"Da entsteht ein völlig neuer Markt"
Wie verändern E-Books die Literatur und unser Leseverhalten? Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Ansgar Warner über Chancen für Nachwuchsautoren, die Renaissance der kurzen Form und den gläsernen Leser.
Liane von Billerbeck: Bücher waren auch im vergangenen Jahr die beliebtesten Weihnachtsgeschenke, Bücher ganz altmodisch gedruckt und Bücher elektronisch, denn zunehmend erobern digitale Lesegeräte den Buchmarkt. Amazons Kindle ist der Marktführer, kleine Tablets anderer Hersteller gesellen sich dazu, und immerhin haben sich Deutschlands größte Buchhändler vorgenommen, Amazon mit dem Lesegerät Tolino den Kampf anzusagen. Wird also das Lesen künftig digital? Wie verändern diese Medien das Lesen, das Schreiben und auch das Drucken? Das fragen wir den Literaturwissenschaftler und E-Book-Spezialisten Ansgar Warner, er ist jetzt bei uns im Studio. Herzlich Willkommen!
Ansgar Warner: Guten Morgen!
von Billerbeck: Weihnachten ist vorbei, die E-Reader liegen bereit. 50.000 E-Books sind im vergangenen Jahr erschienen. Ist das eine Chance für die Weltliteratur?
Warner: Für die Weltliteratur auf jeden Fall. Ich denke, es ist aber auch eine Chance für kleine, für Nachwuchsautoren, für Talente, die wir bisher überhaupt noch nicht gekannt haben. Also im Grunde genommen entsteht da ein völlig neuer Markt.
von Billerbeck: Stichwort Weltliteratur, bleibe ich noch mal kurz dabei: Die kriegt man ja sehr günstig beim E-Book. Also Klassiker wie „Krieg und Frieden“ oder die Sherlock-Holmes-Geschichten, die gibt es zum Nulltarif, und für Kafka zahlt man weniger als einen Euro. Schmerzt Sie das oder ist das gut?
Warner: Das kommt drauf an, aus welcher Perspektive man das sieht. Aus Sicht des Lesers finde ich es wunderbar, dass man auch günstiger an Literatur kommt. Gerade bei E-Books sind die Preise in Deutschland immer noch sehr hoch, und da wundert man sich, warum die Verlage das überhaupt machen. Das ist ja doch sehr ärgerlich. Das kommt, glaube ich, daher, dass es eben noch eine ganz neue Erscheinungsform von Literatur ist und dass da noch ausprobiert wird, mit welchem Preis das überhaupt funktioniert. Und wobei, Weltliteratur – wir reden von Bestsellern, die werden auch in Zukunft natürlich teurer sein als zum Beispiel Bücher von Self Publishern, deren Namen man überhaupt noch nicht kennt.
von Billerbeck: Bringt denn nun diese neue Technologie, dass man also auf einem kleinen Gerät ein dickes Buch lesen kann, auch ganz eigene literarische oder essayistische Genres hervor?
Warner: Das war ja bisher immer die spannende Frage: Was entsteht wirklich an Neuem? Es gab schon in den 90er-Jahren so einige Experimente, zum Beispiel mit Hypertextliteratur, wo man sich so durch einen Plot hindurchklicken konnte und selbst entscheiden konnte: Wo geht die Geschichte längs? Diese wirklich multimedialen oder technischen Tricks, die sieht man im Moment eigentlich gar nicht mehr. Gerade in dem Moment, wo elektronische Literatur zum Mainstream wird, ist es eher so, dass sich neue Genres entwickeln, wie zum Beispiel diese Kurzstreckentexte, die sich bisher gedruckt gar nicht geloht haben, also Amazon hat das ja mit den Kindle Singles gemacht, also so Texte, die nur so 10.000, 20.000 Zeichen haben. Da springen viele Autoren drauf an, auch viele kleine Verlage wie zum Beispiel ein Label, das heißt auch so, „Mikrotext“, das hat sich jetzt gegründet, die bringen nur Kurzromane, Kurzstreckentexte heraus.
von Billerbeck: Die man quasi zwischen zwei Stationen lesen kann?
Warner: Ja, genau. Und es gibt auch Serien, die aus kürzeren Texten bestehen, wo man sich dann immer für 99 Cent oder so zur nächsten Folge klickt und dann schnell neuen Lesestoff kaufen kann.
von Billerbeck: Das ist ja auch eine Chance für Shortstory-Autoren.
Warner: Ja, auf jeden Fall. Genres, die wir fast schon vergessen hatten, wie zum Beispiel die Novelle, die erleben jetzt so eine kleine Renaissance, weil es sich eben im elektronischen Medium dann plötzlich wieder lohnt. Aber es sind ja auch völlig neue Autoren, die jetzt auftreten, und deswegen ändert sich so ein bisschen auch dieses gesamte Spektrum der Genres. Also die populären Genres, die sind wieder sehr stark im Kommen. Die üblichen Vampirgeschichten, Thriller, Science-Fiction, da gibt es inzwischen eine viel größere Auswahl, als wir da vielleicht vorher in der normalen Buchhandlung gewohnt waren. Bei Onlinestores wie Amazon oder anderen, da steht das ja plötzlich alles nebeneinander und da haben wir dann plötzlich einen ganz neuen Eindruck, was es so alles gibt an Genres.
von Billerbeck: Das heißt, das E-Book hat sich längst emanzipiert vom gedruckten Buch?
Warner: Sagen wir mal so, es ist zumindest gerade dabei, sich zu emanzipieren, weil vieles wirklich noch ausprobiert werden muss im Moment, die klassischen Verlage, die simulieren ja uns im Grunde genommen bisher noch ein normales Buch. Es gibt Kopierschutz, man kann es nicht einfach so weitergeben. Der E-Reader selber, der klassische E-Reader, der versucht, das Papier nachzuformen, nachzuahmen. Aber das ist ja gerade alles im Wandel. Sie haben ja eben schon gesagt, es gibt eben immer mehr Tablets, es gibt Smartphones, da funktioniert das ja alles ein bisschen anders, und Kopierschutz wird es, glaube ich, auch in Zukunft nicht mehr geben. Die Texte werden weitaus freier zirkulieren. Da steht uns, glaube ich, dann doch ein starker Wandel bevor.
von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, dass 2012 der Markt 3 Prozent elektronische Bücher waren, jetzt 5 Prozent, habe ich gelesen. Man spricht immer von einem großen Wachstum. Davon kann man ja aber eigentlich noch nicht reden, das ist ja ein bisher noch nicht eingelöstes Versprechen.
Warner: Ja, da muss man mal sehr genau auf die Zahlen schauen. Diese Zahlen, die Sie jetzt genannt haben, das sind ja immer die Zahlen von dem Gesamtmarkt. Wenn man sich wirklich den Publikumsmarkt anschaut, also Sachbuch und Belletristik, da ist der Anteil dann schon weitaus höher, da ist der schon auch in Deutschland über 10 Prozent. Und bei einzelnen Verlagen ist der E-Book-Anteil dann schon auch bei 20 Prozent, also auch in Deutschland. Das heißt, da hat sich schon deutlich mehr getan. Also gerade diese Genres, die man privat zur Unterhaltung oder zur Information liest, da ist der E-Book-Anteil weitaus höher, weil es eben ja auch Sinn macht. Es ist bequemer, das unterwegs zu lesen, auf Reisen, man muss eben nicht hunderte Bücher mit sich herumschleppen.
von Billerbeck: Womit könnte denn der Durchbruch erreicht werden? Müssten da die Genres noch populärer werden, also so Handyromane oder Hausfrauenpornos, wie es gerade in den USA Mode ist?
Warner: Ja, ich glaube, die haben auch dazu geführt, dass überhaupt dieser Durchbruch zum Massenmarkt stattfinden kann, gerade weil solche populären Genres auch weitaus günstiger zu haben sind. Zum Teil wird es mit Gratis-Marketing gemacht, zum Teil sind es 99 Cent oder 1,99. Die verkaufen sich einfach weitaus stärker. Ich denke aber, dass insgesamt der Markt diesen Kipppunkt in Deutschland auch schon erreicht hat, also dass auch viele klassische Leser jetzt ein bisschen umswitchen, also nicht komplett umsteigen, das macht, glaube ich, niemand, selbst ich tue das auch nicht, aber dass man es als ganz normal empfindet, dass man eben ... Links im Regal steht ein Hardcover, in der Mitte steht ein Taschenbuch, und dann ist da in Zukunft wahrscheinlich irgendwo eine Lücke, weil man einen Teil der Sachen eben auf dem E-Reader liest. Gut, ein E-Reader im Regal nimmt auch nicht viel Platz weg.
von Billerbeck: Welche Rolle spielt denn eigentlich in diesem Markt die anspruchsvolle, aufwendig lektorierte Literatur, die es ja nach wie vor gibt?
Warner: Die spielt, glaube ich, in Zukunft eine immer größere Rolle, soweit es gelingt, diesen Qualitätsanspruch, den man an solche Literatur hat, auch zum Beispiel beim Schriftbild, beim Layout, bei der Aufmachung, inwieweit das gelingt, es ins elektronische Medium zu übertragen. Also eine der schärfsten Kritiken am E-Book, die ich in letzter Zeit gehört habe, die richtete sich dagegen, dass das Layout so furchtbar ist bei E-Books, und das stimmt eigentlich auch. Also diese klassische Qualität mit Zeilenumbruch und Trennstrichen und überhaupt einem schönen Satz, das ist zwar technisch mittlerweile möglich, aber das wird bei E-Books, auch von großen Verlagen, einfach nicht gemacht, vielleicht auch, weil es einfach zu viele Geräte gibt und das zu aufwendig ist. Aber das ist eigentlich schade, dass diese Chance bisher versäumt wurde. Also so ein schönes Schriftbild, das geht auch mit E-Books.
von Billerbeck: Sie haben es vorhin schon mal in so einem Nebensatz erwähnt: Man kann ja mit dem E-Book auch das Leseverhalten der Leser kontrollieren oder entdecken, wenn man es mal neutraler ausdrückt. Das hieße ja auch, man weiß: An welchen Stellen steigt der Leser aus, welche Stelle überblättert er, welchen Schluss wählt er? Und ich dachte da sofort an Hollywoodfilme, die also Zuschauer einladen zur Probe-Filmveranstaltungen, um ihnen diesen oder jenen Schluss vorzuschlagen. Ist sowas auch beim E-Book denkbar oder gibt es das schon längst?
Warner: Das wird tatsächlich auch so schon genutzt, gerade in den USA, zumindest anonymisierte Nutzerdaten, denn beim modernen E-Reader oder Tablet ist es ja auch so: Man ist ja immer online oder fast immer online, sodass auch immer Daten ausgetauscht werden können. Und das wird tatsächlich auch von Verlagen schon genutzt, denen diese Informationen zur Verfügung gestellt werden, um zu sehen: Bis zu welcher Seite wird ein Buch gelesen? Realistischerweise wird eben auch wirklich nicht jedes gedruckte und auch nicht jedes E-Book zu Ende gelesen. Man kann auch sehen: Wie schnell lesen die Leser und wie lange dauert es eigentlich, wenn sie ein Buch gelesen haben, bis sie vom selben Autor sich das nächste kaufen? Also gerade bei Serien ist es dann oft, ja, nach fünf Minuten, nachdem man zu Ende ist, hat man schon das nächste Buch dann online geshoppt.
von Billerbeck: Suchtpotenzial.
Warner: Ja, genau. Das kann man dann sehr genau erforschen: Wie hoch ist das Suchtpotenzial? Ist es vielleicht noch nicht hoch genug? Muss man die Serie vielleicht in eine andere Richtung entwickeln? Das wird tatsächlich schon gemacht, und insofern ist der Leser ein bisschen gläserner geworden, als er es früher war. Und dazu gibt es ja auch den Bereich des sozialen Lesens, des social readings, wo man freiwillig diese Daten auch in seiner Peer Group, in seiner Community online stellt und austauscht, ein virtueller literarischer Salon. Das finde ich das schönste Beispiel, weil man auch vor allen Dingen ja freiwillig dann diese Daten mit seinen Onlinefreunden tauscht. Alles das, was so unterschwellig passiert, das ist mir immer so ein bisschen unangenehm, liegt vielleicht auch jetzt am NSA-Komplex, aber lesen hat ja eigentlich auch sehr viel mit Privatsphäre zu tun.
von Billerbeck: Ist ein ganz intimes Unternehmen ja auch.
Warner: Ja, und wenn ich das schon teilweise aufgebe, dann möchte ich es aber auch wirklich selbst bestimmen. Ja, wir müssen als Leser, als elektronische Leser da auch dazulernen, wie es ja auch in anderen Medien ist, bei Facebook oder so, und uns genau überlegen: Was machen wir öffentlich und was nicht?
von Billerbeck: Frage noch: Was heißt das eigentlich für die Autoren, wenn diese Stoffe, die da zum Lesen freigegeben werden, dann möglicherweise im Kontakt mit dem Leser verändert werden? Und zweitens: Was verdienen Autoren eigentlich da dran, wenn die Bücher so spottbillig sind?
Warner: Der Austausch mit den Lesern ist sehr viel stärker als früher, weil ich ja zum Teil gar nicht mehr den Verlag als Zwischeninstanz habe. Also ich kann einfach jetzt auf eine Crowdfunding-Plattform gehen und sagen, liebe Leser, hier ist mein neues Projekt, spendet mir 10.000 Euro, und dann kommt das Buch heraus.
von Billerbeck: Aber die wollen doch auch mitentscheiden dann.
Warner: Die wollen auch mitentscheiden, das gibt es zum Teil auch, ja. Manche Autoren stellen auch die Rohfassung ihrer Bücher dann online und diskutieren das mit den Lesern und holen sich da Feedback. Also sowas funktioniert auch schon. Im nächsten Schritt, denke ich, wird es dann auch so sein, dass sich da ganz neue Communities entwickeln von Lesern und Autoren, also völlig unabhängig von Verlagen. Da wird sich sicherlich die Literatur dann auch ändern.
von Billerbeck: Ansgar Warner sagt das über die Zukunft des Lesens durch das digitale Lesen. Sein Buch „Vom Buch zum Byte: Kurze Geschichte des E-Book“ ist natürlich selbstredend auch als E-Book erhältlich. Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.