"Triumphant Scale" – Das Werk des Bildhauers El Anatsui ist bis zum 28. Juli im Münchener Haus der Kunst zu sehen.
Gardinen-Labyrinth im Nazibau
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Der Nigerianer El Anatsui verhängt das Haus der Kunst mit seinen Müllskulpturen und versöhnt es mit seiner jüngsten Vergangenheit. Es ist Okwui Enwezors zuletzt kuratierte Ausstellung und zugleich sein Vermächtnis.
Ein Steinkoloss, gehüllt in Metallmüll. "Second Wave" heißt die gigantische Installation aus zusammengeschweißten ausgemusterten Druckplatten, mit der El Anatsui die Frontfassade des Baus aus der Nazizeit verkleidet hat. Auf 110 Metern überformen nun die Überreste des analogen Informationszeitalters die neoklassizistischen Säulen. Rasender Stillstand, gebannt in ächzendes Aluminium. Mal wieder siegt die Kunst über das NS-Architekturerbe.
Allein in der Monumentalität des Hauses der Kunst
Das Spiel mit der Fassade hat im Haus der Kunst Tradition, dass sich ein afrikanischer Künstler allein in der Monumentalität des Gebäudes einnistet, das gab es bisher noch nicht. El Anatsui nennt daher seine Werkschau auch ganz passend "Triumphant Scale".
"Beim Begriff 'triumphant scale' – also: triumphaler Maßstab – geht es gar nicht so sehr um die Größe der Werke. Vielmehr geht es darum, dass seine Karriere wirklich auf dem Höhepunkt ist. Ich denke, triumphal ist angemessen, um seine Reise von einem Künstler in einem kleinen Studio in der nigerianischen Kleinstadt Nsukka bis zu diesem Ausstellungsort hier zu beschreiben", sagt Chika Okeke-Agulu.
Genähte Skulpturen aus Flaschenverschlüssen
Er ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Princeton, war Schüler von El Anatsui und ist hier in München sein Kurator gemeinsam mit Okwui Enwezor, dem ehemaligen Direktor des Hauses der Kunst, der aufgrund seiner schweren Krankheit nicht an der Eröffnung teilnehmen kann.
El Anatsui ist Sohn eines Webers für traditionelle afrikanische Stoffe. Und das sieht man in jedem seiner Werke. Er näht seine Skulpturen meist aus weggeworfenen Flaschenverschlüssen. Tausende dieser münzgroßen Aluminiumteile ergeben Landschaften wie die raumgreifende Installation "Gekachelter Blumengarten".
Poesie aus Größe und Leichtigkeit
"Diese Werke wirken massiv, aber sie sind extrem leicht. Es ist eine Poesie aus Größe und Leichtigkeit, aus Größe und gleichzeitig intimer Zerbrechlichkeit", sagt Chika Okeke-Agulu. Von weitem betrachtet strahlt das Werk eine entschiedene Ruhe aus, aus der Nähe offenbaren sich filigrane Muster. "Rising Sea" ist ein gigantischer Wandteppich, der mit seinen Wölbungen bedrohlich in den Raum hinein zu schwappen scheint.
Ein Kunstwerk ist nichts Vollendetes
Die Form, in der El Anatsui seine Texturen präsentiert, ergibt sich von Ausstellung zu Ausstellung neu. Der Künstler widersetzt sich damit der Vorstellung, ein Kunstwerk sei etwas Vollendetes, wie er selbst bei der Pressekonferenz erläutert: "Ich glaube, dass Kunstwerke wie das Leben sind und so, wie das Leben auch nicht einfach im fertigen Zustand erhältlich ist, sondern voller Unfälle und Ereignisse, auf die man sofort reagieren muss. Entsprechend verhalten sich auch meine Werke."
Einladung, sich zu verirren
Gefertigt und installiert hat sie ein Tross aus etwa 120 Mitarbeitern. Anders wäre etwa die Arbeit "Logogli Logarithm" in einer großen Halle des Hauses der Kunst nie realisiert worden. Ein Labyrinth aus Gardinen aus Flaschenverschluss-Ringen lädt die Besuchenden ein, sich darin zu verirren. Ähnlich unseren Lebenswegen sind sie vermeintlich transparent und dennoch in ihren Schichtungen unergründbar.
Die Ausstellungstexte erklären die Zeichensysteme El Anatsuis geduldig. Doch wie nähert man sich als Europäer afrikanischer Kunst der postkolonialen Epoche am besten? Kurator Chika Okeke-Agulu lächelt über diese Frage: "Es ist derselbe Weg, mit dem ich mich Picassos Guernica annähere. Ich komme aus Nigeria, ich habe keine Ahnung, wo Guernica lag. Aber ich brauchte das nicht zu wissen, um zu sehen, dass diese Arbeit von Diktatur, von Gewalt und der Verwüstung von Gesellschaften handelt. Und ich glaube, man muss nicht viel von Afrika wissen, um etwas von der Zerstörung der Umwelt zu verstehen."
Das prominenteste Beispiel für El Anatsuis künstlerisches Engagement für die Ökologie ist wohl die Holzplastik "Erosion" – eine Art Marterpfahl, dem er während der Weltklimakonferenz in Rio 1992 mit der Kettensäge zu Leibe rückte und anschließend mit Brandmalerei verzierte.
El Anatsuis Denken ist global
Die Skulptur ist eine bewegende Metapher für die menschliche Zivilisation, deren zerstörerische Spuren sichtbar bleiben. Am Fuß des Pfahls stapeln sich die herausgesägten Holzbretter wie zerborstene Eisschollen. Das Denken El Anatsuis ist global. Und auch seine Bedeutung. So gibt Kurator Damian Lentini die Haltung des ehemaligen Direktors wieder:
"Als wir die Ausstellung diskutiert haben, hat Okwui Enwezor nie gesagt, wir müssen einen afrikanischen Künstler ausstellen. Er war einfach überzeugt, das Werk El Anatsuis sollte in dieser Reihe bedeutender Gegenwartskünstler stehen – in so einer Institution wie dem Haus der Kunst." Das Werk El Anatsuis spielt mühelos mit den Dimensionen des Museums, überwuchert die Monstrosität und funkelt wie tausende Diamanten aus Stanniolpapier.