Elektronische Musik und Politik

Technologie aus den Traumata der Schwarzen Geschichte

56:38 Minuten
Drei DJs stehen an ihren Plattenspielern in einem abgedunkelten Raum und legen auf.
Schwarze Musik aus Detroit: Juan Atkins, Kevin Saunderson und Derrick May gehören zu den Vätern harter elektronischer Musik aus der US-Arbeiterstadt. © Picture Alliance / dpa / The Ann Arbor News / AP Images / Tanya Moutzalias
DeForrest Brown Jr. im Gespräch mit Hartwig Vens |
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Techno entstand ursprünglich in Detroit. Und zwar von Schwarzen Musikern, was gern vergessen wird. Der New Yorker Künstler-Aktivist DeForrest Brown Jr. stellt Techno in die Tradition radikaler Schwarzer Kultur und Politik.
DeForrest Brown Jr. bezeichnet sich selbst als Black Millennial: hochgebildet, versiert in digitaler Kultur, Kommunikation und Medien. Seine Kunst ist Techno oder Konzept-Techno. In seinen Texten schreibt er im Stile historisch-kritischer Theorie über die elektronische Clubmusik, die viele nur mehr mit weißer europäischer Rave-Kultur verbinden.
"Make Techno Black again" heißt eine politische Fashion-Kampagne, die er mit seiner Partnerin, der Modedesignerin Ting Ding betreibt. Denn die Ursprünge des Techno und der jüngeren Schwarzen Tanzmusik – elektrischem Funk, Disco und House – liegen in Detroit, der Stadt der Fließbandindustrie von Ford und Motown.

Keine Hoffnung auf Versöhnung

Browns politische Haltung ist rigoros, seine Stimmung angelehnt an das, was der Autor und Kulturwissenschaftler Frank Wilderson mit dem Titel seines jüngsten viel diskutierten Buches "Afro-Pessimism" genannt hat: Die Sklaverei wird immer zur DNA Schwarzer Menschen in Amerika gehören und das Sklavenhaltertum immer zur DNA der Weißen.
Ein paar Tage nach der Tötung George Floyds hat DeForrest Brown Jr. über Nacht sein Album "Black Nationalist Sonic Weaponry" herausgebracht, auf Deutsch: die Schallwaffen des Schwarzen Nationalismus. Darin geht es um die nicht enden wollende Geschichte der Bilder von getöteten Schwarzen Körpern.

Für "Stunde 1 Labor" haben wir mit Brown mit Hilfe der digitalen Datenübertragung über den Atlantik hinweg gesprochen.
Hartwig Vens: Natürlich waren alle von dem "Album Black Nationalist Sonic Weaponry" überrascht. Es war höchstwahrscheinlich eine Reaktion auf die Dinge, die nach George Floyds Tod geschahen. Was hat Sie motiviert, diese Platte so zu machen und zu veröffentlichen?
DeForrest Brown: Der Titel geisterte schon eine Weile herum. Anfang Februar auf einem Flug nach Amsterdam las ich das Buch des politischen Aktivisten und Detroiter Autofabrik-Arbeiters James Boggs "The American Revolution". Ich habe dieses als eine Art Leitplanke für das Buch gelesen, das ich schreibe: "Assembling a Black Counterculture" - Zusammenbau einer schwarzen Gegenkultur.
Hartwig Vens: "Assembling", so wie Assembly Line, Fließband?
DeForrest Brown Jr: Ja. Beim Lesen fiel mir auf, dass es in keiner Phase der amerikanischen Geschichte jemals eine gerechte oder humane Behandlung von Schwarzen Arbeitern gab. Der Schriftsteller James Boggs stammt aus demselben Bundesstaat wie ich, aus Alabama. Ein Grund, warum er nach Detroit kam, war, dass er vor den Gewaltverbrechen der weißen Suprematisten floh. Mit weißen Suprematisten meine ich die ganz normalen Bürger des Südens. Er rennt nach Norden, um Autoarbeiter zu werden, und versucht, seinen Lebensunterhalt in diesem Land zu verdienen, in dem er festsitzt. Wie alle Schwarzen in Amerika festsitzen.
Ich dachte darüber nach, wie eine von einem Schwarzen Arbeiter ausgelöste amerikanische Revolution aussehen würde. Auch frühere Revolten haben mich inspiriert, wie die MOVE-Bewegung in Philadelphia, die Black Panther Party, Underground Resistance.
Bei der Platte wollte ich lose Enden verknüpfen zwischen mir, James Boggs und den Belleville Three die im Fallout der Detroiter Auto-Industrie Techno erfanden. Ich wollte auch das "New Thing" von Ende der 60er einbeziehen, den Jazz von der Lower East Side, wo ich auch wohne. Archie Shepp, Amiri Baraka …
Amiri Baraka redete in den 60er Jahren von Unity-Musik, der Einheit aller Schwarzen Musik. Man könne den Funk von James Brown nicht vom Jazz von John Coltrane trennen. Schwarze Musik ist durch das institutionelle Verständnis der weißen Europäer von Musik mit ihren Genres und Formen nicht zu erfassen. Dieses Gefühl der ästhetischen und strukturelle Freiheit hat mich interessiert, diese historischen Fäden wollte ich mit mir verbinden.
Obwohl die Platte nach dem Mord an George Floyd herauskam, war es keine Reaktion darauf. All diese Gefühle waren bereits da, weil schwarze Menschen ständig in solche Situationen kommen. Was Sie bei George Floyd gesehen haben, ist das Wesen des Schwarzseins in Amerika: sozial, ökonomisch oder staatlich. Aber die Form der Sichtbarkeit, die die Situation mit George Floyd darbot, hat mich angespornt, zwei Nächte am Wochenende zu arbeiten und eine Platte rauszuhämmern, so schnell wie ich konnte. Ich habe alle Philosophen und schwarze Denker angerufen, die ich kenne, und sie gebeten, Texte für das Booklet beizusteuern, um die Musik zu kontextualisieren.
Das alles war also eine lange schlummernde Idee. Die Lebensbedingungen in meinem Land haben dazu geführt, dass diese Platte herauskam.

Flucht in die Zukunft

Hartwig Vens: Der Titel von Track Nummer 4 lautet auf deutsch übersetzt: "Die Schwarze Geheimtechnologie ist ein traumatisch hergestelltes und exportiertes Gut, das für die weißen Herrscher zur Gründung der Vereinigten Staaten hergestellt wurde durch 300 Jahre nicht anerkannter Barbarei." Können Sie mir sagen, was Sie mit schwarzer Technologie und deren geheimem Charakter meinen?
DeForrest Brown Jr: Das Buch, das ich schreibe, "Assembling a Black Counterculture", beginnt um das frühe 19. Jahrhundert herum und führt in die Zeit, in der afrikanische Sklaven über die Underground Railroad von Süden nach Norden, nach Detroit oder New York flüchteten. Sie sind buchstäblich in die Zukunft gerannt. Im Süden dominierte die Plantagenstruktur, deren Technologie Schwarze Menschen waren. Wir pflückten Baumwolle, wir wurden geschlagen zur Gewährleistung einer mechanischen Produktion. Wir wurden dafür bestraft, unzulängliche Roboter zu sein.
Wenn man in die Unterwerfung hineingeboren wird, fällt einem auf einmal auf: "Ok, ich glaube, ich bin der am schlechtesten bezahlte - also gar nicht bezahlte - Arbeiter auf dieser Welt. Ich habe nichts außerhalb der Plantage gesehen." Du rennst weg und tauchst irgendwo in Detroit auf, wo Hochhäuser gebaut werden. Ich meine, was fängst du damit an?
Man muss bedenken, dass afrikanische Sklaven nicht lesen konnten, wir durften nicht lesen. Lesen, war entweder autodidaktisch gelernt oder für den ausdrücklichen Bedarf des weißen Sklavenhalters. Als Abraham Lincoln "die Sklaven befreite", interessierten ihn nicht Menschlichkeit oder Menschenrechte. Ihn interessierte, die Produktionsmittel der Konföderation der Südstaaten kaputt zu machen, die in Millionen afrikanischer Roboterarbeiter bestanden, die es ihnen erlaubten, Baumwolle auf hocheffiziente Weise zu produzieren. Dann baut Eli Whitney die Baumwoll-Entkörnungsmaschine, die die afrikanischen Arbeiter mehr oder weniger ersetzt.
Das ist der Grund für meinen Widerwillen gegenüber Technologie. Natürlich müssen wir sie verwenden, wir verwenden sie jetzt gerade, ich verwende ein Audio-Interface, das an meinen Laptop angeschlossen ist, wir verwenden das Internet, um miteinander zu sprechen. Das ist in Ordnung und gut so. Aber im Kontext meiner Abstammung und dem späten 19. Jahrhundert ist diese Vorstellung von Technologie ziemlich irritierend.
Haben Sie jemals den Film "Saw" gesehen? Die Horror-Filmreihe aus Amerika?
Hartwig Vens: Nein, ich kann keine Horrorfilme sehen. Zu viel Angst
DeForrest Brown Jr: Wissen Sie, wie glücklich mich das macht, dass ich Sie das sagen höre? Das ist etwas, ich will das im nationalen deutschen Radio sagen, was sich die Leute vergegenwärtigen müssen: Wie viel Horrorfilme Amerikaner konsumieren! "Saw" ist ein Film, in dem zwei Leute in einem Raum aufwachen und denken: Wie bin ich hierher gekommen? Dann taucht ein Clown auf und sagt: "Ich möchte ein Spiel spielen." Das Spiel besteht in einer Serie von völlig kranken Aufgaben. Man ist zum Beispiel an eine Wand gekettet und kommt nur frei, wenn man sich den Arm absägt.
Es gibt sechs dieser Filme, die innerhalb eines Jahrzehnts herausgekommen sind. Wenn wir über Schwarze Musik, Schwarze Kunst, Schwarzes Leben sprechen wollen, ist dieser Film ein gutes Modell für den Anfang. Um zu verstehen, wenn Schwarze Menschen über generationenübergreifendes Trauma sprechen oder, sagen wir, über Angst vor der Polizei.
Noch einmal: Mit George Floyd sah die ganze Welt, wie ein weißer Mann 8 Minuten und 46 Sekunden lang unbeteiligt sein Knie auf den Hals eines schwarzen Mannes drückt. Ich habe die drei verschiedenen Kamerawinkel dieser Szene mehr als 50 Mal gesehen, ich habe Videos von Überwachungskameras gesehen, wie es dazu kam, die Augenblicke danach. Es gibt keinen Punkt, an dem sein Tod als eine vertretbare ethische Option erschien.
Der Punkt bei meinem Album und meinem Buch ist, den Fakt zu begreifen, dass Schwarze Körper in Amerika bedeutungslos sind. Es ist ein Notsignal, es sind Signale für andere Menschen und andere Länder, die amerikanische Kultur weniger als Popkultur zu betrachten: die Filme, das süße Zeug. Wir müssen den Disneyland-Schleier von Amerika herunterreißen und zeigen, was drunter ist.
In der Woche nach George Floyd gab es mutmaßlich fünf Lynchmorde an schwarzen Männern. Wenn Sie jemals von einem Lynchmord in Amerika hören, müssen Sie wissen, dass mindestens vier Personen erforderlich sind, um das zu tun. Sie brauchen einen, der den Körper hält, denn das Opfer lebt normalerweise noch; einen anderen, um den zu halten, der den Körper hält. Sie brauchen einen, um den festesten Pfadfinderknoten zu binden, den Sie jemals gesehen haben. Sie brauchen einen, der das Seil über den Baum wirft und es an ein Auto bindet. Sie müssen den Kopf durch die Schlinge stecken.
Verstehen Sie, was ich meine: Das ist eine Maschine. Sie benötigen mindestens vier Personen, um sicherzustellen, dass dieser schwarze Mann so getötet wird, dass die Community ihn am nächsten Tag sehen kann.

Emotionale Tragweiter wird unterdrückt

Hartwig Vens: Haben sie sie wirklich gelyncht, indem sie sie aufgehängt haben?
DeForrest Brown Jr: Oh ja, das ist die bevorzugte Art, mit der weiße Suprematisten vor allem im Süden Afroamerikaner töten. Wenn Sie an den Ku-Klux-Klan denken: Sie wissen nicht, wer in der Gruppe ist, weil alle die weißen Kapuzen tragen. Aber es sind normale Leute, auch von der Polizei oder der Stadt. Es kann der Typ auf der Straße sein. Die Weißen, die dort leben, tun quasi so, als wäre kein Mord geschehen, aber gleichzeitig genießen sie ihn.
Das passiert jetzt jeden Abend in den Nachrichten. Jeden Abend zeigen sie sehr plastische Bilder vom Mord an George Floyd. Wenn ich europäische Nachrichten sehe, verpixeln sie Floyds Gesicht, Man hört ihn nicht schreien, man sieht den Mordakt nicht direkt.
In "Black Nationalist Sonic Weaponry" wollte ich den Zorn zum Ausdruck bringen, der sowohl von der Regierung als auch von den amerikanischen Normalbürgern aktiv unterdrückt wird. Sie wollen die wirkliche emotionale Tragweite nicht sehen oder sich damit befassen.
Vor ein paar Wochen hat mir meine Mutter ein Video geschickt, in dem meine Schwester mit meinem Großvater über seine Erfahrungen im Süden unter den Jim-Crow-Gesetzen spricht. Ich hatte diese Geschichten nie von ihm gehört. Klar durften Sie im Süden wegen der Segregation nicht aus demselben Brunnen trinken. Es gibt also einen schönen, gut funktionierenden Brunnen, auf dem "weiß" stand, und dann einen beschissenen kaputten Brunnen mit braunem Wasser, auf dem "schwarz" steht. Sie konnten nicht die gleichen Toiletten benutzen. Für Schwarze gab einen Schweinetrog auf der anderen Seite des Hauses.
Ein andermal hat mein Großvater meiner Schwester und mir eine Geschichte erzählt. Er und ein paar Freunde hatten es satt. Sie verstecken sich nachts auf einem Hügel und werfen große Steine auf vorbeifahrende Autos von Weißen, die die Segregationsgrenze überschritten, um Schwarze zu ermorden. Ich hatte nicht gewusst, dass mein Großvater ein Guerillakämpfer war.
Ja, ich könnte den ganzen Tag darüber reden, wie abartig Amerika ist.
Hartwig Vens: Ich habe das noch nicht ganz verstanden. Mit Schwarzer Technologie meinen Sie die Bestimmung des Schwarzen Körpers als Roboter. Der weiße Herrscher bestraft ihn dafür, dass er nicht gut genug ist. Oder meinen Sie die Techniken, mit denen er sich befreit hat?
DeForrest Brown Jr: All das zusammen. Wir afrikanische Sklaven waren die Technologie. Es ist fast so, als würde die ganze Welt optimiert. Genau das war die Baumwoll-Entkörnungsmaschine, ein Schritt der Optimierung. Ich höre Menschen aus der Start-up- und Tech-Welt ständig "Optimierung" sagen. Damit haben weiße und europäische Menschen buchstäblich Völkermorde gerechtfertigt, indem sie die Arbeiter optimierten, die zum Aufbau der Zivilisation nötig sind, von denen wir heute alle profitieren. Davon reden wir, wenn wir von weißen Privilegien sprechen. Wir sprechen über das Privileg, in einer Gesellschaft leben zu können, die auf dem Rücken von Menschen aus dem globalen Süden für Sie geschaffen wurde.
Ja, ich bin bei einem britischen Plattenlabel, ich darf coole Musik rausbringen, mit Ihnen im nationalen Radio sprechen, herumreisen. Aber schlußendlich, wenn ich nach Hause komme, gibt es nichts, das weiße Medizin und weiße Wissenschaft gegen die Nachtangst tun können, die ich durch mein genetisches Trauma habe.

Trauma vor dem Urknall

Hartwig Vens: Wenn Sie von Jazz und Schwarzem Nationalismus reden, meinen Sie so etwas Frank Kofskys Buch "Black Nationalism and the Revolution in Music"?
DeForrest Brown Jr: Absolut. Ich sehe die gesamte afro-amerikanische Musik als eine Art Urschrei. Wenn wir eine Muttersprache haben, ist es Musik. Deshalb sind wir so gut darin. Ich verstehe meine Musik besser als die englische Sprache, und die beherrsche ich ziemlich gut.
Noch mal: Wenn du nicht lesen und schreiben kannst, wie meine Vorfahren, bist du allein mit abstrakten Soundbrocken. Wenn das über 400 Jahre in dein System eingebacken ist, kommt dabei so etwas heraus wie: Musik.
Ich denke an Tom Wiggins, ein blinder Sklave und großartiger Pianist und Klangkünstler. Der Sklavenhalter beschloss, sein Manager zu werden und ihn durch das Land zu schicken, um Klavier und andere Klangobjekte zu spielen, und nahm sich natürlich das ganze Geld.
So in etwa hat die moderne Popmusikindustrie angefangen. Ein Sklavenhalter und später nach Ende der Sklaverei sein Sohn beuten die Arbeit einer behinderten schwarzen Person aus, die sich auf die einzige Art ausdrücken konnte, die ihm physisch war: durch verschiedene Klanginstrumente.
Noch mal zurück zu den Bildern von "Saw": Wenn Ihr Fuß an eine Wand gekettet ist, ein Clown Sie auslacht und sagt: "Hey, möchten Sie ein Spiel spielen?" Ich weiß nicht, was für ein Ton herauskommt. Das ist etwas jenseits der Philosophie.
Nick Land spricht darüber, dass es ein Trauma vor dem Urknall gibt, von dem wir als Menschen nie etwas wissen werden. Ich denke, speziell im Schwarzen Körper gibt es eine Art von Gefangenschaft, die kein Weißer jemals verstehen kann. Jazzmusik als eine Art organisierter traumatischer Schrei ist für mich sehr interessant im Kanon der Schwarzen Musik.
Was Amiri Baraka mit Unity Music gefordert hat war: "Ok, jetzt, wo wir tatsächlich so geschrien haben, wie wir es wollen, jetzt da Leon Thomas auf den Gipfel des Berges gestiegen und seinen Schrei trainiert hat, um über Pharoah Sanders Saxophonspiel zu jodeln. Nachdem wir das alles getan haben, wie nennen wir das Ding? Wie können wir es kanonisieren?
Ein paar Jahre vorgespult zu Techno: Ich stelle mir vor, was Juan Atkins gedacht hat, als er seinen Korg MS 20 und seinen Drumcomputer abschaffte und anfing, Musik zu machen. Ich glaube, dass Techno die stärkste Variante dieses Schreis war mithilfe japanischer Technologie, die zu diesem Zeitpunkt durch weiße europäische Standards genormt war. Aber indem er diese Instrumente unter seinen Bedingungen gebrauchte, empfinde ich das so, dass Juan Atkins Musik eine Art aktualisierter Jazz ist.
Hartwig Vens: Techno als Neuformulierung des Jazz?
DeForrest Brown Jr: Zugegeben, das ist etwas aus dem Stegreif gesagt. Vor allem wollte Juan Atkins an Funk anknüpfen, das, was George Clinton damals machte, auf seine Art aktualisieren. Hier wird’s interessant: Juan Atkins erfand den Techno und er hatte Kraftwerk gehört, das war Teil der Formel. Aber entscheidend war die Funk-Perspektive, das, was George Clinton mit Bernie Worrell gemacht hat, einem der ersten Schwarzen Synthesizer-Spieler, der auch bei Talking Heads war. Sie können ihn im Film "Stop Making Sense" spielen sehen - unglaublich.
Ich bin tatsächlich mit Kraftwerk aufgewachsen und dachte: Roboter. Ich dachte, dass es Schwarze Menschen waren, die vorgaben, Roboter zu sein. Und als ich erfuhr, dass Kraftwerk Deutsche waren, dachte ich: Ah, das ergibt Sinn."
Mir geht es um die Verbindung von Juan Atkins mit Motown und der effizienten Produktion von Popsongs, aber auch um den größeren Zusammenhang: Stevie Wonders Interaktionen mit Synthesizern, Herbie Hancocks und Les McCanns Umgang mit dem Mischpult und Jimi Hendrix, der mit Stereoeffekten spielt, mit dem Mischpult, Wawah- und Whammy Pedalen. Ich sage Jazz, aber ich bin da sehr frei.
Hartwig Vens: Was Sie bei Juan Atkins erwähnen, ist dieses Buch von Alvin Toffler "Die dritte Welle" und den Begriff Technokratie, für den Techno eine Abkürzung ist. Wie beeinflussten Alvin Toffler und der Begriff Technokratie Juan Atkins?
DeForrest Brown Jr: Ich habe "Die dritte Welle" in einer Bibliothek gefunden, noch bevor ich von den schwarzen Ursprüngen des Techno wußte. Obwohl meine Eltern Juan Atkins’ Musik gehört haben, glaube ich nicht, dass sie sie als Techno bezeichnet hätten. Mir als Kind haben sie das als Funkmusik vorgespielt.
Im College las ich dann das Buch "Gegenkultur - Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend" von Theodore Roszak, das gegen die Technokratie gerichtet war. Als ich mich damit als Medienwissenschaftsdstudent am College beschäftigte, stieß ich auf Techno. Ich dachte, interessant, was ist das denn? Beim Recherchieren stellte ich fest, dass auch Juan Atkins "Die dritte Welle" in einem Kurs namens "Future Studies" gelesen hatte. Der Erfinder eines Genres, das größtenteils der deutschen Genialität und besonders einer deutschen Band in einer Liste von unzähligen anderen Schwarzen Einflüssen zugeschrieben wird; Juan Atkins hatte tatsächlich einen "Future Studies"-Kurs besucht und die Zukunft in den Maschinen entdeckt. Und da komme ich ins Spiel.
Hartwig Vens: Sie sprechen viel von Technologie als Mittel der Unterdrückung, Barbarei und weißer Vorherrschaft. Aber es gibt doch auch immer die Aneignung oder Wiederaneignung von weißer Technologie durch Schwarze als Mittel zur Befreiung. Alle emanzipatorischen Prozesse erfolgen durch oder teilweise durch die Eroberung der Produktionsmittel. Sehen Sie das so?
DeForrest Brown Jr: Nun, das ist Teil des Tricks. Der letzte Titel des Albums heißt "Es sind die Schwarzen, die den revolutionären Kampf für eine klassenlose Gesellschaft repräsentieren". Dies ist ein direktes Zitat von James Boggs. Es bedeutet für mich, dass nicht die Technologie, sondern die Schwarzen die Produktionsmittel sind. Die Technologie spiegelt das, was die westliche Zivilisation von uns verlangt hatte. In dem Moment haben wir eine Art objektorientierte Ontologie.

"Das Ziel der klassenlosen Gesellschaft stand und steht im Zentrum des Kampfes der Schwarzen. Es sind die Schwarzen, die den revolutionären Kampf für eine klassenlose Gesellschaft repräsentieren. Die amerikanischen Marxisten haben dies nie verstanden, weil sie immer gedacht haben, dass die soziale Revolution in Amerika von weißen Arbeitern angeführt werden muss. Sie hatten auch Angst, dass sich die weißen Arbeiter gegen die Schwarzen stellen würden, wenn diese gewalttätige revolutionäre Aktionen begännen. Die Amerikaner müssen erkennen, dass die Schwarzen die kommende revolutionäre Kraft im Land sind und dass die kapitalistische Produktion ebenso wie sie neue Produktionsmethoden und neue Arbeiterschichten auch neue Schwarze produziert hat." (James Boggs "The American Revolution: Pages from a Negro Worker’s Notebook", 1963)

Aber noch einmal zurück zum "Saw"-Bild. Ich sehe, dass eine Kreissäge auf mein Gesicht zukommt, aber ich kann sie bedienen, weil ich schon mit etwas vertraut bin, das der Kreissäge ziemlich ähnlich ist. Verstehen Sie, was ich meine? Wir waren vor allen anderen in den Kontrollräumen. Wir waren die Technologie. Also können wir sie auf eine Weise verwenden, die nicht optimiert oder sauber ist. Wenn Sie angekettet sind in einem dunklen Raum mit einer Kreissäge, gibt es nicht viele Optionen. Wenn es eine Art Voodoo wäre, würden wir den nehmen. Aber ich weiß nicht, was das ist. Ich wurde von der westlichen Gesellschaft christianisiert. Ich habe also keinen Zugang zu anderen Technologien als den Traumata.
Das passiert in dem letzten Track "It is the Negro Who Represents the Revolutionary Struggles for a Classless Society". Ich zitiere darin Derrick May darüber, was Techno ist. Plötzlich wird es zu einer Art Jazzsong, der buchstäblich aus den Lautsprechern explodiert. Ich wollte, dass es den Hörer überwältigt; ich wollte, dass jemand, der eher technisch mit Lautsprechern und Software umgeht, einen Schritt zurücktritt und das Gefühl hat: Woah, wie kann der Sound einen so anspringen. Es gibt keinen Algorithmus auf der Welt, der das kann, was ich in diesem Track gemacht habe. Nicht weil ich besser bin als ein Algorithmus, sondern weil ich kein Computer bin. Es gibt wahrhaftige Gefühle, die über die Grenzen eines Computers hinausgehen.

Aufklärung über Geschichte

Hartwig Vens: Sie haben vorhin über die Berlin-Detroit-Verbindung und die Rolle von Techno hier in Berlin gesprochen. Die Kritik an der weißen Umwertung des Techno gibt es auch hier, aus der linken und minderheitspolitischen Richtung. Eine DJ of colour, Sarah Farina, hat in einem Post geschrieben: "Techno is Schwarz, fast jedes Musikgenre ist Schwarz. Diese Musik und Kultur kommen direkt aus dem Unrecht an Schwarzen Menschen." Sie beschuldigt alle unpolitischen Techno-Leute, seien es DJs oder die Menge, kein Bewusstsein für die Schwarzen Wurzeln des Techno zu haben.
DeForrest Brown Jr: Ich bin da bei aller Wut sehr vorsichtig. Wir hatten die Situation mit Nina Kraviz, die Cornrows trägt, die geflochtenen Haare. Meine Freundin Frankie vom Disc Woman-Kollektiv macht das öffentlich, sie sagt: Hey, könntest du vielleicht bitte keine Cornrows tragen? In der Schwarzen Kultur wurden Braids und Cornrows verwendet, um Karten von Fluchtwegen in die Haare zu frechten, um aus der Sklaverei zu fliehen. Es ist ein cooler Hairstyle, aber er hat buchstäblich eine technologische Funktionalität, die für unser Überleben von entscheidender Bedeutung war. Und Nina sagt: "Ich komme nicht daher, ich weiß nicht, wovon du sprichst." Und beendet das Gespräch. Deshalb sollte sie gecancelt werden. Die Sache ist: Die Haltung der Community, die die DJ meint, von der Sie sprechen, resultiert aus Unwissenheit.
Amerikaner lehren Amerikaner diese Geschichte nicht. Als ich aufwuchs, wurde mir beigebracht: Die Kolonisatoren kamen hier rüber und Kolonisation war eine Sache, die einfach passierte. Sie veranstalteten ein schönes Abendessen mit den Eingeborenen namens Thanksgiving, dann sagten die Eingeborenen: "Ok, weißer Mann hier ist unser Land." Dann war der Trail of Tears doch ein schlechtes Geschäft. Aber lass gut sein, wir haben’s hinter uns, jetzt sind wir eine multikulturelle Welt.
In der Straße, in der ich aufgewachsen bin, in Birmingham, Alabama, gibt es eine Kirche, die 16th Street Baptist Church. In dieser Straße wurden 1963 vier kleine Mädchen vom Ku-Klux-Klan in die Luft gesprengt. Dort schrieb Martin Luther King seinen Brief aus dem Gefängnis an den Präsidenten. In Birmingham begann der Million-Man-March. Die Geschichte ist in der Architektur. Das sieht man auch gut in Deutschland. Ich hatte vor ein paar Jahren einen Auslandsaufenthalt in den Kunstwerken in Berlin. Ein Freund von mir, Stephen Warwick vom Pan-Label, zeigte auf Löcher und Dellen in der Wand. Er sagte, dies seien Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg.
Was ich damit sagen will, ist, dass es in Europa eine ständige Erinnerung gibt, in Amerika dagegen gibt es keine wirkliche Verantwortung für das, was passiert ist. Da kann ich unmöglich erwarten, dass die Europäer diese Informationen von den Amerikanern bekommen. Hier sind die Amerikaner für mich verantwortlich. Aber ich sage auch, dass wir jetzt, da Sie es wissen, in all seinen grausamen Details darüber sprechen müssen. Was wir ja gerade tun. Ich gebe Interviews speziell dafür, um über diese Dinge zu sprechen. Mein Album ist mein Trojanisches Pferd. Es soll Leute in der Musikindustrie anziehen, um ins Gespräch zu kommen über das, was Techno ist.
Hartwig Vens: Denken Sie, dass das jemanden in der Musikindustrie interessiert?
DeForrest Brown Jr: Oh nein, überhaupt nicht. Die hat das noch nie interessiert. Warum sollte sich ein Sklavenhalter auch um die ehemaligen Sklaven kümmern? Ich meine, einige Amerikaner versuchen es, und ich sehe Europäer, die es versuchen, aber es muss ein Verständnis da sein. So wie die Leute über Sklaverei sprechen, sie sagen einfach "Sklaverei", es gibt aber kein Gefühl in der Brust, "Oh, Sklaverei, das ist etwas, was in der jüngeren modernen Geschichte passiert ist". Mein Urgroßvater war bis 1930 ein Sklave. Das ist sehr präsent.
Hartwig Vens: Sie betrachten sich als Schwarzen Nationalisten, oder? Wie denken Sie über Allianzen zwischen Schwarzen und Weißen, insbesondere in der Arbeiterklasse?
DeForrest Brown Jr: Genau deshalb habe ich die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden aufgegriffen und den Ausdruck, dass Sklaven nach Norden in die Zukunft rennen. Abraham Lincoln hat die Sklaven befreit, um ihnen ihre Produktionsmittel zu nehmen und sie dann in Armut aussterben zu lassen. Es gibt eine Unterschicht armer Weißer, aber es gibt eine andere Klasse, die Schwarz ist. Es gibt Schwarze Menschen, die weggegangen und im Laufe der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen sind, aber nicht annähernd im Ausmaß der weißen Klasse. Wenn wir über Klassensolidarität mit Weißen sprechen, ich bin bereit, sie zu finden. Und ich finde sie oft. Ich habe zwei Alben über Blackness und solche Themen mit einem britischen Klangkünstler namens Kepla gemacht. Ich bin mit racial solidarity einverstanden, solange die Unterdrücker verstehen,dass sie immer die Unterdrücker sind, auch wenn sie auf unserer Seite sind.

Weiße Zerbrechlichkeit

Hartwig Vens: Track 10 heißt "Amerikanische Marxisten sind tendenziell in die Falle getappt, die Schwarzen als Schwarze zu betrachten, d. H. In Bezug auf Race, obwohl die Neger tatsächlich die am meisten unterdrückten und unsichtbaren Teile der Arbeiter waren und bis heute sind …"
DeForrest Brown Jr: Ein Bespiel: Für eine Weile lebte ich in einem Ort namens Brownsville, etwas außerhalb von Brooklyn. Die Wohnblöcke ziehen sich über drei oder vier Meilen, gefängnisartige Klinkerbauten, die speziell für die Schwarze Bevölkerung von New York gebaut wurden. Einer meiner Mitbewohner war ein weißer Kommunist. Ein junger Typ, der an der New School war und glaubte, etwas zu wissen, weil er Marxismus studierte. Er wohnte in dieser schwarzen Gegend und hatte ein Branding von Huey P. Newton am Oberschenkel. Der hat tatsächlich versucht, mich und meine Mitbewohner zum Marxismus zu bekehren. Ich setzte mich einfach hin und ließ ihn reden, als ob ich nicht bereits diese Aktivistenarbeit machen würde. Aber als einem meiner Mitbewohner etwas Schlimmes passierte und ich meinen Job verlor und Geld zu einem Problem wurde, da war der Kommunismus plötzlich weg. Er kam an: "Wo ist die Miete?" Plötzlich machte er mit den Vermieter gemeinsame Sache. Also: Wir könnten diese Arbeiterklassensolidarität ausprobieren. Aber was ich am Ende des Kampfes erlebte, war, dass die weiße Person sich für das Geld und die systemische Hierarchie und gegen konkrete Menschlichkeit entscheidet. Der Track über die amerikanischen Marxisten ist ein Zitat von James Boggs, und speziell für diesen Typen.
Es gibt einen Nachrichten-Clip über weiße Agitatoren, die versuchen, eine unbewaffnete und friedliche Schwarze Demonstration in Gewalt eskalieren zu lassen. Er war einer dieser Typen, die, als Trump gewählt wurde, mit der Gasmaske zum Weißen Haus lief und sagte: "Ich werde gegen Trump kämpfen." Ich sagte zu ihm: "Wenn die CIA dich zurückverfolgt, werden sie hinter uns her sein, nicht hinter dir." Aber das war ihm egal. Er wollte seine Fantasie ausleben und so tun, als würde er die Regierung stürzen.
Das sehen Sie bei den Beatniks, bei jeder Gegenkultur der Weißen in Amerika: In ihren Zwanzigern versuchen sie, Kommunisten und gute Menschen zu sein. Aber sie schaffen es einfach nicht, wenn es um’s Geld, die weiße Hierarchie, das Haus und den weißen Lattenzaun, Sicherheit und Bequemlichkeit geht, darüber zu sprechen, was die Vorfahren getan haben. Wenn es um diese Dinge geht, ist es immer zu schwierig. Deshalb sage ich: Ich bin bereit, diese Solidarität zu suchen, wenn die weiße Zerbrechlichkeit verschwindet. Wenn denn die weiße oder europäische Person bereit ist, sich hinzusetzen und zu sagen: Okay, krempeln wir die Ärmel hoch und graben uns richtig tief in die Geschichte. Lass uns schauen, wie wir Vielfalt und Gleichheit finden können.
Deshalb rufe ich zu einem "Schwarzen Nationalismus" auf, weil keine Schwarze Nation geben wird. Schwarze machen 14 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung aus. Die US-Bevölkerung hat bereits zwei Atombomben abgeworfen und diverse Demokratien auf der ganzen Welt destabilisiert.
Wir können nicht wirklich viel tun. Wir können uns nur so gut wie möglich wappnen. Ich kann im nationalen deutschen Radio sprechen, so viel ich kann. Wir können so viel Musik und Kunst produzieren, wie es geht. Jeder kann sich "Get out" und Spike Lee-Filme ansehen - all das. Aber solange es kein konsequentes und konstantes Engagement bei diesem Thema gibt - nicht nur in Richtung Diversity. Es geht wirklich um Gleichheit und die Gleichheit der Perspektive. Wir müssen die Barrieren abbauen und sehr offen sprechen. Die Hoffnung ist, dass wir tatsächlich die Ärmel hochkrempeln und gute Politologen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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