Wer kennt nicht jemanden, der von Pandilleros getötet wurde? Wer kennt nicht jemand, in dessen Familie ein Mitglied von Pandilleros getötet wurde? Wie viele Unternehmen mussten schließen, weil sie die Schutzgelder nicht bezahlen konnten?
El Salvadors Kampf gegen Banden
Festnahmen in San Salvador im März nach einer Mordwelle im Land. © imago images / ZUMA Wire / Camilo Freedman
Mit Gewalt gegen Gewalt
24:10 Minuten
Seit März herrscht in El Salvador der Ausnahmezustand - und Ruhe vor den kriminellen Banden, die das Land seit Jahrzehnten terrorisieren. Aber der Preis für die Sicherheit ist hoch: Viele Menschen sitzen unschuldig im Knast.
In diesem Jahr tanzten am Nationalfeiertag im September die Salvadorianer auf den Straßen. Die Stimmung war bestens, auch als Hunderte von Gefängnisinsassen wie Trophäen durch die Straßen geführt wurden, eskortiert von Soldaten mit Maschinengewehren. Viele Schaulustige trugen T-Shirts mit dem Konterfei von El Salvadors Präsident Nayib Bukele auf der Brust.
Sie sind begeistert von ihrem jungen Präsidenten, der sich selbst als den „coolsten Diktator der Welt“ bezeichnet.
„Er hat so viel erreicht“, schwärmt eine junge Frau. „Man kann einfach wieder durch die Straßen laufen.“ „Uns geht es mittlerweile richtig gut,“ versichert eine andere. „Wir wollen keinen anderen Präsidenten haben.“
Applaus für Präsident Bukeles harte Hand
Präsident Nayib Bukele ist in seinem Land so beliebt, weil er hart gegen die Jugendbanden, die Maras, vorgeht. Seit Jahrzehnten terrorisieren Banden wie Mara Salvatrucha oder Mara Barrio Dieciocho das Land, erpressen Schutzgelder, morden und rekrutieren andere Jugendliche zwangsweise. Die Mordrate in El Salvador gehörte bis vor Kurzem zu den höchsten der Welt. Genauso wie die Migrationsrate.
Im März dieses Jahres ermordeten die „Pandillas“ an nur einem Wochenende 86 Menschen in dem kleinen Land. Daraufhin verkündete Nayib Bukele den Ausnahmezustand.
Der Ausnahmezustand gilt noch mindestens bis Ende des Jahres, eine Fortsetzung ist wahrscheinlich. Seitdem darf die Polizei jeden einsperren, der ihr verdächtig vorkommt. 56.000 vermeintliche Bandenmitglieder sitzen im Gefängnis, die Mordrate ist drastisch gesunken und Bukeles Zustimmungswerte gestiegen. Sie bewegen sich um die 90 Prozent.
Auch Pepe ist froh über den harten Kurs der Regierung. Er erzählt, was er in den letzten Jahren so im Dorf gesehen hat: Menschen, die vor ihrem Haus erschossen wurden. 13-Jährige mit Neunmillimeter-Pistolen.
„Ich finde es gut, was die Regierung macht. Sie fangen die Kriminellen, die Bandenmitglieder. Sie führen eine vollständige Säuberung durch.“
Verdächtiges Tattoo führt zur Festnahme
Die Kehrseite sind die vielen Unschuldigen, die im Gefängnis landen, nur weil sie ein Tattoo haben, das verdächtig erscheint. Wer einmal im Knast landet, kommt nur schwer wieder heraus. Lorena Lisama sucht ihren Mann, er gehört zu den Desaparecidos, den Verschwundenen.
„Am 26. Mai haben sie ihn festgenommen. Ich habe Dokumente gesammelt, um zu zeigen, dass er unschuldig ist,“ erzählt sie. „Aber es ist ihnen egal, sie wollen ihn dortbehalten. Wir wissen nicht, ob er gesund ist und wie es ihm geht. Nur, dass er im Gefängnis ist.“
Lorena Lisama ist nicht die Einzige in ihrem Dorf, die einen Familienangehörigen vermisst. Mindestens ein Dutzend Frauen sind in derselben Situation.
"Wie gehen zur Polizei und fragen nach ihm, aber sie geben uns keine Informationen. Es gibt Menschen, die schon seit zwei Monaten tot sind, und ihre Angehörigen wissen es nicht einmal", sagt Lorena Lisama.
Rina Monti von der NGO Christosal recherchiert zu den Verschwundenen in El Salvador.
"Tatsächlich sind die Festnahmen völlig willkürlich“, berichtet sie.
Keiner der Festgenommenen bekomme ein echtes Gerichtsverfahren, sondern werde in kollektiven Prozessen abgeurteilt. Eine anonyme Denunziation oder ein verdächtiges Tattoo kann reichen, um verhaftet zu werden. Auffällig viele Gefangene haben dunkle Haut und kommen aus den armen Regionen des Landes.
„Nachdem man festgenommen wird, darf man eigentlich nur für 15 Tage während der Ermittlungen festgehalten werden. Aber wegen des Ausnahmezustandes werden alle Angeklagten automatisch für ein halbes Jahr eingesperrt.“
Kritik aus dem Westen prallt ab
Kritik an Nayib Bukeles Politik kommt im eigenen Land von zivilgesellschaftlichen Initiativen, ansonsten überwiegend aus dem Ausland. Dagegen wehrt sich der Präsident El Salvadors. Niemand habe geholfen, als die Banden das Land terrorisierten. Erst jetzt mische sich der Westen ein, so klagte Nayib Bukele in einer Rede vor der Vollversammlung der UN. Das stehe ihm nicht zu.
„Der reiche Nachbar hat entschieden, dass ihm nicht nur der eigene Palast gehört, sondern dass er auch über die Hütte des armen Nachbarn bestimmen kann. Und er bestimmt, dass alles so schlecht bleiben muss, wie es früher war. Aber der reiche Nachbar hat nicht das Recht von seinem armen Nachbarn zu verlangen, dass er in die Vergangenheit zurückkehrt. Erstens, weil ihn das nichts angeht, zweitens, wie der arme Nachbar längst versucht hat, die Ratschläge des reichen Nachbars zu befolgen und damit sehr schlecht gefahren ist. Und drittens weil der Weg, den er nun geht, funktioniert. Zum ersten Mal.“
Tatsächlich fragt in El Salvador nicht nur Bukele, ob Länder, die eine stabile Demokratie haben, überhaupt kompetent sind, über Maßnahmen zur Bekämpfung der Bandenkriminalität zu urteilen. Oft klingen die Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der Menschenrechte und Reintegration der Gefangenen in den Ohren der Betroffenen wie Ratschläge von einem anderen Stern.
Hoher Preis für Sicherheit
Dr. Günther Maihold, Stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, hält solche Argumente für vorgeschoben.
„Wir haben insoweit Kompetenz, dass wir etwa aus Erfahrung sagen können: Das Militär ist nicht der geeignete Akteur, um Kriminalität zu bekämpfen. Dieser Weg hat sich eben in vielen Ländern als Irrweg erwiesen, weil dadurch die Rolle des Militärs als Gewaltakteur nicht nur in Fragen der inneren Sicherheit, sondern eben auch in die Politik in die Wirtschaft hinein ausstrahlt und das Machtgleichgewicht in diesen Ländern massiv verschoben wird.“
Viele Kritiker, auch in El Salvador, fürchten eine neue Diktatur, zumal Nayib Bukele bereits angekündigt hat, wieder für die Präsidentschaft kandidieren zu wollen, obwohl die Verfassung dies gar nicht zulässt. Die Politik der harten Hand wird sowieso über kurz oder lang seine Grenzen finden, ist Günther Maihold überzeugt.
Es hilft ja nicht, 60.000 Jugendliche jetzt ins Gefängnis zu sperren und dann die nächsten 40 Jahre darauf zu warten, dass die dort alt werden, sondern es muss ja ein Prozess gestartet werden, der sicherstellt, dass eine Integration in das zivile Leben möglich wird. Und diesen Weg sind manche Länder erfolgreicher gegangen, als das im Fall von El Salvador gegeben ist.
Die Salvadorianer zahlen einen hohen Preis für ihre neue Sicherheit. Heute müssen sie keine Angst mehr vor den Banden haben. Dafür kann die Polizei jederzeit an der Tür klingeln. Keiner weiß genau, was in den Gefängnissen vor sich geht. Keiner weiß, was die Bandenchefs planen, die ins Ausland geflohen sind oder sich in El Salvador verstecken. Das Land sitzt auf einer Zeitbombe.
(ehv)