Elizabeth Strout: "Oh, William!"
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Luchterhand Verlag, München 2021
224 Seiten, 20 Euro
Elizabeth Strout: "Oh, William!"
Elizabeth Strout kennt die Nervenbahnen, in denen Erinnerungen, Wut und Angst rasen. Und sie weiß, wie man davon erzählt. © Deutschlandradio / Luchterhand
Alte Liebe trifft ins Mark
05:55 Minuten
Zwei Ex-Eheleute verlieben sich neu. Auf einem Roadtrip durch Maine setzen sich Lucy und William mit Lügen und Traumata auseinander. Elizabeth Strout kann quasi beiläufig und doch überaus eindringlich von tiefen Verletzungen erzählen.
Die preisgekrönte amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout, deren Bücher fast immer auf der New York Times-Bestsellerliste landen, erzählt scheinbar mühelos und immer weitherzig von Menschen in ihrer Not und ihrem Glück, von ihren Krankheiten und auch Abartigkeiten, von ihrer oft tiefen Verlassenheit. Mit jedem neuen Roman taucht man erneut ein in den Kosmos ihrer Figuren. Denn immer mal wieder wird eine Nebenfigur aus einem früheren Werk in einem späteren zur Hauptperson.
Couragierte Suche nach der eigenen Wahrheit
So auch hier. William kennen wir schon als Ehemann von Lucy Barton. Aber da ging es um sie, nicht um ihn. Er war halt ihr Mann. Inzwischen ist er seit vielen Jahren ihr Ex-Mann. Und als seine inzwischen dritte Ehefrau ihn verlässt, und zugleich Lucys zweiter Mann gestorben ist, entdecken die beiden erneut ihre alte Vertrautheit. Sie begeben sich gemeinsam auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Mutter. Denn diese scheinbar herzenswarme, zugleich immens übergriffige Person war nicht nur die, die William geliebt hat.
Während sie gemeinsam – wie in einem Roadmovie – durch Maine fahren und das große Geheimnis der Mutter aufspüren, reden William und Lucy auch über sich. Aber wir verfolgen hier keineswegs die kitschige Aufgussliebe eines alten Paares – sondern lesen von einer Nähe mit Distanz, einer verlässlichen Freundschaft im Bewusstsein der gescheiterten Liebe, von zwei Menschen in ihrer couragierten Suche nach der eigenen Wahrheit.
Schreckenskindheit und Lebenslügen
Lucy muss sich immer wieder neu versöhnen mit ihrer Schreckenskindheit, ihrer daraus resultierenden Heimatlosigkeit und gefühlten Unsichtbarkeit. William wird seit einer Weile von Albträumen geplagt. Auch von Nazis und Gaskammern träumt er. Sein Vater war ein deutscher Soldat. Sein Großvater ein deutscher Kriegsgewinnler, von dem William viel Geld geerbt und es behalten hat. Und nun muss er auch noch die Lebenslüge seiner Mutter verkraften.
Strout verhandelt mit großer Klugheit existenzielle Lebensfragen – und tut das in ihrer berühmt beiläufigen Art. "Ich muss noch etwas über meinen ersten Mann sagen, William": Mit diesem Satz beginnt der neue Roman. Als hätten wir mit der Erzählerin schon lange klönend in ihrer Küche gesessen -und jetzt fiele ihr auf einmal William ein.
Kunstfertiger Plauderton mit Tiefgang
Die Autorin hat die große Kunst ihres plaudernden Stils so perfektioniert, dass man fast verführt werden könnte, durch das Buch hindurchzufegen – und damit an seelentiefen Nischen vorbeizulaufen, raffinierte Abzweigungen zu übersehen, und vor allem die immer mitschwingende große Verlassenheitstraurigkeit nicht zu spüren. "Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll", heißt es an einer Stelle, "ich sag einfach, wie es ist". Und genau das tut sie. Geht mit bodenständiger Direktheit mitten hinein in Angst und Trauer, in die Freude und ins Fürchten. Manches Mal springt einen der Schauder in nur halben Sätzen an.
Elizabeth Strout kennt sich aus in Familienstrukturen. Weiß um die Nervenbahnen, in denen Erinnerungen, Wut und Angst rasen. Und sie hat den Mut und das Können, es genau so zu erzählen, wie es ist.