Elizabeth Strout: "Alles ist möglich"
Roman. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Luchterhand Verlag, München 2018
252 Seiten, 20.- EUR
Kaleidoskop menschlicher Schicksale
Die Figuren in "Alles ist möglich" hadern alle mit ihrem Schicksal. Elizabeth Strout erzählt unsentimental vom Leben in einer Provinzstadt, ohne in Stereotype oder sentimentale Bemitleidung zu verfallen.
Eine der Figuren, die sich in "Alles ist möglich" zum Ensemble versammeln, ist den Lesern von Elizabeth Strout bereits bekannt: Lucy Barton. Sie ist die Protagonistin des 2016 erschienenen Romans "Die Unvollkommenheit der Liebe". Nun hat sie den Sprung aus der kulturell und wirtschaftlich abgehängten Kleinstadt Amgash geschafft und in New York eine Karriere als prominente Schriftstellerin gemacht.
In Strouts neuem Roman stattet Lucy der alten Heimat im mittleren Westen einen Besuch ab. Mit ihren Geschwistern sitzt sie auf der ramponierten Couch des ehemaligen Elternhauses und erleidet eine Panikattacke. Sie will nichts hören von den ärmlichen und verrohten Familienverhältnissen, in denen sie aufwuchs.
Die Starautorin, die eben noch bei einer Lesung postulierte, Bücher müssten die Wahrheit enthalten, ergreift vor ihrer eigenen Herkunft die Flucht. Der Roman aber wendet sich gegen diesen Selbstbetrug. Unaufgeregt nimmt er eben jene Normalität des Provinzlebens in den Blick, der Lucy den Rücken kehrt.
Erzähltes Soziogramm einer Kleinstadt
Lucy ist nur eine von vielen Figuren. Nach dem Short Cuts genannten Prinzip, das sich im Film wie in der Literatur als moderne Variante des erzählten Soziogramms bewährt hat, überlässt Elizabeth Strout in jedem der lose verknüpften Kapitel einem anderen Kleinstadtbewohner die Romanbühne.
In Not sind sie alle: die übergewichtige Lehrerin Patti, die sich von ihren Schülern demütigen lassen muss und heimlich den Buchhändler Charlie liebt, der sich von seiner hysterischen Ehefrau Shirley zwar trennen will, aber nicht für Patti, sondern für eine Prostituierte, die ihn um seine Ersparnisse erleichtert.
Pattis Schwester Linda, die einen Unternehmer geheiratet hat, als Preis für den neuen Wohlstand allerdings Sexpartys im eigenen Haus erdulden muss. Der achtzigjährige Tommy, der bei einem Brand seine Farm verloren und sein Leben als Hausmeister der örtlichen Schule gefristet hat.
Angelina, Pattis beste Freundin, die nicht akzeptieren will, dass ihre Mutter ein spätes Glück mit einem jüngeren Geliebten findet. Die Männer leiden an Traumata, die sie aus dem Zweiten Weltkrieg oder aus Vietnam mitgebracht haben, die Frauen an unerfüllten Jugendhoffnungen und nicht selten am Zerwürfnis mit dem eigenen Körper.
Amgash, die in der Prärielandschaft von Illinois und im Schatten der US-Metropolen gelegene Provinzstadt, ist der Schauplatz eines kleinen Welttheaters menschlicher Schicksale.
Strout ist eine sachlicher Erzählerin
Beeindruckend an Strouts von Sabine Roth vortrefflich ins Deutsche übertragenem Roman ist nicht nur seine Form, die es dem Leser erlaubt, im Erzähllabyrinth jederzeit den Überblick zu behalten. Beeindruckend ist auch Strouts Haltung gegenüber den Figuren. Keine wird dem Stereotyp vom Provinzmenschen preisgegeben, aber auch keine sentimentaler Bemitleidung.
Elizabeth Strout ist eine sachliche, dabei nie unterkühlte Erzählerin. Die Menschen, von denen sie erzählt, werden ihrer Illusionen beraubt, aber nie der Kraft, beieinander Trost zu finden. Vor allem dies wirkt im Leser lange nach.