Elisabeth R. Hager: „Der tanzende Berg“
© Klett-Cotta
Triumph der Fantasie
Elisabeth R. Hager
Der tanzende BergKlett-Cotta, Stuttgart 2022253 Seiten
22,00 Euro
Eine Tierpräparatorin, ein Kind aus Ex-Jugoslawien und eine große dicke Frau: Elisabeth R. Hager erzählt mit Witz und Tiefgang von Menschen, die in der starren Ordnung eines Tiroler Bergdorfes keinen Platz finden.
Marie ist seit jeher eine Außenseiterin, galt als Kind in dem kleinen Tiroler Bergdorf schon als seltsam und verschroben. Nun ist sie nach vielen Jahren in Wien zurückgekehrt und führt das Handwerk ihres verstorbenen Onkels fort: die Taxidermie, das Ausstopfen von Tieren. Aber die Jäger im Ort nehmen sie als Frau nicht ernst, und so muss sie hauptsächlich Wolpertinger, fabelhafte Mischwesen, für Touristen herstellen.
Gemeinschaft der Ausgestoßenen
Dann jedoch kommt endlich ein lukrativer Auftrag herein: Marie soll für die reiche Hotelerbin im Nachbarort deren kürzlich verstorbenen Chihuahua präparieren, hat allerdings dafür nur einen Tag Zeit. Als sie sich an die Arbeit macht, kommen Erinnerungen an ihren Freund Youni hoch, der als Kind aus Ex-Jugoslawien ins Dorf kam und vor sechs Monaten bei einer Explosion getötet wurde.
Seine Kiste voll Marihuana steht noch immer bei Marie. Und dann taucht auch noch eine alte Bekannte auf, genannt „die Butz“, groß, dick und ebenfalls eine Ausgestoßene, die offenbar einiges über Youni weiß. Bei einem gemeinsamen Ausflug zur Roten Wand, um einen Sockel für den Chihuahua zu finden, entladen sich schließlich die Emotionen.
Die lichten und die dunklen Seiten des Dorflebens
Es ist der dritte Roman von Elisabeth R. Hager, den die in Berlin lebende Autorin in ihrer Tiroler Heimat angesiedelt hat. Wie schon in den beiden vorangegangenen Büchern thematisiert sie auch diesmal die lichten und vor allem die dunklen Seiten des dörflichen Lebens. Wie die Butz werden auch Marie und Youni von der Dorfgesellschaft nicht akzeptiert. Obwohl Youni bereits 20 Jahre hier gelebt hat, sieht man ihn nach wie vor als Fremden, als Unruhestifter mit seltsamem Namen und verdächtiger Religion. Aber während Marie nach Wien flieht, bleibt Youni in Tirol und rutscht in die Drogenszene ab, nachdem seine Versuche, auf legale Weise Geld zu verdienen, gescheitert sind.
In einer geschmeidigen, zwischen Leichtigkeit und Tiefe changierenden Prosa erzählt Hager von zwei Frauen, die sich nicht anpassen wollen, von einem Toten, der präsenter ist als so mancher Lebende, und von einem Dorf, das sich in der Erstarrung eingerichtet hat. Der tanzende Berg des Titels erwacht am Schluss zum Leben, als Kontrapunkt zu einem explosiven Finale und als Metapher für die Fantasie, die letztlich über die etablierte Ordnung triumphieren kann.
Gewachsenes und Neues
Nur einen Tag umfasst die Handlung des Romans, aber Hager verpackt in diesen Tag eine ganze Welt: Es geht um Individualität und Einzigartigkeit, um das Ineinanderfließen von Natur und Kultur, um Leben, Tod und den (oft widersinnigen) Versuch, Vergangenes zu konservieren. Und nicht zuletzt erzählt Hager von Wurzeln und Wurzellosigkeit, von alten, seit Generationen gewachsenen Strukturen und dem Neuen, das dazwischen seinen Platz sucht.
„Wie passte ein Flugsamen wie Youni in dieses Geflecht?“, überlegt Marie an einer Stelle. „Und ein Findling wie sie selbst?“ Diese Fragen umkreist Elisabeth R. Hager in einem Roman, der Witz und Tiefgang aufs Beste zu verbinden weiß.