Wahlen verhindern Versöhnung
Die Präsidentschaftswahlen 2010 lösten in der Elfenbeinküste einen Bürgerkrieg aus, etwa 3000 Menschen starben. Bis heute stehen sich Opposition und Regierungslager unversöhnlich gegenüber. Nun, kurz vor den Regionalwahlen nehmen die Spannungen wieder zu.
Behende bewegt sich Karim Coulibaly mit seinen Krücken zwischen den Bänken des improvisierten Cafés an einer Straßenböschung in Abidjan. Das linke Bein des Mannes mit dem muskulösen Oberkörper ist ab dem Knie amputiert. Coulibaly zählt zu den Opfern der Nach-Wahl-Krise, wie die Menschen in der Elfenbeinküste den fünfmonatigen Bürgerkrieg um die Jahreswende 2010, 2011 nennen. Sein Bein wurde durch Schüsse verletzt. Er hat in verschiedenen Behörden seinen Fall geschildert und Anträge gestellt. Aber:
"Ehrlich gesagt, geht das alles sehr langsam voran, das stört schon. Gestern erst war ich wieder beim Ministerium, um eine Unterstützung für meine Kinder zu beantragen. Denn ich habe nicht genug Geld. Die Regierung muss mir helfen, damit ich wenigstens meine Familie unterstützen kann. Meine Situation, ohne Arbeit und ohne Unterstützung, ist nicht leicht."
"Wir Opfer haben bis heute keinen Ausgleich erhalten"
Als Taxifahrer kann Karim Coulibaly seit der Amputation nicht mehr arbeiten. Mit gemischten Gefühlen hat er im August erfahren, dass der Frau des früheren Staatspräsidenten, Simone Gbagbo, und rund 800 weiteren Menschen Amnestie gewährt wurde. Ihnen allen wurden Straftaten während der vergangenen politischen Krisen oder Angriffe auf die Sicherheit des Landes zur Last gelegt. Manche Medien nennen sie einfach politische Gefangene. Diese Freilassungen sei ja schon in Ordnung, sagt Karim Coulibaly, aber:
"Man kann nicht zur Versöhnung übergehen, wenn man Dinge nicht in Ordnung bringt. Wir Opfer haben bis heute keinen Ausgleich erhalten für das, was uns passiert ist. Das heißt nicht, dass wir gegen Versöhnung sind. Aber davor muss man die Dinge klären und die Opfer müssen entschädigt werden."
Der Bürgerkrieg von 2010, 2011, von dem viele Menschen wie Karim Coulibaly lebenslange Folgen tragen und der rund 3000 Todesopfer forderte, war eine Fortsetzung ungelöster Konflikte und Rivalitäten aus den Jahrzehnten zuvor. Schon seit dem Tod des Staatsgründers Houphouët-Boigny 1993 hatte es Gerangel um die Macht gegeben, 1999 putschte das Militär gegen Präsident Henri Konan Bedié.
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 gab es Kämpfe zwischen Anhängern des Präsidenten Laurent Gbagbo und denen des früheren Premierministers Alassane Ouattara. In den Jahren 2002 bis 2007 war das Land nach einem erneuten Putschversuch sogar zweigeteilt – im Süden regierte Laurent Gbagbo, im Norden der Rebellenführer Guillaume Soro, dazwischen eine von einer UN-Mission geschützte Pufferzone.
Umstrittene Amnestie per Präsidenten-Dekret
Heute sind die meisten Ivorer heilfroh, wenigstens die Teilung überwunden zu haben. Doch 2010 flammte die Gewalt wieder auf, weil zwei altbekannten Kandidaten – Laurent Gbagbo und Alassane Ouattara – nach den Wahlen die Präsidentschaft für sich reklamierten. Mithilfe internationaler Truppen setzte sich Ouattara schließlich durch. 2015 wurde er wiedergewählt. Doch die Opposition boykottierte damals den Urnengang.
Den höchsten Preis für diese wiederholten Auseinandersetzungen zahlt die Bevölkerung. Einige Opfervertreter haben vor Kurzem die Menschenrechtsorganisation Actions pour la Protection des Droits de l’Homme (APDH) aufgesucht, um ihr Leid zu klagen und Unterstützung zu erhalten. Deren Vorsitzender Arsène Néné Bi ist nicht nur darüber empört, dass die Opfer bisher keine Entschädigung bekommen haben – er hält auch die Amnestie von Regierungsgegnern für den falschen Ansatz. Zusammen mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Amnesty International und Human Rights Watch, hat die APDH dagegen protestiert. Denn:
"Für uns verstößt die Amnestie gegen die Rechte der Opfer und trägt nicht zur nationalen Versöhnung bei. Schon unter dem früheren Präsidenten Laurent Gbagbo gab es ein Amnestie-Gesetz für alle, die schwere Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Rebellion von 2002 begangen hatten. Man dachte, das würde die Aggressivität mindern. Aber schon die Barbarei, die unser Land 2010, 2011 erlebte, zeigt die Wirkungslosigkeit einer solchen Amnestie. Sie ist aus unserer Sicht vielmehr eine Ermutigung zur Straflosigkeit."
"Leider stellen wir fest, dass nur eine Seite vor Gericht steht"
Noch dazu ist die Amnestie nicht vom Parlament verabschiedet worden, sondern als Dekret des Präsidenten Alassane Ouatarra ergangen. Was manche als großzügige Geste gegenüber der Ehefrau seines alten Rivalen Laurent Gbagbo werten, ist in Arsène Nénés Augen kein gutes Zeichen für die Stärke der Demokratie in der Elfenbeinküste. Auch die Arbeit der Wahrheitskommission, die die Auseinandersetzungen aufarbeiten sollte, reicht ihm nicht aus. Er meint, dass sich die internationale Justiz des Konflikts stärker annehmen sollte. Das ist zwar geschehen: Seit 2016 läuft beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein Verfahren gegen den früheren Staatspräsidenten Laurent Gbagbo und seinen damaligen Jugendmilizenführer Charles Blé Goudé. Für Néné ist das aber eine Justiz der zwei Geschwindigkeiten, denn:
"Unsere Position ist klar: Beide Lager, die sich gegenüber standen, haben Übergriffe begangen. Es wäre logisch, dass die Tatverdächtigen vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen und sich für ihre Taten verantworten. Aber leider stellen wir fest, dass seit Beginn des Prozesses in Den Haag nur eine Seite vor Gericht steht."
Und zwar die Seite von Laurent Gbagbo, der 2010 ebenso wie sein Konkurrent Alassane Ouattara den Wahlsieg für sich reklamierte und schließlich im Frühjahr 2011 nach langen Kämpfen festgenommen wurde. Gbagbo muss sich weiter in Den Haag verantworten, während seine Frau Simone, gegen die dort ebenfalls ein Haftbefehl vorliegt, nicht ausgeliefert werden soll.
Schon 2012 hat Staatspräsident Alassane Ouattara verkündet, dass ab jetzt kein ivorischer Staatsbürger mehr nach Den Haag geschickt werden soll – die Justiz in der Elfenbeinküste sei stark genug. Seine Gegner werfen ihm allerdings vor, dass er diese Justiz durch seine Dekrete selbst gestalte. Als Ouattara im Sommer Simone Gbagbo und rund 800 weitere Menschen amnestierte, erklärte er zugleich, dass rund 60 Militärangehörige, denen ebenfalls Menschenrechtsverletzungen in der Nach-Wahl-Krise zu Last gelegt werden, nicht freigelassen werden.
Für Jean-Gervais Tcheidé, ein Getreuer von Laurent Gbagbo, und Vizepräsident von dessen Partei FPI bleibt die Amnestie damit unvollständig. Auch würden die vielen Ivorer, die ins Exil gegangen seien, so nicht zur Rückkehr ermutigt. Er selbst profitiert hingegen von der Amnestie: Nach fünf Monaten in Haft wurde er im August freigelassen. In einem Hotel am Strand von Grand Bassam, wo er sich von den Strapazen der Haft erholt, erklärt er:
"Wir haben die Hölle des Gefängnisses erlebt. Menschen wurden gefoltert, manche sind für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Aber das ist nicht schlimm. Wenn dieses Opfer nötig ist, damit nie wieder jemand aus politischen Gründen inhaftiert wird, akzeptieren wir das."
Er sei der eine politische Gefangene zu viel gewesen, sagt Tcheidé fast schmunzelnd, und habe sozusagen die anderen, die zum Teil seit sieben Jahren inhaftiert waren, rausgeholt. Für ihn, dem ebenfalls schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden, ist die Freilassung ein wichtiger Schritt zur Entspannung der Verhältnisse. Jetzt bemüht er sich um versöhnliche Worte gegenüber der Regierung:
"Wir müssen an die Zukunft denken, wir müssen unseren Kindern eine Elfenbeinküste lassen, in der man gut leben kann. Wir können nicht unseren Ärger und unsere Rachegefühle wiederkäuen. Das bringt überhaupt nichts."
Der Moment sei gekommen, um sich zusammenzusetzen und zu diskutieren, findet Jean-Gervais Tcheidé. An den kommenden Regionalwahlen allerdings will sein Parteiflügel nicht teilnehmen, denn die soll von der stark umstrittenen Wahlkommission beaufsichtigt werden, deren Reform auch der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte seit 2016 fordert. Staatspräsident Ouattara hat zwar versprochen, dem nachzukommen, aber erst für die nächsten Präsidentschaftswahlen und nicht für die bevorstehenden Kommunal- und Regionalwahlen.
Die Präsidentschaftswahl 2020 im Blick
Besuch bei einer Frau, die am 13. Oktober als Kandidatin für das Bürgermeisteramt im Ort Agou im Süden des Landes antritt. Sie war hier schon einmal knapp zwölf Jahre lang Bürgermeisterin. Aber Agnès Monnet ist weit mehr als eine Lokalpolitikerin. Als Generalsekretärin des Front Populaire Ivoirien, also der Partei von Laurent Gbagbo und dem eben freigelassenen Jean-Gervais Tcheidé, kritisiert auch sie immer wieder öffentlich die Wahlkommission.
"Das Problem mit der Wahlkommission ist, dass von der Zentrale bis an die Basis alles von der Regierung organisiert wird. Die Opposition ist nur ganz schwach vertreten. Die Regierung nominiert den Präsidenten der Wahlkommission. Und nicht nur das: Alle Regierungsorgane sind vertreten. Und die Wahlkommission entscheidet über die Vorsitzenden der lokalen Wahlbüros. Die stehen dann unter ihrer Fuchtel. Und alle wissen, dass Wahlbetrug in vielen Fällen existiert."
Dennoch hat sich Agnès Monnet, anders als der Parteiflügel um Jean Gervais Tcheidé, entschieden zu kandidieren. Einen Parlamentssitz hatte sie bei den letzten Parlamentswahlen ganz knapp verpasst. Das soll ihr jetzt bei der Kommunalwahl nicht passieren. Auf dem Tisch vor ihr liegen ein T-Shirt und eine Schirmmütze mit ihrem Bild darauf. Material für die Wahlkampagne.
"Die meisten Parteien blicken bei diesen Wahlen auf die Perspektiven für die Präsidentschaftswahl 2020. Deswegen will jeder gewinnen. Aber ich denke, wir werden klug genug sein, dass es keine Ausschreitungen gibt. Natürlich sind Wahlen immer Anlass für verbale Auseinandersetzungen. Aber es sollte auf der verbalen Ebene bleiben."
Doch im Wahlkampf gab es nicht nur etliche verbale Ausfälle gegen gegnerische Parteien, bei Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern verschiedener Kandidaten wurden bereits Menschen verletzt. Die Regierungskoalition zwischen der Partei von Staatspräsident Alassane Ouattara und der seines Vorvorgängers Henri Konan Bédié ging schon im August in die Brüche. Die beiden Parteien hatten seit 2005 zusammengearbeitet und Front gegen Laurent Gbagbo und seine FPI gemacht. Davor allerdings hatten sich Bédié und Gbagbo gemeinsam gegen Ouattara gestellt: eine Konstellation, die heute wieder möglich scheint.
Junge Bürger - die gleichen, alten Politiker
Mit der Ausrichtung auf die nächsten Präsidentschaftswahlen ziehen sich die politischen Lager also wieder hinter großen Konfliktlinien zurück, die das Land seit dem Ende des Einparteiensystems Anfang der 1990er-Jahre prägen. Damals, so die Analyse von Thilo Schöne, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Elfenbeinküste, führte eine Wirtschaftskrise in den politischen Konflikt.
"Dieser Ressourcenkonflikt zwischen den drei großen Lagern, den Parteien, hat sich dann auf verschiedene ethnische Zugehörigkeiten überlagert, die am Anfang so nicht klar waren. Aber mit dem zuspitzenden Ressourcenkonflikt und der unkontrollierten Machtübergabe des Langzeitpräsidenten Houphouët-Boigny wurde versucht, den anderen politischen Spieler auszuschalten."
Immer noch sind an der Spitze der drei großen Parteien die gleichen Männer, die schon seit den 90er-Jahren das politische Spiel bestimmen – und polarisieren. Und das in einem Land, in dem über 75 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind. Zwar gebe es durchaus kompetente junge Menschen, um die alten Politiker abzulösen, stellt Séraphin Kouamé, Projektmitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung fest, aber:
"Sie haben ein wenig Angst, sich politisch zu engagieren, weil sie denken: Das bedeutet Druck auf meine Familie, auf meinen Clan. Ich könnte meinen Job verlieren. Sie sagen sich: Die Politik ist zu gefährlich. Das macht keinen Sinn. Das ist doch eh ein eingeschworener Verein und ein Hexenkessel, sollen sie sich untereinander auffressen. Ich schaue lieber, dass ich meine Familie ernähren kann und für die Ausbildung der Kinder sorge, das reicht."
Familienzugehörigkeit bestimmen die Wahlentscheidung
Angesichts der ewig gleichen politischen Konstellation und der problematischen Tradition, dass Politiker hierzulande vor allem die eigene Klientel versorgen, ist es nicht verwunderlich, dass für viele Menschen inhaltliche Fragen bei den Wahlen weit nach hinten gerückt sind.
"Es ist nicht unbedingt der Gesellschaftsentwurf, dem man folgt, sondern eine Person. Vielleicht, weil sie aus meinem Clan, meiner Region stammt, oder vielleicht meiner Religion, meiner Familie, meiner Ethnie angehört. Das findet sich nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch in manchen Regionen. Das alles muss überwunden werden. Aber das ist nicht einfach, denn dazu braucht man politische Bildung."
Und das in einem Land, in dem schon Schulbildung alles andere als selbstverständlich ist. Nur 43 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren kann lesen und schreiben, besagt eine Statistik aus dem Jahr 2015. Und wer mit der Armut kämpfen muss, hat auch kaum Zeit und Muße, sich politisch fortzubilden. Aufpeitschen lassen sich Menschen, die ihre Lebensumstände als unerträglich empfinden, dagegen schnell.
Sozialpolitik als Garantie für eine Versöhnung
Deswegen ist Serge Kouassi, ein junger Informatiker, der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Programm zur Nachwuchsförderung durchlaufen hat, überzeugt:
"Die Konfliktlinien, die heute entstehen, sind die Auswirkung einer schlecht gemachten Sozialpolitik. Alle bisherigen politischen Systeme haben auf der sozialen Ebene versagt. Das ist Grund für die zahlreichen Krisen, die wir erleben. Wenn die Menschen ein gutes Auskommen haben, dann müssen sie sich nicht um Politik kümmern und leben besser zusammen. Deswegen scheint mir Sozialpolitik die Garantie für Versöhnung zu sein."
Die Regierung hat zwar Projekte wie eine allgemeine Krankenversicherung in Angriff genommen. Doch bis zu den Wahlen am 13. Oktober werden solche sozialpolitischen Maßnahmen kaum bei den Menschen ankommen. Ob wohl bei den jungen Ivorern der Appell ihres in die Jahre gekommenen Präsidenten Alassane Ouattara wirkt? Er sagte in seiner Rede zum Nationalfeiertag im August:
"Wir haben ein kostbares gemeinsames Gut zu verteidigen: die Elfenbeinküste, unsere große Nation, erbaut mit Anstrengungen, in der Vielfalt, im Respekt unserer Unterschiedlichkeit. Und wir haben die Verantwortung, die Einheit aller Kinder unseres teuren Vaterlands zu schaffen. Die Einheit ist eine Notwendigkeit für unsere gemeinsame Zukunft, sie ist eine Anforderung, die individuelle Ambitionen und Interessen übersteigt."
Noch lässt der 76-jährige Ouattara es offen, ob er selbst weiter politische Ambitionen haben und 2020 für ein drittes Mandat kandidieren wird. Seine Entscheidung könnte auch vom Ausgang der Kommunal- und Regionalwahlen am 13. Oktober abhängen.