Eliten

Die Krise der Führung

Mitgliedern des neuen Bundeskabinetts
Mitglieder des neuen Bundeskabinetts © picture alliance / dpa
Von Christian Schüle |
Das Bundeskabinett steht und es wird nicht lange dauern bis den Regierenden die Führungsfähigkeiten abgesprochen werden. Ein Automatismus, denn die Führung als solche steckt in der Krise.
Ach, von wem werden wir denn da geführt! Kein Charisma, keine Autorität, keine Visionen! Die politischen Spitzen: blass, schwach, medioker! Ist da Licht? Ist da Glanz? Ist da Aura? Und wer leitet unsere Konzerne! Korrupte, gierige, verlogene Zyniker, Täuscher, Blender, Manipulatoren! Ach, wo nur sind die großen Politiker-, Unternehmer- und Verlegerpersönlichkeiten, die moralischen Lichtgestalten und Ikonen, die man für ihre Haltung achtet und nicht für ihr Wesen verachtet?
Führung als solche ist in der Krise, weil nicht mehr klar ist, was Führung heute bedeutet und künftig bedeuten soll. Die Krise der Führung ist das sozio-kulturelle Problem einer Republik ohne Vorbilder – schließlich sind die Führungspersonen eines Landes das Spiegelbild der Gesellschaft, aus der sie kommen.
Einerseits herrschen hegemoniale Ressentiments gegenüber Führungspersonal und Eliten, andererseits gibt es – zwischen Obama-Manie und Franziskus-Faszination – eine fast religiöse Sehnsucht nach Führung, Erlösung und Heil. Abgesehen davon, dass Führer, Führung und Eliten hierzulande aus bekannten Gründen schwerstbelastete, geradezu kontaminierte Begriffe sind, ist die Dauerkritik an Spitzenpersonal oftmals genauso überzogen, wie es die Erwartungen und Ansprüche an dasselbe sind.
Wir wollen Leitwölfe, sehen sie aber skeptisch
Von ihren Führungskräften verlangt die Gesellschaft gern allzu Widersprüchliches: Sie sollen Spezialisten und zugleich Universalisten sein. Sie sollen das Beste wollen und sich dabei moralisch so integer verhalten, wie Wähler und Konsumenten – die sich gegen die Umwelt versündigen, Steuern hinterziehen, Versicherungen betrügen, Vergünstigungen annehmen und mit Aktien zocken – es mitnichten tun.
Wir Individualisten-Bürger wollen Leitwölfe, sind Leitwölfen gegenüber aber grundsätzlich skeptisch. Wir wollen Menschen, die Verantwortung übernehmen, betrachten aber jene, die Verantwortung übernommen haben, mit besonderem Argwohn. Mehr noch: Unsere Führungskräfte haben kein Charisma, weil wir als Gesellschaft Charisma nicht zulassen. In Deutschland rücken nicht Eigensinn, Quergeistigkeit, Mut und Engagement in den Vordergrund medial-gesellschaftlicher Betrachtung – vielmehr werden Ehrgeiz und Aufstieg als Anmaßung eines Individuums verdammt.
Gute, wahrhafte Führung scheint aus strukturellen Gründen kaum mehr möglich. Warum nicht? Weil unser Reiz-Reaktionsschema höchst nervös und kurzgeschaltet ist. Weil jede Führungskraft unter dem Diktat des Kurzfristdenkens und dem Zwang zum unmittelbaren Erfolg steht. Weil sich die westlichen Gesellschaften durch digitale Verdichtung und eine angelsächsisch-protestantische Erwerbsethik zu Effizienz, Abschöpfungsgier und Siegerkult in einem Spiel des Lebens haben erziehen lassen, in dem jeder glauben können soll, ohne größere Anstrengung Star oder wahlweise Millionär zu werden.
Auratische Persönlichkeiten aber wachsen erst in und mit der Zeit; eine überzeugende Führungskraft braucht Zeit, Verlässlichkeit zu säen und Vertrauen zu reproduzieren; Integrität benötigt Nachhaltigkeit, um sich bewähren zu können. Die Krise der Führung ist im eigentlichen eine Krise der gesamtgesellschaftlichen Ethik: der Sittlichkeit und des Anstands.
Die Rendite guter Führung: die Loyalität der Geführten
Doch siehe da: Morgenröte am Horizont! Die Generation Y der heute 20- bis 30-Jährigen, aufgewachsen in totalem Frieden und kaum fassbarer Pluralität, sie setzen – nach allem, was bis heute zu erkennen ist – verstärkt auf traditionelle Wertvorstellungen. Das lässt Hoffnungen auf eine Ethik der Wertschöpfung zu, auf deren Humus eine an Unbestechlichkeit und Verantwortungsfähigkeit orientierte Haltung zu Leben und Welt kultiviert werden könnte.
Am Oberhaupt der bigotten, intriganten, herrsch- und prunksüchtigen katholischen Amtskirche ist seit Kurzem auf verblüffende Weise zu studieren, wie man mit gelebter Mitmenschlichkeit geistig-moralische Führung beanspruchen kann. Führungsfähigkeit von morgen beginnt genau hier: beim Anderen, beim Du und seiner Würde. Die wertvollste Rendite guter Führung besteht ohnehin in der Loyalität der Geführten. Dafür ist kein Millionengehalt vonnöten, sondern erst einmal die Vorzüglichkeit des Herzens.
Christian Schüle, 43, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "ZEIT" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper) und gerade eben den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag).
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