Elfmeterschießen im Fußball

Drama und Nervenkitzel

23:57 Minuten
Oliver Kahn hält im Champions-League-Finale 2001 gegen den FC Valencia den entscheidenden Elfmeter.
Oliver Kahn hielt im Champions-League-Finale 2001 gegen den FC Valencia drei Elfmeter für den FC Bayern. © dpa / picture alliance / Markus Ulmer
Von Stefan Osterhaus · 16.06.2024
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Spannender als eine Elfmetersituation ist keine andere Situation im Fußball. Nicht selten versagen hier auch den besten Spielerinnen und Spielern die Nerven. Lässt sich das Geheimnis eines perfekten Elfmeters mit wissenschaftlichen Methoden erklären?
„Elfmeterschießen ist ein Psychospiel. Es ist unglaublich schwierig“, sagt Ottmar Hitzfeld, ehemaliger Dortmund- und Bayern-Trainer. Zweimal hat er als Trainer die Champions League gewonnen. Einmal mit den Bayern in einem legendären Elfmeterschießen gegen den FC Valencia, 2001 war das. Aber dazu kommen wir später noch.

Der Elfmeter - spannungsgeladen. Nervenaufreibend. Für die Zuschauer. Und erst recht für die Beteiligten. Für die Schützen. Für die Torhüter. Für die Trainer. Elfmeter zu schießen ist etwas Besonderes. Erst recht, wenn es nach 120 Minuten Spiel mit Verlängerung zur Entscheidung kommt, zum Elfmeterschießen, so Hitzfeld: „Ja, richtig, es kommt immer auf die Ausstrahlung an. Ist ja ein Duell.“

Seit 1976 gibt es Elfmeterschießen bei Turnieren

Elfmeterschießen elektrisieren den Fußball seit Jahrzehnten. Seit 1976 werden sie bei internationalen Turnieren eingesetzt, wenn keine Entscheidung in der regulären Spielzeit oder Verlängerung gefallen ist.
Damals standen sich Deutschland und die CSSR im Europameisterschaftsfinale gegenüber. Legendär der Fehlschuss von Uli Hoeneß: Das erste und einzige Mal verlor eine deutsche Mannschaft ein Elfmeterschießen bei einer Welt- oder Europameisterschaft.
Fussball-EM-Finale 1976 in Belgrad: Tschechoslowakei - BR Deutschland 7:5 n.E. - Elfmeterschiessen: Uli Hoeneß verschiesst beim Stand von 4:3 i.E. seinen Elfmeter gegen Torhueter Ivo Viktor.
Uli Hoeneß verschießt im EM-Finale 1976 gegen die Tschechoslowakei seinen Elfmeter© dpa / picture alliance

Eine deutsche Erfolgsgeschichte

Deutschland und das Elfmeterschießen: eine Erfolgsgeschichte. Mysteriös erscheint vielen Fans der Erfolg der Deutschen. Aber es gibt Menschen, die sich damit wissenschaftlich auseinandersetzen.

Daniel Memmert, Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln, ist einer von ihnen. Er hat sich ausgiebig mit dem Elfmeter beschäftigt. Was ist für ihn also dran am Mysterium Elfmeter, an diesem Schuss aus kurzer Distanz vom Punkt vor dem Tor?

Als Sportwissenschaftler sehe ich das als ein analytisches Problem an - und zwar als eine Standardsituation, wo vorher alles definiert ist. Das heißt, die Ausgangssituation ist nicht mystisch. Die Ausgangssituation ist völlig klar, das weiß der Schütze, das weiß der Torwart. Und das weiß natürlich auch der Trainer und die Zuschauer im Stadion. Alles ist klar vorher definiert. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum man es eigentlich sehr gut trainieren kann.

Sportwissenschaftler Daniel Memmert

Kann man Elfmeterschießen trainieren?

Sehr gut trainieren? Das würde der frühere Trainer Otmar Hitzfeld so niemals behaupten: „Nein, kann man nicht. Elfmeterschießen. Wir haben auch im Training ab und zu Elfmeter geschossen, sind Peanuts. Kann man nicht vergleichen mit einer Stresssituation vor 50.000 Zuschauern von der Mittellinie nach vorne zu gehen, anzulaufen und im Mittelpunkt zu stehen.“

Theorie und Praxis: Liegen sie wirklich so weit auseinander, wie es auf den ersten Blick scheint?
Daniel Memmert beruft sich auf seine Analysen. Die, sagt er, seien eindeutig. Nicht nur, was die Trainierbarkeit von Strafstößen anbelangt. Sondern auch, was manche tief verankerte Annahmen betrifft. Etwa jene, dass deutsche Spieler besonders gut Elfmeter verwandeln können. Oder dass die Engländer es gar nicht könnten.
Je mehr Daten zur Verfügung stehen, sagt Daniel Memmert, desto präziser ließen sich Aussagen treffen. Dazu hat Memmert mit seinem Team auch die Elfmeter aus den Ligen verschiedener Länder ausgewertet:

„Unsere Studie mit einem weitaus größeren Datensatz kann klar zeigen, dass es zwischen Nationalitäten keine Unterschiede gibt. Das heißt, bei den Deutschen, den Spaniern, den Franzosen oder den Engländern gibt es keine signifikanten Unterschiede. Es ist auch nicht plausibel. Warum soll denn ein Land, eine Nationalität schlechter Elfmeter schießen als eine andere? Dafür gibt es erst einmal keine Theorie dafür, keine plausible auf jeden Fall.“

Dennoch bleibt der Misserfolg der Engländer auffällig, gerade dann, wenn es drauf ankommt, bei Welt- und Europameisterschaften - genauso auffällig wie der Erfolg der Deutschen. Vollkommen rational lässt es sich also nicht erklären.
Ebenso wenig wie die gute Serie der Argentinier. Deren Weg zum WM-Titel führte 2022 in Katar über zwei Elfmeterschießen: gegen die Niederlande im Viertelfinale und im Finale gegen Frankreich - obwohl Superstar Kylian Mbappé aus dem Spiel heraus zweimal und einmal im Elfmeterschießen traf.

Elfmeterschießen: zwischen Gefühl und Psychologie

In jedem Fall aber ist ein Elfmeterschießen ein Musterfall für Psychologen. Denn in keiner anderen Situation im Fußball ist mehr Psychologie im Spiel als beim Elfmeterschießen.

Hat eine Fußballnation wie England erst einmal eine Reihe von Elfmeterschießen verloren, dann lastet dies offenbar schwer auf den Schultern der Spieler. Umgekehrt erscheint eine lange Erfolgsserie, wie bei den Argentiniern und Deutschen die Spieler dieser Nationen zu stärken.

Yann Sommer ist der Torhüter von Inter Mailand. Er spielte in der Bundesliga für Borussia Mönchengladbach und den FC Bayern. Viele Jahre ist er in der Schweizer Nationalmannschaft aktiv. Er gilt als ein Elfmeterspezialist. Wie empfindet er die Elfmetersituation?

Elfmeter ist eine sehr seltene Situation, muss man ganz klar dazu sagen. Aber natürlich hat man als Torwart immer das Ziel, den Elfmeter zu halten, es jedes Mal wieder zu probieren, auch an den Strategien zu feilen, dass man etwas anderes machst und so weiter. Aber es gehört auch ein bisschen Glück dazu.

Torhüter Yann Sommer

Glück - unbedingt. Und ein Plan. Yann Sommer aber bleibt auf der emotionalen und nicht auf der rationalen Ebene, wenn es um Elfmeter geht:
„Elfmeterschießen hat für einen Torwart viel mit Gefühl zu tun, weil: Das ist echt ein Phänomen. Ich war in der Schweiz beim FC Basel und auch bei vorigen Klubs: Wenn du mal einen Elfmeter hältst und vielleicht mal den zweiten direkt danach, dann entwickelst du so ein Gefühl im Tor, wo du beim dritten weißt: Schieß! Ich halte ihn. Und der Stürmer weiß: Okay!  Die letzten zwei hat er gehalten. Boah, das wird schwierig! Es ist ein Unterschied. Wenn dir das aber nicht gelingt und du dich mit Elfmeterhalten für eine Zeit schwertust, da merkst du, dass die Stürmer anlaufen und sich sagen: ‚Okay, das bekomme ich hin.“

„Und wie bereitet man sich vor? Man schaut sich natürlich die Schützen an. Man probiert, sich zu überlegen: Okay, wenn er den letzten da geschossen hat, wie könnte der Stürmer denken und so weiter. Es ist so ein Psychospielchen zwischen Spielern und Torwart.“

Superstars tun sich schwerer vom Punkt

Aber wie steht es um die Schützen? Können die mit ihrer Ausstrahlung die Situation beeinflussen? Sind Superstars, die ihre Bälle fast zentimetergenau platzieren können, im Vorteil?
Nein, ganz im Gegenteil, sagt der Sportwissenschaftler Daniel Memmert. Erst recht, wenn es sich um besonders erfolgreiche Spieler handelt. Spieler, die viele Preise gewonnen haben. Weltfußballer. Oder auch Nachwuchspreise. Wer sich seines Status sicher ist, der tut sich schwerer vom Elfmeterpunkt, sagt Memmert:
„Tatsächlich scheint es so zu sein. Der hatte einen Tick weniger oft getroffen, dieser Ausnahmespieler, als ein Ausnahmespieler, der zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er einen Preis gewonnen hatte.“

Beispiele dafür liefert die Fußballgeschichte reichlich. Die argentinische Legende Diego Maradona war ein berüchtigter Fehlschütze vom Elfmeterpunkt. Franz Beckenbauer trat am liebsten gar nicht an.

Aber gibt es überhaupt den idealen Elfmeterschützen? Und gibt es eine Technik, die so gut wie sicher zum Erfolg führt? Daniel Memmert unterscheidet zwischen zwei Methoden, den Torwart zu überwinden:

Es gibt zwei Strategien, die in der Vergangenheit untersucht wurden. Die eine Strategie ist die torwartorientierte Strategie, dass man einfach versucht, den Torwart auszuschauen. Die andere ist die Strategie, dass man sich eine Ecke aussucht und schießt. Wissenschaftlich gesehen gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen diesen beiden Strategien.

Sportwissenschaftler Daniel Memmert

Den Torwart ausgucken, wie es umgangssprachlich heißt – ihn mittels einer kleinen Täuschung in die falsche Ecke schicken. Das erfordert starke Nerven. Der ehemalige Bayern-Stürmer Robert Lewandowski hat diese Technik zur Perfektion getrieben. Und auch der Spanier Sergio Ramos beherrschte die Täuschung einst in Vollendung.

Die Körpersprache spielt eine zentrale Rolle

Entscheidend sei vor allem, wie sicher der Schütze in das Duell geht. Das zeige sich deutlich an seiner Körperhaltung, sagt Daniel Memmert:
„Man weiß sehr, sehr viel, dass die Körpersprache eine zentrale Rolle spielt - und zwar die Körpersprache des Schützen. Da können wir schön zeigen, dass wenn jemand selbstbewusst dasteht, dass dann der Torhüter denkt, wenn man ihn befragen wird, das haben wir getan in experimentellen Settings, dass er dann glaubt, den Elfmeter nicht zu halten.“

Viele Torhüter würden dem sicher beipflichten. Umgekehrt, so Memmert, gilt: „Wenn der Spieler den Ball abgelegt hat, sich rumdreht, dann zu seinem Anlaufpunkt läuft und quasi dem Torhüter seinen Rücken zuwendet – das ist eine klare Pose, klare nonverbale Kommunikation: Vermeidung. Ich bin in einer stressigen Situation, und ich will eigentlich da raus. Eigentlich passt es hier gar nicht. Ich fühle großen Stress, und den Torhüter will ich schon gar nicht anschauen, weil ich da sowieso gleich hinschießen muss.“

Es ist eine Pflichtaufgabe 

Man kann sich dem Ideal des perfekten Elfmeters nähern, sagt Daniel Memmert. Und zwar, indem die Trainer die Spieler richtig auswählen. Der Sportwissenschaftler verdeutlicht dies mit einem Beispiel aus der Verhaltenspsychologie. Die Theorie , so Memmert, besagt …

„… dass es zwei Arten von Persönlichkeitstypen gibt: den Hoffnungsorientierten und den Pflichtorientierten. Und die Sozialpsychologie hat diese Theorie genommen, um verschiedene Leistungen von Menschen zu erklären. Wir haben sie genommen, um die Leistungen beim Elfmeter zu analysieren. Und da konnten wir verschiedene Dinge zeigen, also zum einen konnten wir tatsächlich zeigen, dass die pflichtorientierten Schützen eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten zu treffen als die hoffnungsorientierten Schützen.“
Dafür, sagt Daniel Memmert, gebe es gute Gründe. Denn die sogenannten pflichtorientierten Spieler dürfen schon wegen ihrer Position auf dem Platz sich keine Fehler erlauben. Abwehrspieler gehören in diese Kategorie.
Die Hoffnungsorientierten dagegen sind Stürmer und andere Offensivkräfte, die nicht die Pflicht haben, einen Treffer zu erzielen, im Spiel aber darauf hoffen dürfen. Das sei ein großer Unterschied. Memmert sagt daher, es sei aussichtsreich, eher Abwehrspieler in die Pflicht zu nehmen:
„Es ist die Pflicht, diese Aufgabe zu erfüllen. Wenn ich den Müll raustragen muss, dann ist das natürlich eine Pflichtaufgabe. Oder die Steuererklärung zu machen ist auch eine Pflichtaufgabe. Eine Hoffnungsaufgabe wäre eher etwas Richtung: Man löst ein Kreuzworträtsel oder man löst Sudoko.“

Die Abfallentsorgung ist ein sehr prägnantes Bild. Viel unangenehmer kann eine Pflichtaufgabe kaum sein. Auf dem Fußball übertragen, hieße das: den Ball einfach, ohne nachzudenken, auf die vorher bestimmte Stelle zu knallen. Diese Methode ist durchaus erfolgversprechend.

Und wenn es um Pflichterfüllung geht: Das würde doch irgendwie auch zu den Erfolgen deutscher Nationalteams im Elfmeterschießen passen. Schließlich gelten die Deutschen, Wahrheitsgehalt hin oder her, nach wie vor als ein pflichtbewusstes Völkchen.

Der größere Druck liegt beim Schützen

Die Erwartungshaltung an den Schützen beim Elfmeter ist klar: Er muss treffen. Der Druck auf den Torhüter ist längst nicht so hoch. Er kann einen Elfmeter halten - aber er muss es nicht. Seine Qualität bemisst sich nicht daran, ob er gut oder schlecht im Abwehren von Strafstößen ist.

Der ehemalige Bayern-Torhüter Sepp Maier, einer der größten Keeper der Fußballgeschichte, gehört ganz nebenbei nicht zu den herausragenden deutschen Torleuten, wenn es um das Duell vom Elfmeterpunkt geht. Da war er gerade mal Durchschnitt. Über Elfmeter sagt Maier:
„Man muss sich auch vorher erkundigen, wie einer einen Elfmeter schießt. Wenn einer dauernd nach rechts schießt, dann konzentriere ich mich auf diese Ecke. Das war bei mir im Endspiel 1974 mit Neeskens genauso. Der hat drei, vier Elfmeter bei der WM rechts vom Torwart geschossen. Da bin ich stehengeblieben. Dann habe ich mir gedacht: Der schießt bestimmt wieder rechts von mir. Und dann gehe ich rüber. Dann schießt er kerzengrad in die Mitte. Was willst da machen?“
Der deutsche Torwart Sepp Maier springt in die falsche Ecke: Das erste Tor im Finale der FuÃballweltmeisterschaft am 7. Juli 1974 im Münchener Olympiastadion fiel durch Foulelfmeter, von Neeskens verwandelt, für die Niederlande.
Sepp Maier springt beim Elfmeter von Neeskens im WM-Finale 1974 in die falsche Ecke.© dpa / picture alliance

Das erste Elfmeterschießen verlor Deutschland

Maier stand auch in einem legendären ersten Elfmeterschießen im Tor. 1976 gegen die CSSR. Da verloren die Deutschen ihr bisher einziges Elfmeterschießen bei einer WM oder EM, weil Uli Hoeneß über das Tor schoss. Damals, zu Maiers Zeit, hatte Elfmeterschießen also noch gar nicht den Stellenwert, den es heute hat.

Für einen seiner Nachfolger im Bayern-Tor, dem von ihm selber trainierten Belgier Jean-Marie Pfaff, sah das schon ganz anders aus. Pfaff war auf dem Duell vom Punkt regelrecht versessen:
„Ich war vielleicht der Beste. 70 Prozent der Elfmeter habe ich gehalten. Und von wem habe ich Elfmeter gehalten? Van Basten, von Kaltz, von Andi Brehme, von Wuttke. In Belgien, habe ich von anderen großen Fußballern gehalten.“

70 Prozent? Da sollten wir vielleicht nicht drauf wetten. Aber Pfaff wehrte verdammt viele Strafstöße ab.

Die Tricks der Torhüter

Die Sportwissenschaft hat viele Torhüter akribisch beobachtet – und herausgefunden, dass es ein paar Kniffe gibt, mit denen man Schützen aus dem Konzept bringen kann. Der Torwart könnte sich beispielsweise so groß wie möglich machen.

Das ist so diese typische Y-Position - und dass man sich gleichzeitig auch auf der Torlinie sich bewegen soll. Ein weiterer Punkt ist, dass man möglichst versucht, den Schuss hinauszuzögern, dass man den Spieler relativ lang in dieser Situation lässt, in dieser extremen Stresssituation. Es wird heutzutage extrem praktiziert, dass mit dem Schiedsrichter noch mal gesprochen wird, dass andere Spieler kommen. Die Zeitspanne vom Foul, bis dann überhaupt Elfmeter geschossen wird, hat sich extrem erweitert.

Sportwissenschaftler Daniel Memmert

Außerdem kann der Torhüter sich minimal versetzt zur Mitte des Tores stellen – und so dem Schützen eine vermeintlich offene Ecke anbieten.

Trotz dieser Tricks aber ist es für einen Torhüter extrem schwierig, einen Elfmeter zu halten. Selbst wenn es gelingt, den Schuss hinauszuzögern, sind für Memmert die Schützen immer im Vorteil.

Das heißt, im Grunde muss der Torwart sich von vornherein eine Ecke aussuchen, in die er springt, weil er sonst bei der Schussgeschwindigkeit einfach zu spät dran ist.

Elfmeterschießen ist stets eine Extremsituation. Aber extremer als die Erlebnisse von Trainer Ottmar Hitzfeld im Mai 2001 kann es kaum sein. Champions-League-Finale, Bayern München gegen Valencia.

Im Fußball lässt sich nicht immer alles erklären

Schauen wir anhand dieses Spiels mit seinem dramatischen Elfmeterschießen auf die Theorien der Sportwissenschaft. Die Bayern hatten zwar mit Oliver Kahn einen ganz großen Keeper im Tor, aber Hitzfeld schränkt ein:

Oliver Kahn war nicht berühmt dafür, dass er Elfmeter gehalten hatte, davor. Die Quote war nicht so gut. Das habe ich erst im Nachhinein gelesen, aber in einem Spiel plötzlich hält er drei. Es ist Wahnsinn. Das ist Fußball, weil man nicht immer alles erklären kann und wo Spieler in entscheidenden Szenen über sich hinauswachsen können.

Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld

Der Mann, der der Vulkan genannt wurde, übertraf die Erwartungen weit. Kahn verwandelte sich auf der Stelle in einen sogenannten Elfmeterkiller. Selbst unter Spitzentorhütern sind sie selten.
Einer, der eine gewaltige Quote hatte, war der Brasilianer Diego Alves, der in der ersten spanischen Liga spielte. Von zehn Strafstößen gegen ihn gingen mehr als vier nicht ins Tor. Auch Jens Lehmann, der ehemalige deutsche Nationaltorhüter, war dafür bekannt, im Elfmeterschießen zu großer Form aufzulaufen.
Der deutsche Torhüter Jens Lehmann hält einen Elfmeter des Argentiniers Esteban Cambiasso im Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Berlin.
Jens Lehmann hält einen Elfmeter des Argentiniers Esteban Cambiasso im Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Berlin.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
In jüngster Zeit hat sich in der Bundesliga Manuel Riemann vom VfL Bochum als Elfmeterspezialist einen Namen gemacht. Von 96 Elfmetern hat er 28 gehalten.

International ist der Argentinier Emiliano Martinez bei den Schützen gefürchtet. Er rettete Argentinien den WM-Sieg 2022. Gegen Holland triumphierte er im Viertelfinale und auch gegen Frankreich im Finale - und das, obwohl Kilian Mbappé gleich drei Elfmeter gegen ihn verwandelte.

Was Martínez aber da im Strafraum trieb, hatte nichts zu tun mit dem gesitteten Auftreten der Kollegen. Er betrieb - man muss es fast so martialisch sagen, einen Psychokrieg gegen die Schützen. Er ging zur Strafraumgrenze und schritt sein Revier ab wie ein Raubtier. Den Ball rückte er erst nach Aufforderung heraus. Nicht sonderlich sportlich. Aber effektiv. 

Auch im Nachwuchs gibt es Spezialisten

In Deutschland gibt es seit Kurzen einen Nachwuchskeeper, der sich als Elfmeterkiller einen Namen gemacht hat: Konstantin Heide, Torwart der Mannschaft, die als erste deutsche U17-Weltmeister wurde.
Er kam nur durch die Verletzung des Stammtorhüters in die Mannschaft. Wie Martinez gewann Heide zwei Elfmeterschießen – auch das Finale gegen Frankreich. Aber im Vergleich zum Elfmeterrüpel aus Argentinien wirkte er geradezu introvertiert.

Einen Torwart zu haben, der über sich hinauswächst, ist ein wichtiger Faktor in einem Elfmeterschießen. Der andere Faktor – das sind natürlich die Schützen. Sie auszuwählen und innerhalb kurzer Zeit auf diesen besonderen Moment einzustimmen – das ist die Kunst eines Trainers. Ottmar Hitzfeld hat noch sehr lebendige Erinnerungen an das legendäre Elfmeterschießen von Mailand im Champions-League-Endspiel 2001.

In der regulären Spielzeit hatte Mehmet Scholl, ein großartiger Techniker, einen Elfmeter verschossen. Ein Angreifer, der somit in das Profil der hoffnungsorientierten Spieler passt, wie sie der Sportwissenschaftler Daniel Memmert definiert hat. Er wollte dann im Elfmeterschießen nicht antreten – und das konnte Ottmar Hitzfeld gut verstehen:
„Mehmet Scholl war auch ein Künstler, er war Nummer zehn, oder ein Spieler, der zwei, drei Spieler ausspielen konnte. Und wenn man einen Elfmeter verschossen hat, will man nicht mehr Elfmeterschießen.“
Wer sich freiwillig meldete, war der Leitwolf Stefan Effenberg, so Ottmar Hitzfeld:

„Effenberg, war immer ein positiv denkender Mensch, und er hat die Spieler immer angespornt und hat gesagt: ‚Du schießt jetzt.' Es ist immer auch wichtig, dass ein Spieler überzeugt ist von sich. Und Effenberg war in der Hinsicht sehr mutig.“

Effenberg traf gleich zweimal vom Punkt. Aber so oder so geht es vor allem um die psychologische Komponente, sagt Ottmar Hitzfeld:
„Da muss man immer Überzeugungsarbeit abliefern, und es ist am Besten, wenn es innerhalb der Mannschaft kommt. Wenn der Trainer sagt: ‚Du musst, du musst!‘ Dann ist es immer etwas schwieriger. Wenn einer nicht schießen wollte, habe ich gesagt: Okay, nicht dann lieber nicht’.  Dann lieber einen Spieler, der vielleicht technisch nicht so gut ist und überzeugt ist.“

Wer dabei von sich überzeugt ist, der kann auch durchaus einem Spezialisten im Tor gegenübertreten. Einem, wie Emiliano Martinez – oder den deutschen U17 Torhüter Konstantin Heide.
Aber auch das sagt noch gar nichts über einen Erfolg im Elfmeterschießen aus. Der Shoot out bleibt unberechenbar. Man kann ihm sich wissenschaftlich nähern, aber nicht vollständig durchdringen.

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