Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
422 Seiten, 22,00 Euro
Ein ungeschönter Blick in den Spiegel
In Italien ist dieses Buch Kult: "Meine geniale Freundin" ist der erste Teil einer vierteiligen Saga um die Freundinnen Lila und Elena im Neapel der Nachkriegszeit. Eine Geschichte über alltägliche Gewalt und Versuche, das Kriegstrauma zu überwinden.
Eine Frau namens Lila ist verschwunden – um das Leben, das hinter ihr liegt, auszulöschen. Dies ist der so schlichte wie effektvolle Auftakt zu Elena Ferrantes Opus "Meine geniale Freundin" – der just dieses Leben aufzeichnet und vermisst. Denn Elena, Ferrantes Ich-Erzählerin und Lilas langjährige engste Freundin, setzt sich hin, um ihrer beider Geschichte aufzuschreiben. Elenas Erinnerungen an ihre Freundschaft, die Grundlage des Romans sind, führen dabei zurück in das Neapel der 1950er-Jahre, in ein Rione, das von Armut und Enge, aber auch von überbordenden Gefühlen geprägt ist.
Lebenslange Freundschaft und Konkurrenz
In der Grundschule, Ende der 1940er-Jahre, begegnen sich beide zum ersten Mal. Elena, die eher stille und brave Tochter eines Pförtners, ist sofort elektrisiert von der frechen, unbändigen und geistig doch extrem behänden Lila, deren Vater eine Schusterei betreibt. Eine Freundschaft beginnt, die von Anziehung und Abstoßung, vor allem aber von steter Konkurrenz geprägt ist. Zeit ihres Lebens wird Elena sich mit Lila vergleichen; Zeit ihres Lebens wird sie das Gefühl haben, dass Lila ihr immer einen Schritt voraus ist: Lila wird die besseren Noten haben. Lila wird zu einem verführerischen Mädchen, das allen Jungs den Kopf verdreht. Und Lila wird nicht nur als erste von ihnen beiden heiraten. Mit ihrer Heirat wird sie zugleich daran arbeiten die mentale Welt des Rione zu verlassen, auch wenn sie – im Gegensatz zu Elena – dort leben bleiben wird.
Sittengemälde Neapels der Nachkriegszeit
Tatsächlich ist das Leben im Rione und damit im Neapel der Nachkriegszeit das andere große Thema dieses Romans. Denn Ferrante – der Name ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin, deren wahre Identität bis heute nicht gelüftet werden konnte – liefert im Spiegel dieser Freundschaft vor allem eine Chronik, ja ein Sittengemälde Neapels im Wandel der Zeit. Da ist die alltägliche Gewalt, die das Rione prägt: Jeder kämpft hier gegen jeden, Mann gegen Mann, Mann gegen Frau, Frau gegen Frau, Eltern gegen Kinder, Kinder gegen Kinder. Sprich: Überleben im Rione heißt dem Anderen Leid zufügen. Und da sind die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs, dessen Spuren noch überall sicht- und merkbar sind: Ihre Welt, so schreibt Elena an einer Stelle, war voller Worte, die töteten – Trümmer, Tuberkulose, Tetanus.
Brav erzählte Chronik statt Roman
Mit Elena und Lila verfolgt der Leser, wie die italienische Nachkriegsgesellschaft dieses Trauma zu verdrängen und zu überwinden sucht: durch das Wirtschaftswunder, das in Neapel am Ende die rohe Verquickung von Geld und Gewalt hervorbringen wird, wie sie die Mafia und die Camorra verkörpern. Mit der Macht dieses schmutzigen Geldes endet auch der Roman, etwas abrupt übrigens – denn die deutsche Ausgabe ist erst einmal Teil 1 einer inzwischen 4-bändigen Saga. In Italien ist diese Saga Kult. Woran das liegt, darüber kann man nur spekulieren. Denn in literarischer Hinsicht ist die Chronik weniger Roman als vielmehr eben das: eine Chronik – formal eher brav erzählt, auch wenn die Figuren leuchten, da wie aus Fleisch und Blut geschaffen. Möglicherweise trifft Elena Ferrante den Nerv eines zutiefst menschlichen Bedürfnis: zu begreifen, wer man ist und woher man kommt. Just das bietet "Meine geniale Freundin": einen großartigen, da ungeschönten Blick in den Spiegel.