Abtreibungsgesetz in El Salvador

Wegen Fehlgeburt ins Gefängnis

24:49 Minuten
Frauen mit Schildern auf einer Demonstration
Frauen in El Salvador demonstrieren gegen das strikte Abtreibungsverbot. Das Land hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze weltweit. © imago images/Agencia EFE / Rodrigo Sura
Von Sarah Ulrich |
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Bis zu 30 Jahren Gefängnis drohen Frauen in El Salvador, wenn sie ihr Kind verlieren: egal, ob sie eine Abtreibung vornehmen, eine Fehl- oder eine Totgeburt erleiden. Aber die feministischen Proteste in Lateinamerika bringen das Gesetz zum Wanken.
Cinthia Marcela Rodriguez Ayala, 33 Jahre alt, aus El Salvador, ist aufgrund ihrer eigenen Geschichte zur feministischen Aktivistin geworden. Zehn Jahre und neun Monate saß sie im Frauengefängnis Ilopango unter menschenunwürdigen Bedingungen. Wegen eines Verbrechens, das gar keines ist, erzählt sie. „Meine Geschichte beginnt am 4. Juni 2008. Ich hatte einen gynäkologischen Notfall und war alleine zu Hause, als ich mein Baby bekam. Das Baby kam bereits erstickt auf die Welt."
Eine Nachbarin habe ihr ins Krankenhaus geholfen. "Dort kam ich in die Notaufnahme, und als ich wieder herausging, hatte ich bereits Fesseln am Fuß. Die Polizei war da, und ich sagte zu ihnen, dass ich mein Baby sehen will. Da sagten sie nur: Nein, du bist verhaftet. Sie hatten mich festgenommen.“

Elf Jahre Gefängnis wegen einer Totgeburt

Cinthia war bereits im achten Monat, als sie die Totgeburt ihres Babys erlebte. Das Abtreibungsgesetz in El Salvador definiert Totgeburten oder Fehlgeburten als schweres Verbrechen. Cinthia war 19 und der Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft lautete: „Homicidio agravado“, schwerer Totschlag.
Eine junge Frau schaut in de Kamera.
Zehn Jahre und neun Monate saß sie im Frauengefängnis: die Aktivistin Cinthia Marcela Rodriguez Ayala.© Deutschlandradio / Sarah Ulrich
Unzählige Frauen müssen in dem zentralamerikanischen Land als Folge einer Fehlgeburt oder eines gynäkologischen Notfalls jahrzehntelange Haftstrafen absitzen. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung waren es alleine zwischen 2000 und 2019 181 Frauen, die deshalb unter Anklage gestellt wurden.
Cinthia Rodriguez ist heute, mit 33 Jahren, eine lebensfrohe Frau. Sie hat braune, lange Haare, trägt ein T-Shirt mit einem Minnie-Mouse-Aufdruck. Inzwischen ist sie Mutter geworden. Liebevoll kümmert sie sich um ihre zweijährige Tochter, die auf ihrem Schoß herumklettert.
Aber die grausame Zeit in der Haftanstalt, in der sich bis zu 40 Frauen eine Zelle teilen müssen, hat ihr weiteres Leben geprägt. Sie ist heute Teil des “Colectiva Feminista para el Desarrollo Local”. Der Verein aus San Salvador setzt sich für die Befreiung der wegen der Abtreibungsgesetze inhaftierten Frauen ein. Rund 15 Frauen arbeiten ehrenamtlich in dem verwinkelten Büro, das sich um eine große Dachterrasse inmitten der geschäftigen Hauptstadt säumt. Auch Cinthia wurde mithilfe des Kollektivs frühzeitig aus der Haft befreit.
Zwar hat sie fast elf Jahre ihres Lebens unschuldig im Gefängnis zugebracht. Aber es hätte sogar noch schlimmer kommen können. Bis zu 30 Jahren Haft drohen Frauen in El Salvador, wenn sie ihr Kind verlieren. Dabei ist es egal, ob sie die Schwangerschaft willentlich oder unwillentlich abbrechen. Stirbt der Embryo oder Fötus, gilt dies als „Verbrechen im Zusammenhang mit einem Menschenleben“, so steht es im Gesetz. Egal, ob eine Vergewaltigung vorliegt, egal, ob es sich um ein minderjähriges Mädchen handelt: Ein Schwangerschaftsabbruch ist gleichbedeutend mit Mord oder Totschlag.

Kirche gegen Frauenrechte

In Suchitoto, einer kleinen Kolonialstadt im Norden des Landes, lebt Morena Herrera. Sie ist die Vorsitzende des Feministischen Kollektivs für Lokale Entwicklung, das Cinthia aus dem Gefängnis geholfen hat. Die 62-Jährige setzt sich schon seit den 90er-Jahren für die Rechte von Frauen ein und zählt zu den bekanntesten feministischen Aktivistinnen in El Salvador. Die Wohnräume ihres Hauses sind um einen dicht bewachsenen Garten herum gebaut, in dessen Zentrum Herrera an einem kleinen Tisch sitzt und raucht.
Morena Herrera kennt die feministische Geschichte El Salvadors genau, kann sich an jedes Detail erinnern, an jede Anhörung, jeden Meilenstein. Auch an die Gefühle der ohnmächtigen Wut, die sie am 27. April 1998 hatte. Damals wurden die neuen Abtreibungsgesetze diskutiert, die nach den Vereinbarungen des Friedensvertrags und durch den starken Einfluss der katholischen Kirche bei diesen verschärft werden sollten.
Die Frauenrechtlerin Morena Herrera sitzt an einem Schreibtisch im Garten.
Setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Frauen ein: Morena Herrera.© Deutschlandradio / Sarah Ulrich
Bei der legislativen Versammlung war auch Herrera mit ihrer Gruppe anwesend, sie war damals 36 Jahre alt. „Es war eine lange Nacht", erinnert sie sich. "Und es war erschütternd zu sehen, wie eine Entscheidung getroffen wurde, die sehr große Auswirkungen auf die Frauen im Land haben würde.“
El Salvador ist ein konservatives Land, in dem sowohl die katholische Kirche als auch evangelikale Fundamentalisten bis heute massiven Einfluss auf die Politik des Landes nehmen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung identifiziert sich als katholisch, rund 33 Prozent als evangelikal. Anhänger der sogenannten Lebensschutzbewegung und Antiabtreibungslobby sind auch im Parlament breit vertreten.

"Manuela" macht international Schlagzeilen

Erst im Oktober 2021 hat die gesetzgebende Versammlung einen Antrag auf eine Reform des Abtreibungsgesetzes abgelehnt, die die Gruppe aus der Zivilgesellschaft rund um Morena Herrera eingereicht hatte. Es war die vierte Initiative, die dem Kongress seit 1998 vorgelegt wurde. Von 84 Abgeordneten lehnten 73 eine Reform der frauenverachtenden Gesetzgebung ab.
Gestützt werden diese Fundamentalisten von Präsident Nayib Bukele. Er präsentiert sich als liberaler Reformer des Landes, regiert jedoch mit autoritärem Politikstil und vertritt frauenpolitisch erzkonservative Ansichten.
Doch das Kollektiv rund um Morena Herrera kann in jüngster Zeit trotz allem Erfolge verbuchen. Ende November 2021 konnte das Kollektiv einen riesigen Erfolg feiern. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verkündete ein historisches Urteil gegen den Staat El Salvador. Erstritten haben das Urteil im „Fall Manuela“ Herrera und ihre Mitstreiterinnen.
Präsident Nayib Bukele mit seiner Frau.
Gibt sich als Reformer, ist bezüglich Frauenrechten aber erzkonservativ: Präsident Nayib Bukele mit seiner Frau.© picture alliance / dpa / Anadolu Agency / Emin Sansar
Manuela wurde wegen einer Fehlgeburt zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Zwei Jahre lebte sie im Gefängnis, bevor sie 2010, mit Handschellen an das Krankenhausbett gefesselt, an Lymphdrüsenkrebs verstarb.
In dem dreizehnseitigen Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs zum Fall Manuela heißt es, die Festsetzung sei „willkürlich“ gewesen und habe das Recht auf Unschuldsvermutung verletzt. Außerdem sei der Fall nicht ordnungsgemäß geprüft worden, was auf „Vorurteile und negative Geschlechtsstereotype“ zurückzuführen sei. Vom Staat habe Manuela weder medizinische Behandlung bekommen, noch sei ihr Gerechtigkeit widerfahren.

Erfolge vor dem Interamerikanischen Gerichtshof

Für Morena Herrera ist das Urteil ein Meilenstein. Der Fall eröffne Möglichkeiten für andere Frauen, um ihre Rechte zu kämpfen. „Auch, wenn es der Regierung nicht gefällt. Sie müssen verstehen: Hier wurde der Staat als Ganzes verurteilt, nicht nur die Regierung.“
Das Urteil im Fall Manuela zwingt die Regierung El Salvadors nun erstmals zum Handeln. Das Gericht verpflichtet den Staat unter anderem, Leitfäden für gynäkologische Behandlungen zu entwickeln. Und: Er muss seine Abtreibungsgesetze nun doch reformieren. Gynäkologische Notfälle, so das Gericht, dürfen nicht automatisch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Bisher schweigen die Regierung und Präsident Bukele. Aber der Druck steigt. Denn es gibt noch einen weiteren Fall beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof, dessen Urteil das Colectiva Feminista mit Hoffnung erwartet.
Beatriz klagte auf das Recht auf Abtreibung, weil ihr Leben durch die Schwangerschaft in Gefahr war. Auch das Kind hätte nicht überleben können. Das Gericht wies die Klage ab, Beatriz konnte nur mit Hilfe eines Not-Kaiserschnitts gerettet werden, das Baby starb kurz darauf. Beatriz beantragte die Klage vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, um ihren Fall posthum zu klären. Das war 2013. Mehr als neun Jahre später, am 12. Januar 2022, wurde die Klage angenommen. Eine öffentliche Anhörung im Fall Beatriz wird für die kommenden Monate erwartet.

Feministische Proteste über alle Grenzen

Auch der Kampf um die Rechte der inhaftierten Frauen geht weiter. Unter dem Slogan „NosFaltanLas17“, zu Deutsch „Uns fehlen noch 17“, machen die feministischen Aktivistinnen auf die noch immer unrechtmäßig Inhaftierten aufmerksam – und feiern die Entlassung einiger. Vier Frauen wurden am 22. Februar 2022 aus dem Gefängnis entlassen, drei weitere bereits im Dezember. Sie alle waren zuvor zur 30 Jahren Haft verurteilt worden.
Fragt man Morena Herrera, ob sich das Gesetz in El Salvador ändern wird, sagt sie:
“Nicht durch das Urteil im Fall Manuela, aber durch das Urteil im Fall Beatriz. Ja. Da bin ich mir sicher. Das Gesetz wird sich ändern. Es ist ein extrem rückständiges und ungerechtes Gesetz für Frauen. Es wird sich definitiv ändern.“
Zu Hilfe kommen den Frauen in El Salvador die feministischen Protestbewegungen, die ganz Lateinamerika erfasst haben. In Argentinien, Mexiko, Ecuador und Kolumbien wurden die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch in der letzten Zeit liberalisiert, in Chile wird es voraussichtlich noch in diesem Jahr dazu kommen.
Die beiden Korrespondentinnen Anne Demmer in Mexiko und Anne Herrberg in Brasilien sehen Licht am Ende des Tunnels (Mehr dazu in Interviews in dieser Weltzeit). Aber der Weg ist noch weit. Denn Gewalt gegen Frauen, Feminizide und die Tatsache, dass Täter in aller Regel nicht zur Rechenschaft gezogen werden – all das trübt die Fortschritte der Frauenbewegung in der Abtreibungsfrage. Aber auch El Salvador wird sich bewegen und den Frauen Respekt zollen müssen, früher oder später.
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