"Elisabeth Noelle-Neumann war schon immer umstritten"

Anja Kruke im Gespräch mit Joachim Scholl |
Dass Elisabeth Noelle-Neumann den Nazis nahe gestanden hat, wird schon länger vermutet. Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das diese Verstrickungen minutiös nachzeichnet. Neu sei die Dichte der Nachweise, sagt die Historikerin Anja Kruke.
Joachim Scholl: Vor drei Jahren ist sie im Alter von 93 Jahren gestorben und die Nachrufe haben sie als große, bedeutende Frau für die demokratische Geschichte der Bundesrepublik gewürdigt: Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann. Jetzt zeigt ein Buch des Politologen Jörg Becker die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demoskopie als - ja doch entschiedene Nationalsozialistin und Antisemitin, deren Denken und Wirken sich auch nach 1945 entsprechend entwickelt habe. In einem Studio in Bonn begrüße ich jetzt Anja Kruke. Die Historikerin leitet bei der Friedrich-Ebert-Stiftung das Archiv der sozialen Demokratie. Guten Tag, Frau Kruke!

Anja Kruke: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Es gab im langen Leben und öffentlichen Wirken der Elisabeth Noelle-Neumann immer wieder Stimmen, die auf ihre Rolle im Nationalsozialismus hingewiesen haben, auf Artikel, die sie als junge Frau publiziert hat, auf ihre Doktorarbeit, die in dieser Zeit entstanden ist – ist diese Verstrickung doch drastischer als bislang bekannt?

Kruke: Elisabeth Noelle-Neumanns Vergangenheit im Nationalsozialismus war vielen bekannt. Es machte sich bislang an einzelnen Artikeln, die sie für die NS-Zeitschrift "Das Reich" geschrieben hatte, fest. Allerdings lässt sich nun durch die minuziösen Nachweise durch Jörg Becker zeigen, wie eng sie tatsächlich in das nationalsozialistische Regime verstrickt war.

Scholl: Sie haben sich als Historikerin selbst intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, Frau Kruke. Was ist denn für Sie neu an den Erkenntnissen, die Ihr Wissenschaftskollege Becker recherchiert hat?

Kruke: Es ist die Dichte des Nachweises. Also dass sie sehr genau gewusst haben musste, wie die Berichte zur Lage des Sicherheitsdienstes waren, war schon lang vermutet worden. Doch er zeigt jetzt in einer Dichte, wie eng das aufeinander abgestimmt war, dass es sehr plausibel wird.

Scholl: Ein kritischer Punkt ist natürlich auch die Kontinuität nach 1945. Würden Sie denn, Frau Kruke, auch den Schlussfolgerungen zustimmen, dass sich von diesem rechtslastigen Denken die Entwicklung der Meinungsforschung, wie sie dann Elisabeth Noelle-Neumann an ihrem Allensbacher Institut geprägt hat, dass sich da dieses ableiten lässt?

Kruke: Das lässt sich wahrscheinlich auf eine sehr mittelbare Art ableiten. Er versucht es relativ direkt, indem er die Kontinuitäten der Art und Weise, damit umzugehen, versucht nachzuweisen. Aber ich denke, dass ihre wissenschaftliche und politische Sozialisation im Nationalsozialismus einfach auch in Denkstrukturen Spuren hinterlassen haben. Und das kann man ziemlich deutlich in ihrer Art, wie sie Umfrageforschung betreibt und wie sie Politikberatung betrieben hat zwischen den 50er und den 80er Jahren, deutlich sehen. Es ist ein ganz bestimmtes Menschenbild und eine ganz bestimmte Art, wie in einer Demokratie Politik und Gesellschaft zusammenhängen sollten.

Scholl: Wie sieht dieses Menschenbild aus?

Kruke: Sie hat ein Menschenbild, das darauf zielt, dass Menschen geführt werden müssen. Sie entwickelt mit ihrem Ehemann Erich Peter Neumann in den 50er-Jahren eine komplette politische Propaganda für die Adenauer-Regierung, indem sie ihnen erklärt, dass Demokratie dann funktioniert, wenn die Bürger reif sind für eine Demokratie, und dahin müssen sie geführt werden. Und das bedeutet, dass sie sehr viel lernen und können müssen, bevor sie überhaupt in der Lage seien, über irgendetwas tatsächlich zu befinden.

Scholl: Sie haben den Ehemann Erich Peter Neumann angesprochen, Frau Kruke. Der Journalist und spätere CDU-Politiker hatte im Nationalsozialismus auch für die Zeitung "Das Reich" gearbeitet, ist ähnlich belastet wie Elisabeth Noelle-Neumann, wenn man den Ausdruck so benutzen kann. Sie selbst wurde ja zu Lebzeiten, ja, man kann sagen, eine Art Politikone durch ihre Arbeit. Man kam an ihrem Institut nicht vorbei. Wie hat sich dieser große Einfluss eigentlich entwickelt?

Kruke: Zunächst einmal muss man sagen, dass sie und ihr Mann ein sehr gutes Netzwerk hatten, das sich in den 30er-, 40er-Jahren entwickelt hat, das aus Wissenschaftlern, Journalisten und auch Politikern dann bestand. Und dieses Netzwerk konnten sie sich – und das zeigt Jörg Becker in seinem Buch sehr eindrücklich – gut zunutze machen. Sie konnten sich gut Aufträge sichern, zum Beispiel des NWDR, dem sie die Hälfte ihres Einkommens in den 50er-Jahren zu verdanken haben, und darüber konnten sie eben viele Aufträge bekommen, und eine gewisse Deutungsmacht entwickeln. Und zusätzlich kommt hinzu, dass die Kombination von Elisabeth Noelle-Neumann als Forscherin und Erich Peter Neumann als Politiker und Politikberater eine sehr gute Symbiose bot, um im Politikbetrieb Fuß zu fassen. Und die Anerkennung, die ihr zuteil wurde, lag eben in dieser Symbiose begründet und – so blöd das vielleicht zu sagen ist – aber sie war eben eine junge Frau, die in diesem Politbetrieb aktiv war, und das hat ihr dann zwei Titelstorys des "Spiegel" eingebracht in den 50er-Jahren.

Scholl: Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann in einem neuen, kritischen Licht – wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Historikerin Anja Kruke von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Forscherin Elisabeth Noelle-Neumann haben Sie angesprochen, Frau Kruke – sie wurde berühmt für ihre Theorie der sogenannte Schweigespirale. Dieser Begriff bekommt jetzt gemünzt auf ihren Fall nun eine ganz besondere Note. Können Sie, Frau Kruke, diese Theorie mal kurz kennzeichnen?

Kruke: Diese Theorie bezieht sich auf die Vorstellung, dass Menschen, wenn sie direkt befragt werden, nicht unbedingt ihre wahre Meinung äußern, sondern dass sie die aus unterschiedlichsten Gründen zurückhalten, sondern erst einmal abwarten, wie die soziale Kontrolle mit der vorhandenen Meinung umgeht. Und darauf basierend hat sie die Theorie entwickelt, dass bestimmte Meinungen, die in der Mehrheit sind, aber von einer lauten Minderheit als negativ gekennzeichnet werden, dass diese Menschen dann Angst haben, nicht mehr zur Mehrheit zu gehören und deswegen schweigen, und sich auf diese Art und Weise eine Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung entwickelt, obwohl diese tatsächlich gar nicht in der Form gegeben ist.

Scholl: Das hört sich ja nach einem durchaus interessanten kommunikationstheoretischen Modell an. Inwieweit hat denn diese Theorie die Meinungsforschung in der Bundesrepublik allgemein beeinflusst?

Kruke: Diese Theorie ist sehr umstritten gewesen und hat deswegen einen sehr großen Einfluss ausgeübt, weil alle sich darauf bezogen haben, egal ob in positiver oder in negativer Abgrenzung, und das macht sozusagen die Wirkungsmächtigkeit dieses Theorems, wie ich es lieber nennen würde, aus.

Scholl: Inwieweit würden Sie denn sagen, wirken diese neuesten Erkenntnisse über Elisabeth Noelle-Neumann nun zurück auf ihre Theorie? Müsste man sich diese jetzt noch einmal unter dieser Perspektive genauer anschauen?

Kruke: Es wäre sicherlich eine spannende Angelegenheit, einmal die verschiedenen Interpretationsansätze, die Elisabeth Noelle-Neumann während ihrer Arbeit verfolgt hat, einmal daraufhin zu untersuchen, welches Menschenbild tatsächlich darin steckt und wie sie versucht hat, dieses Menschenbild im Zusammenhang mit einer Demokratie sozusagen zusammenzubringen und ob sich dort Spuren einer NS-Ideologie finden lassen.

Scholl: Um nochmal auf die Arbeit von Jörg Becker zurückzukommen: Ist damit jetzt dieses Bild, vielleicht sogar ja der Mythos einer wackeren Frau, die viel für den Aufbau der Demokratie in Deutschland getan hat, entzaubert?

Kruke: Ich glaube, dass weder das eine noch das andere der Fall ist. Elisabeth Noelle-Neumann war schon immer umstritten, sodass es relativ schwierig ist, sie von einem Sockel zu stürzen. Es gab sicherlich viele Menschen, die sie sehr bewundert haben für das, was sie geleistet hat. Und man muss, glaube ich, anerkennen, dass sie sehr viel für die Demokratie getan hat, weil sie zum Beispiel auch die Diskussionskultur ungemein befördert hat, durch ihre Person und ihre Forschung.

Scholl: Die Geschichte der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann wird neu kritisch betrachtet – das war Anja Kruke von der Friedrich-Ebert-Stiftung, sie war bei uns zu Gast. Ich danke Ihnen!

Kruke: Gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.