an die deutsch-polnische Grenze: Eisenhüttenstadt.
Sozialistische Musterstadt ohne Kirche
In direkter Nachbarschaft zum barocken Kloster Neuzelle wurde ab 1950 eine sozialistische Musterstadt errichtet. Eine Kirche war in Stalinstadt, später Eisenhüttenstadt, nicht vorgesehen. Stattdessen ein riesiges Stahlkombinat und eine Wohnstadt für die dort Arbeitenden. Gedacht für 100.000 Einwohner. 50.000 waren es zu besten Zeiten, heute sind es 25.000.
Sowohl im 4000-Einwohner-Dorf Neuzelle, zu dem das Kloster zählt, als auch im benachbarten Eisenhüttenstadt gibt es eine Lindenallee. In Neuzelle führt sie an einem Fischteich vorbei zum Stiftsportal. In Eisenhüttenstadt rauscht ab und zu ein Auto über das Kopfsteinpflaster des zentralen Boulevards, an dem ein Theater steht, Menschen vor einem Eiscafé sitzen und Brunnen plätschern.
Der Eisenhüttenstädter Karl Dörig, großgewachsen mit grauem Schnauzbart, ist heute 84 Jahre alt. Er war früher der Generaldirektor des Stahlkombinats EKO Stahl und fährt mit dem Auto durch die Lindenallee, hinaus zum jahrzehntelang heftig pochenden Herzen der Stadt – dem Werk.
Rostbraune Türme und Hallendächer des einst stolzen EKO Stahl tauchen auf, sie gehören heute zur Produktionsstätte des weltweit größten Stahlkonzerns ArcelorMittal mit Sitz in Luxemburg. Breite Straßen, die von einem Gewirr an Rohrleitungen wie einem zweiten Verkehrsnetz begleitet werden, durchziehen das Werksgelände.
In sechs Hochöfen wurde bis zur Wende produziert. Geblieben ist nur noch einer. "Den Hochofen, den Sie dort sehen, das ist der, der jetzt produziert. Überall natürlich leerstehende Gebäude."
Musterstadt und Kloster – beide sind Denkmäler
Rückfahrt zur Wohnstadt Eisenhüttenstadt: Ihr Zentrum ist umgeben von Plattenbauten, die rechts und links der Straßen wie Wachsoldaten stehen, teilweise sind sie rückgebaut, teilweise sind es unansehnlich leere Gerippe.
"Das sind also Bauten der 70er-Jahre, das Zentrum aber ist aus den 50er- und 60er-Jahren. Das ist der eigentliche Kern der Stadt und auch das, was heute Flächendenkmal ist, das größte Flächendenkmal in Deutschland."
In Neuzelle ist das Chorgebet zu Ende. Etwa ein Dutzend Besucher verlässt die Kirche, darunter eine junge Familie aus Dresden und ein älteres Ehepaar. "Wir sind hergekommen, um das Kloster anzuschauen und das Gebet zu verfolgen."
Das Ehepaar ist zufrieden. "Es war beeindruckend. Für Brandenburg ist das ungewöhnlich, aber wir stammen aus Sachsen, und da wiederum ist die barocke Sache ja nicht ungewöhnlich. Das Chorgebet hat uns gefallen."
Zu DDR-Zeiten war im Kloster ein Internat
Dabei wäre die Wiederbesiedlung des Klosters fast nicht geglückt. Als 2018 ein halbes Dutzend Mönche vom Mutterhaus der Zisterzienser in Österreich nach Neuzelle entsandt wurden, war das Kloster keineswegs leer. In seinen Mauern befanden sich schon lange eine Schule, ein Internat und ein Museum. Für klösterliches Leben von Mönchen war kein Platz.
Verdrängen wollten sie aber niemanden. Als sie deshalb beabsichtigten wieder nach Heiligenkreuz in Österreich zurückzukehren, war das Bedauern groß. Denn im Niemandsland des Christentums freuten sich die Menschen über die Anwesenheit von Mönchen.
So entschied das Mutterhaus in Österreich für deren Verbleib in Neuzelle. Als Lösung fand sich ein ehemaliges Forsthaus ein paar Kilometer weiter im Wald, das zu DDR-Zeiten ein Stasi-Erholungsheim war. Es wird zurzeit von Grund auf renoviert.
"Da haben wir eine Maiandacht gefeiert da draußen, in diesen alten Stasi-Ruinen. Und da waren ungefähr 130 Leute da, und vielen sind die Tränen über die Wangen gelaufen, weil vor 40 Jahren hätte sich keiner träumen lassen, dass da mal 130 Mann stehen, Mann und Frau und Kind und Kegel und einen Gottesdienst feiern."
Das sagt Pater Kilian Müller. Ein schlanker Mann mittleren Alters mit Dreitagebart und großer Brille, in weißer Tunika mit schwarzem Überwurf. Bevor er zu den Zisterziensern ging, war er Betriebswirt in Frankfurt.
Zusammen "im Dreck knien" verbindet
Gemeinsam mit seinen fünf Mitbrüdern koordiniert er die Arbeitseinsätze mit den etwa 50 Freiwilligen in der künftigen Klosteranlage, darunter Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Region.
"Das macht interessanterweise auch oft die Gespräche einfacher, gerade für Leute, die, sage ich mal, nicht so dicht dran sind an dem, was hier geistig passiert: In dem Moment, wo Sie mit der Latzhose mit jemandem im Dreck knien, haben Sie ein anderes Gesprächsniveau, als wenn man im Habit vor jemandem steht", erzählt er.
Nicht nur Neuzelle gehört zum Pfarrgebiet der sechs Zisterzienser, sondern auch Eisenhüttenstadt, das vor 70 Jahren ohne Kirchen errichtet wurde. Später bauten die Gläubigen Barackenkirchen für ihre Gottesdienste. Pater Kilian wurde bereits mehrmals zu Seniorentreffen der Volkssolidarität eingeladen, dem säkularen Gegenstück zu Caritas und Diakonie. Und sie sind einander nähergekommen, die Patres aus Neuzelle und die nicht Religiösen aus Eisenhüttenstadt.
"Ich erlebe da schon immer auch eine gewisse Traurigkeit, und da empfinde ich sehr viel Empathie. Man hat etwas aufgebaut, was dann auf sehr brutale Weise geendet hat. Und da ist für viele, so empfinde ich es, auch ein bisschen ein Halt weggebrochen, da ist Gemeinschaft weggebrochen. Welten, in denen man sich sein ganzes Leben lang bewegt hat, hatten auf einmal keinen Wert mehr in einem neuen System. Das hinterlässt auch persönlich tiefe Wunden. Wie viele Dramen sich da abgespielt haben und immer noch abspielen", sagt er.
"Ich habe diese Menschen so lieb gewonnen hier! Und das, wofür wir stehen, ist sicherlich für viele unverständlich. Aber ich kann ja nichts anderes machen als hier zu sein und die Leute lieb haben."
Autokennzeichen "EH" – ein Bekenntnis zu Eisenhüttenstadt
Am Ende von Neuzelles Lindenallee liegt das Hotel Prinz Albrecht. Der Blick von der Restaurantterrasse fällt direkt auf die ockergelb und weiß gestrichene Klosteranlage. Dazwischen liegt ein Fischteich, der mit Seerosenblättern fast zugewachsen ist. Der Gastgarten ist voll besetzt.
Manja Reschke ist seit 2007 Pächterin des Hotels. Sie ist gebürtige Eisenhüttenstädterin und wohnt weiterhin mit ihrer Familie dort. Sie hat einen anderen Blick auf ihre Heimatstadt als Pater Kilian.
"Die ökonomischen Schwierigkeiten, die mit der Wendezeit verbunden waren, die sind, glaube ich, jetzt langsam abgeklungen. Also die Leute, die bei ArcelorMittal arbeiten, die Leute, die in der Papierfabrik arbeiten, die verdienen gutes Geld. Es ist eigentlich ein schöner Ort zum Wohnen", sagt sie.
"Was so ein bisschen fehlt, ist Lebensart, so ein bisschen Kultur, so eine Kneipenkultur, eine schöne Innenstadt, wo man einfach mal bummeln gehen kann. Da ist vieles kaputtgegangen, nach der Wende, und jetzt durch Corona ist sicherlich noch einiges auf der Strecke geblieben."
Die Autohändler der Umgebung haben Manja Reschke sogar von einer neuen Art Lokalpatriotismus erzählt. "Als es die Möglichkeit gab, die Autokennzeichen umzustellen auf EH, also von LOS, Landkreis Oder Spree, konnte man wieder auf EH, haben ganz viele Leute ihre Autos umgemeldet auf EH, einfach um zu zeigen: Ich bin Eisenhüttenstädter."
"Ein Kloster mit Mönchen ist authentisch"
Im Nachbardorf Neuzelle erinnert noch die eine oder andere erdbraune Fassade oder Hausruine an DDR-Zeiten, aber die Mönche haben neuen Wind ins Dorf gebracht, findet die Hotelbesitzerin.
"Es ist natürlich viel interessanter, viel authentischer geworden und hat viel mehr Leute angelockt. Für mich ist das ganze Konstrukt Neuzelle mit dem Kloster, mit den Kirchen und mit dem Museum und so weiter, viel glaubwürdiger dadurch, dass wieder Mönche da sind, dass das religiöse Leben neugestaltet wird. Das macht für mich einen großen Unterschied", sagt sie.
Dass die Mönche nun hier sind, finden die Einheimischen bereichernd. So auch Niklas Nitschke, Künstler und Lehrer aus Neuzelle. Er sitzt auf der Hotelterrasse, hinter ihm zieht eine Schwanenfamilie langsam über den Fischteich. Nitschke sieht sogar Parallelen im Klosterort und der früheren sozialistischen Musterstadt Eisenhüttenstadt.
"In ihrer durchstrukturierten Anlage sind beide Orte ähnlich: Ein Kloster, in dem jeder Teil des Gebäudeensembles eine bestimmte Funktion hat und auch in einem Deutungsrahmen einen bestimmten Ort hat – also in Neuzelle kann man ja sozusagen vom Torhaus, also vom Portalgebäude, bis zum Altar ein Beziehungsgewebe von aufeinander bezogenen Elementen nachvollziehen, wenn man das möchte, und ist in einem Sinnkonstrukt eingebettet", erzählt er.
"Genauso ist es im Grunde auch, aber anders, in Eisenhüttenstadt: Dieser Raum, wenn man den durchschreitet, auch in Bewegung erlebt: Man spürt einfach, dass der so gebaut ist, dass die Dinge alle einen ganz bestimmten Platz hatten. Dass es eine ziemlich festgeschriebene Vorstellung von guter Organisation gab, die heute weg ist, aber die mal funktioniert hat. Die das Ganze also mit einem gewissen Pathos hinterfängt."
Eisenhüttenstadt ist geplant, aber nicht eintönig
Auf der Rückseite des Klosters führen Stufen hinunter in den streng strukturierten französischen Stiftsgarten, hinter dem sich flaches Land zur Oder hin erstreckt und der Blick bis nach Polen reicht. Gärtner mähen den Rasen und verpassen Zierbäumen einen kegelförmigen Schnitt. Gepflegtes Grün hier im Kloster. In den Innenhöfen der Eisenhüttenstädter Wohnkomplexe hingegen wuchert das Gras.
Karl Döring, ehemaliger Generaldirektor des Stahlkombinats EKO Stahl, zeigt während der Autofahrt durch die Musterstadt parkähnliche, offene Höfe. Alles, was wachsen will, wächst in satten Farben. Auf den Grünstreifen vor den Häusern stehen Werke zeitgenössischer Künstler.
Die Alleen sind nicht rasterartig angelegt, sondern verlaufen in sanften Bögen, die höchstens vierstöckigen Gebäude sind alle renoviert, teilweise mit neuen Balkonen versehen und unterscheiden sich farblich wie architektonisch voneinander. Torbögen, neoklassizistische Fassaden, sowjetische Zuckergussbauten – Eisenhüttenstadt ist geplant und doch nicht eintönig.
Am Rand der Innenstadt steigen wir an einem einstöckigen Gebäude mit langen schmalen Fenstern im Stil des sozialistischen Klassizismus aus. Der "Aktivist". "Hier trank man sein Bier, hier ging man im besten Anzug feiern," erinnert sich Döring.
Wo man sein Bier trank, sitzen Gäste in der heutigen Bierstube "Aktivist" unter den Steinarkaden. Wo man früher feiern ging, hat heute eine Wohnungsgesellschaft ihre Büros. Eine zentrale Grünfläche erinnert unweit an 4000 sowjetische Soldaten, die zu Ende des Zweiten Weltkriegs hier gefallen waren.
Karl Döring übersetzt und liest, was auf dem Obelisk geschrieben steht. "Ewiger Ruhm den gefallenen Helden im Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat. Auch das gehört zum Gründungsmythos von Eisenhüttenstadt."
Das legendäre Hotel Lunik verfällt
Wir beschließen unsere Runde im Stadtzentrum. "So, das ist nun die Hauptstraße hier, die Lindenallee, die früher Leninallee hieß.", erklärt er. "Wir haben hier noch mal den Blick auf den Hochofen vorne. War zu DDR-Zeiten das einzige solide Hotel hier, das Lunik. Gehört einem Wessi, einem Spekulanten, der seit 20 Jahren nichts, aber auch gar nichts macht. Das ist ein Einzeldenkmal in Eisenhüttenstadt, das interessiert den Kerl überhaupt nicht. Es verfällt."
Von dem eingezäunten, einst schneeweißen Gebäude blättert der Verputz, als hätte es die Räude. Schräg gegenüber erhebt sich das mächtige und schmucklose Rathaus. Dort arbeitet Martina Harz. Sie ist mit ihrem Mann nach der Gründung der Musterstadt nach Eisenhüttenstadt gezogen – so wie alle Eisenhüttenstädter der Gründergeneration.
"Als wir hierhergekommen sind, hatten wir das Gefühl, und nicht nur wir, sondern auch andere Einwohnerinnen und Einwohner in der Stadt: Die Eisenhüttenstädter sind ganz schön verwöhnt. Es gab in Eisenhüttenstadt Dinge zu kaufen, die es in unserer Heimatstadt nicht gegeben hat", erzählt sie.
"Was für uns spannend war, was uns auch das Ankommen ein bisschen erleichtert hat, war die Situation, dass ja viele hierhergezogen sind. Die Stadt wurde ja neu errichtet, das Werk wurde errichtet. Es wurden Fachkräfte benötigt, und die kamen damals aus der ganzen ehemaligen DDR."
Hier erhielt man schneller einen Kleingarten und ein eigenes Auto als im Rest des Landes, sagt Harz. Nach der Wende kam die Abwanderung, aber seit die Stadt wieder herausgeputzt ist, sei die Stimmung besser. Wenn auch nicht bei allen.
"Es gibt sicherlich Bewohner in Eisenhüttenstadt, die ganz am Anfang diese Aufbruchsstimmung miterlebt haben, also quasi mit dafür gesorgt haben, Werk und Stadt zu errichten. Und die sehen die Entwicklung mit anderen Augen, weil sie an der Gestaltung des Neuen nicht mehr mittun können. Es haben sich gerade aus dieser Erbauergeneration sozusagen manche in ihr Schicksal ergeben", meint sie.
Es fehlen junge Leute und Familien
Die Jungen brauchen eine Perspektive in der Stadt, sagt Harz. Auch ihre beiden Kinder sind nicht geblieben. Der 24-jährige Philipp Woßler dagegen schon. Er probt gerade mit einer Band für einen abendlichen Auftritt auf der Freilichtbühne der Stadt. Er lebt gerne in Eisenhüttenstadt.
"Wir haben total viel Grün. Egal, wo man sich in der Stadt aufhält, man sieht mindestens zwei Bäume. Wir haben kurze Wege, unsere Infrastruktur ist top, weil Eisenhüttenstadt eine Planstadt gewesen ist. Es ist nicht so, dass ich zu Hause sitze, es gibt eigentlich immer jemanden, mit dem ich hier abends mal losziehen kann", erzählt er.
Eisenhüttenstadt habe es schwer, sagt der Sprecher der Stadt auf den Stufen des Rathauses: Andere einst deutsche Städte zu beiden Seiten von Oder und Neiße seien heute deutsch-polnische Doppelstädte, wie Frankfurt an der Oder/Slubice, Guben/Gubin oder Görlitz/Zgorzelec.
Eisenhüttenstadt habe kein solches Pendant, die nächste Brücke sei zwölf Kilometer entfernt, man könne nur in einem Halbkreis in die Umgebung ausstrahlen.
Gemeinsamkeiten statt Unterschiede suchen
Doch es gibt die pittoreske Nachbarschaft des Klosters Neuzelle. Eisenhüttenstadt hebt sich davon als klarer Gegensatz ab. Beide – das Kloster und die Musterstadt – sind Architekturdenkmäler, allerdings extrem unterschiedlich.
Oder vielleicht doch nicht? Niklas Nitschke und Pater Kilian haben einen Kunstverein im Kloster Neuzelle gegründet. Sie versuchen mit Ausstellungen und Installationen die zwei auf den ersten Blick ungleichen Orte künstlerisch als Einheit aufzufassen.
"Es gab mal den Anspruch einer Ordnung, in der man sozusagen einen Platz hatte, einen zugewiesenen Platz. Ich habe so das Gefühl, Eisenhüttenstadt ist ein Ort, der das vorführt, auch mit einer gewissen Verführungskraft. Dieses Pathos, dass es da mal so die Vorstellung gab, wie die Dinge richtig sind. Gleichzeitig macht es einen vorsichtig. Ich möchte hingucken und davon lernen, was man vermeiden sollte, wenn man in der Zukunft darüber nachdenkt, wie man in einer guten Weise miteinander zu tun haben möchte."
Karl Döring, der ehemalige Chef von EKO-Stahl, hatte seinen Platz in dieser Ordnung seit 1985. Nach der Wende wurde das Stahlwerk privatisiert, Döring blieb noch bis zum Jahr 2000 an der Spitze des Unternehmens. Auf Eisenhüttenstadt blickt er 30 Jahre nach dem Niedergang der DDR mit Wehmut.
"Es ist eher eine stagnierende Stadt, die wirklich darum kämpft, nicht weiter abzurutschen", beklagt er. "So will ich es mal sagen. Der dabei bedauerlichste Effekt ist, dass Eisenhüttenstadt, so vergleiche ich das immer, eine Stadt der Kinderwagen war, und heute ist Eisenhüttenstadt eine Stadt der Rollatoren. Die jungen Leute sind weg."
Dabei war die sozialistische Vorzeigestadt, entwickelt auf dem Reißbrett, nach ihrer Fertigstellung in den 60er-Jahren besonders für junge Familien attraktiv.
"Danach ging es den Eisenhüttenstädtern gut, denn das Werk spielte immer eine zentrale Rolle, es war immer ein zentrales politisches Projekt. Diese Betrachtung, wir kümmern uns um diese Stadt, weil sie unser eigentliches Symbol ist, selbst dann, wenn es schwierig wird an anderen Stellen, über Eisenhüttenstadt halten wir die Hand drüber. Die haben wir immer gespürt."
Österreicher halfen beim Bau der Musterstadt
Zum Kuriosen in der Geschichte der ungleichen Nachbarn gehört, dass beide – Neuzelle und Eisenhüttenstadt – ein Bezug zu Österreich verbindet. Die Mönche, die heute Neuzelle besiedeln, kommen aus dem Zisterzienser-Mutterhaus in Österreich. EKO-Stahl in der DDR holte Anfang der 80er-Jahre ebenfalls Österreicher in die Region.
In Eisenhüttenstadt sollte der Stahlkonzern Voestalpine ein komplettes Stahlwerk errichten. Während der Jahre des Baus lebten 1500 Österreicher in einer eigens errichteten Siedlung auf dem Werksgelände. Horst Stifter war gerade mal Mitte 20, als er 1981 als Campleiter in die sozialistische Musterstadt kam.
"Da war also mehr oder weniger eine Waldfläche mit Kiefernbestand, sandiger Boden. Da haben wir zuerst einmal die Bäume gerodet und dann diese Wohneinheiten errichtet, die dann später für die Baustellenleute dann geplant war. Alles, was halt eine Siedlung für 2000 Personen braucht", erzählt er.
Horst Stifter wohnt längst wieder in Österreich. Aber seine Erinnerungen an die Zeit in der DDR sind noch lebendig. Auf dem Werksgelände entstand quasi eine Stadt in der Stadt mit Sanitätsstelle und Wäscherei, einem Klubhaus und einer Großküche, für die Stifter Personal aus dem Berliner Hotel Metropol engagierte. Abends vergnügte man sich im Zentrum von Eisenhüttenstadt, auch in jenem Hotel, das heute verfällt.
"Das war das Lunik damals, das beste Hotel in Eisenhüttenstadt. Dort war unten eine Nachtbar, die hat dann bis zwei Uhr oder vier in der Früh offen gehabt. Das war für uns Jungen immer gefährlich, weil da ist man zum Abendessen gegangen und dann doch wieder runter in die Nachtbar, und dann war es schnell Mitternacht", erinnert er sich.
Die Österreicher waren beliebt bei den DDR-Bürgern, erzählt Horst Stifter. "Auch vom Staat her, glaube ich, waren wir als mindergefährlich eingestuft. Also wir waren nicht wirklich der Klassenfeind, sondern wir waren neutral und klein, also wir waren eindeutig bevorzugt. Eindeutig, das ist überhaupt keine Frage."
"Wir waren privilegiert"
Bevorzugt bei der Bezahlung ebenso wie politisch. Die meisten jungen Österreicher verdienten im Vergleich zu den DDR-Bürgern ausgezeichnet.
"Wir haben das normale Gehalt gehabt und haben dann noch – ich glaube – 1200 Mark der DDR sozusagen als Taschengeld gehabt. Da draußen haben die Bestverdiener, das waren Polizei und Militär, die haben so 1200, 1600 Mark der DDR gehabt."
Die politischen Verhältnisse waren den Österreichern bald vertraut.
Auch Egger besuchte oft die legendäre Abendunterhaltung im ersten Hotel der Stadt. "Da hat es eine Bar gegeben in Eisenhüttenstadt, das Lunik, das war so eine Kellerbar, da hast du innerhalb von fünf Minuten gewusst, wer jetzt ein DDR-Bürger ist und wer einer von der Stasi ist."
Im Museum "Utopie und Alltag" zeigt ein Video einen Aufmarsch in der DDR. Das Museum befindet sich in einem niedrigen Bau mit schmalen Säulen und zierlicher Balustrade, zu DDR-Zeiten ein Kindergarten. Es erzählt vom Alltag im einstigen Arbeiter- und Bauernstaat. Kurator Axel Drieschner erlebt eine gemischte Stimmung in der Stadt.
"Es gibt natürlich schon eine Verlusterfahrung, die auch ganz real ist, weil vieles an Angeboten, was es hier früher gab, verloren gegangen ist, dadurch dass sich jetzt alles in Richtung einer Kleinstadt entwickelt", sagt er.
"Man hat auch nicht mehr so viele Freunde und Verwandte um sich, weil viele auch weggezogen sind. Auf der anderen Seite hat sich natürlich auch manches zum Positiven gewandelt: Die Gebäude sind in einem ganz anderen Zustand als 1990, der Wohnstandard ist ein anderer."
Kloster und "EH" – beide haben sich verändert
"Hier haben wir die ersten Jahre der Stadt dargestellt, also diese heroische Aufbauperiode von 1950 bis 1960 etwa, mit Architekturmodellen und vielen visuellen Darstellungen, Fotos, Postkarten, Dias. Die Stadt sollte ja einen Schaufenstercharakter haben in die ganze Welt hinaus. Ab 1990 stellte sich dann das Gegenteil ein. Es hat auch ein paar Jahre gedauert, aber dann, ab den Nullerjahren, wurde rapide abgerissen, vor allem die äußeren Wohnkomplexe verkleinert oder ganz beseitigt", erzählt er.
"Der siebte Wohnkomplex ist der jüngste, der in Plattenbauweise errichtet wurde. Er ist fast vollständig verschwunden. Da sieht man, wenn man sich diese Karte anguckt, diesen Plan der Stadt: Alles, was hier rot eingezeichnet ist, sind die Bereiche, die abgebrochen worden sind, und das ist eben auf den ersten Blick eigentlich eine ganze Menge, was hier wieder beseitigt worden ist."
Eisenhüttenstadt ist definitiv nicht mehr das, was es einmal war – das zeigt die Karte. Einfamilienhäuser stehen an der Stelle einstiger Plattenbauten. Aus der DDR-Industriemetropole ist eine beschauliche Kleinstadt geworden. Aber ist das nun schlechter oder besser als vorher?
Kirche ohne Stadt und Stadt ohne Kirche
Im letzten Raum können die Besucher ihre Wünsche und Vorschläge zu Eisenhüttenstadt auf Zettel zu schreiben und an die Wand zu heften. "Unkraut zupfen" steht da oder "Hochschule für angewandte Gesellschaftsanalyse", aber auch "Schandfleck Lunik-Hotel – bitte unternehmt etwas" und "Tesla-ArbeiterInnen nach Eisenhüttenstadt".
Es ist ein Raum demokratischer Teilhabe an der Entwicklung der eigenen Stadt. Undenkbar bis vor etwas mehr als 30 Jahren. Doch nicht nur Eisenhüttenstadt ist anders geworden, auch aus Neuzelle kommen neue Töne.
Wiederum hat sich etwa ein Dutzend Interessierter in der Klosterkirche eingefunden. Pater Simeon, der Prior der kleinen Klostergemeinschaft, ein ausgebildeter Kirchenmusiker, gibt ein Orgelkonzert. An einem Ort, wo es bis zur Wende still war.
Neuzelle, einst als Kirche ohne Stadt gebaut. Eisenhüttenstadt als Stadt ohne Kirche. Aus zwei weltanschaulichen Gegensätzen wird ein Miteinander. Dabei empfinden die Einheimischen die Nachbarschaft des einst sozialistischen Eisenhüttenstadt und des christlichen Neuzelle gar nicht als Gegensätze, wie sie versichern.
Nur die Mauern bleiben steinerne Zeugen anderer Zeiten.