Wer hat was wo falsch gesagt?
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Nach Äußerungen über die neue Sprecherin der Grünen Jugend bekommt Elke Heidenreich in sozialen Medien Wut und Ablehnung zu spüren. Die Aufregung diene zumeist der moralischen Selbstdarstellung, sagt der Philosoph Philipp Hübl. Probleme löse sie nicht.
Vladimir Balzer: Eigentlich sollte es um die umstrittenen jugendlichen Tweets der neuen Sprecherin der Grünen Jugend gehen, doch dann ging es doch um etwas anderes, es ging um Hautfarbe, um Zugehörigkeit, um Herkunft.
Elke Heidenreich, prägende Kritikerin der 1990er- und 2000er-Jahre, Erfolgsautorin, ein Name im kulturellen Leben der Republik seit Jahrzehnten, trat bei Markus Lanz auf und sprach über die Hautfarbe der jungen Grünen-Politikerin.
O-Ton Elke Heidenreich: Wenn einer aussieht wie sie, dann frage ich natürlich, wo kommst Du her oder wo kommen Sie her – und zwar nicht, um sie zu diskriminieren, alle sind immer sofort diskriminiert und beleidigt, sondern weil ich sofort sehe, die kommt nicht aus Wanne-Eickel oder Wuppertal, sondern die hat Eltern, die von woanders kommen. Und ich finde, das ist keine diskriminierende Frage, wenn ich einen netten, dunkelhäutigen Taxifahrer habe, der perfekt Deutsch spricht und ich sage, wo kommen Sie eigentlich her, und der sagt, meine Eltern sind aus Marokko. Ich finde da kein Problem, dass man fragt, man sieht es ja.
Balzer: Was danach folgte, war vor allem in den sozialen Medien, vor allem bei Twitter, heftigste Kritik an dieser Aussage, sie solle doch bitte schweigen, sie sei zu alt, um das moderne Deutschland zu verstehen, sie würde rassistische Klischees reproduzieren auf dem Rücken von Sarah Lee-Heinrich, der jungen Grünen-Politikerin.
Balzer: Philipp Hübl ist Philosoph, Autor eines Buches mit dem Titel "Die aufgeregte Gesellschaft – wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken". Wir haben da einen ziemlich heftigen Vorwurf gegenüber einer eigentlich sehr anerkannten Autorin und Kritikerin, Elke Heidenreich, nämlich der Vorwurf des Rassismus, der da plötzlich im Raum steht. Können Sie diesen Vorwurf nachvollziehen?
Moralische Selbstdarstellung
Hübl: Ich glaube nicht, dass das, was sie gesagt hat, rassistisch ist. Was aber passiert ist, dass wir in beiden großen politischen Lagern, auf der linken und auf der rechten Seite, eine neue Sprachsensibilisierung haben, dass Leute nur noch nach kleinen Normverletzungen und Ausdrücken suchen, das ist eigentlich Symbolpolitik, weil es hauptsächlich um Sprache geht, wer hat was wo falsch gesagt oder hat das falsche Wort verwendet.
Und das wird dann natürlich verwendet, um sich besonders zu empören. Das ist meistens Empörung, hauptsächlich moralische Selbstdarstellung, man kann zeigen, wie moralisch man selber ist, wie man sich empört über Kleinigkeiten wie das, was Elke Heidenreich sagt.
Man kann sagen, ein paar Sachen, die sie sagt, sind Quatsch oder Unfug, ich sehe es anders, aber es wäre jetzt nichts, wo man normalerweise im Alltag sagen würde, da muss man mit den schwersten Vorwürfen kommen, des Rassismus zum Beispiel.
Balzer: Aber andererseits ist es nicht nur eine Frage des Vokabulars, das Elke Heidenreich verwendet hat, sondern tatsächlich eine grundsätzliche Herangehensweise an die Frage von Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Deutschland.
Sie bezieht sich auf die Hautfarbe einer Deutschen, Sarah Lee-Heinrich nämlich, und versucht das dann ein bisschen weiter zu diskutieren, indem sie das als berechtigt empfindet zu fragen, wo derjenige oder diejenige herkommt. Da geht es schon um Grundsätzliches, nicht nur um das Vokabular.
Verschiedene Kontexte, verschiedene Bedeutungen
Hübl: Klar, da geht es um Grundsätzliches, aber ich glaube, es ist im Gespräch auch sehr klar geworden - dadurch, dass Jürgen Trittin noch mal die verschiedenen Nuancen deutlich gemacht hat, - dass es verschiedene Kontexte gibt, in denen die Frage, woher kommst du, eine verschiedene Bedeutung hat.
Die Frage für sich genommen ist weder schlecht noch gut, es hängt vom Kontext ab. Das ist immer so bei Äußerungen innerhalb natürlicher Sprache, man kann den Worten selber nichts ablesen, sondern muss schauen, wie ist der Kontext, mit welcher Absicht, welchem Vorwurf, in welcher Situation ist etwas geäußert worden.
Ich habe Elke Heidenreich so verstanden, dass sie sagt, in einem Kontext, in dem man sich versteht und danach fragt, kann das einfach die Eröffnung für ein nettes Gespräch sein, aber natürlich gibt es auch Situationen, wo jemand die einzige Frage an jemand anderen stellt, woher kommst du – im Sinne von: Du gehörst doch nicht hierher.
Dann ist es natürlich abwertend oder ausschließend. Und wenn jemand das dann jeden Tag einmal hört, ist das wahnsinnig nervig, das ist auch verständlich. Aber es gibt natürlich auch wieder viele Kontexte, die sie beschrieben hat, die eher welche sind, wo man damit ein Gespräch anfängt. Es muss kein schlechtes Gespräch sein, das dann daraus erwächst.
Balzer: Kann man das generalisieren, die Frage nach Herkunft, wann ist die okay?
Viele haben eine liberale Grundhaltung
Hübl: Die Frage nach Herkunft ist okay, wenn sie aus einem offenen Interesse kommt, aus einer liberalen Grundhaltung. Das haben die meisten Deutschen. Dann kann man das aus dem Kontext auch erschließen. Wenn es natürlich so ist, wo kommst du denn eigentlich her, im Sinne von "du kommst doch nicht von hier und gehörst hier nicht dazu", dann ist das natürlich etwas anderes, weil der Tonfall mit reingehört.
Das sind natürlich dann zusätzliche Informationen, aber an der Phrase alleine kann man das noch nicht erkennen. Das wird oft verabsolutiert, dass es jetzt mittlerweile so ist: Es gibt eine neue Sensibilisierung. Das führt dazu, dass wir für Normverletzungen, die wir früher nicht bemerkt haben, plötzlich ein Vokabular haben und das auch sehen.
Das führt aber auch manchmal dazu, dass wir dann verabsolutieren und glauben, wir können jetzt an jeder Phrase sofort erkennen, da hat jemand etwas falsch gemacht. Das ist natürlich auch nicht der Fall.
Natürliche Sprache lebt vom Kontext und von der Interpretation. Und viele Menschen stört das auch nicht, wenn man sie fragt, woher kommst du. Die Annahme ist: In bestimmten – wie gesagt eher links-progressiven Diskursen - gilt das als negativ.
Es gibt in Deutschland keine vergleichbare Umfrage, aber es gibt in Amerika einige Untersuchungen. Wenn man da die Linken fragt, was darf man nicht sagen, kriege ich eine lange Liste. Wenn man die normale Bevölkerung fragt, findest du das eigentlich schlimm - zum Beispiel African-Americans oder Latins fragt, findest du es schlimm, wenn man dir sagt, nachdem du vor fünf Jahren eingewandert bist, du sprichst aber schon gut Englisch - finden es 60, 70, teilweise 80 Prozent gar nicht schlimm. Da gibt es dann oft so eine Art statistisches Fehlwissen, dass Leute glauben, weil die 20 Leute in ihrem Umfeld das furchtbar finden, finden es alle anderen Menschen auch schlimm.
Balzer: Ja, aber vielleicht sind das auch unterschiedliche Herangehensweisen an die Frage nach einer Einwanderungsgesellschaft, nach der Vielfalt in einer Gesellschaft, nach der kulturellen und ethnischen Vielfalt.
Sarah Lee-Heinrich ist eine Deutsche wie jeder andere auch, nur eben vielleicht mit einer Hautfarbe, die zu einer Minderheit gehört, wo eben nicht das Weißsein die Standardform des Deutschseins ist.
"Lautstarke Hetzer vergiften den Diskurs"
Hübl: Natürlich gibt es am rechten Rand genug Leute, die das nicht so haben wollen, die rassistisch sind, fremdenfeindlich sind, aber wenn man sich die ganzen Statistiken anguckt: Deutschland ist eine extrem offene, weltoffene, liberale Gesellschaft. Weltweite Werteuntersuchungen zeigen, dass Deutschland in der absoluten Spitzengruppe ist, was Weltoffenheit betrifft und Diversität.
Da ist noch viel Luft nach oben, das ist keine Frage, dass Leute noch viel liberaler sein könnten. Aber es stimmt auch nicht, dass die Gesellschaft nicht liberal ist, sondern es sind meistens lautstarke – vor allem auch in den sozialen Medien – rechte, lautstarke Hetzer, die den Diskurs vergiften, aber das ist kein Abbild der Gesamtgesellschaft.
Balzer: Stehen wir dennoch vor einem Generationenkonflikt, kann man das so formulieren? Elke Heidenreich ist mit knapp 80 aus einer Generation, wo man noch anders über diese Dinge geredet hat, Sarah Lee-Heinrich mit 20 einer ganz anderen Generation angehörig, die schon mit viel größerer Vielfalt, größerer Diversität groß wird, in einem anderen Deutschland groß wird.
Je jünger, desto weltoffener
Hübl: Ja, das kann man absolut sagen. Je jünger die Generation, desto weltoffener, das zeigen auch diese Werteuntersuchungen. Für jetzt 20-Jährige ist das vollkommen normal, dass der gesamte Freundeskreis einen Migrationshintergrund hat. Jeder zweite Deutsche unter 20 hat einen Migrationshintergrund. In Gesamtdeutschland über alle Altersgruppen hinweg ist es etwa ein Viertel.
Ich glaube, wenn man in Großstädten lebt, ist es relativ normal geworden. Aber ich muss sagen, Elke Heidenreich - ich wusste nicht, wie alt sie ist - ist für ihre Generation extrem progressiv. Und nur weil sie gesagt hat, sie mag nicht so gerne selber gendern, aber sie sagt, sie findet es in Ordnung, dass man gendert, sie findet es in Ordnung, dass es Vielfalt gibt, dass Sarah Lee-Heinrich bei der Grünen Jugend ist.
Sie hat eigentlich relativ progressiv geantwortet. Natürlich kann man sich daran aufhängen und sagen, da hätte sie mal ein bisschen anders formulieren können, aber das ist dann, glaube ich, auch etwas übertrieben und sozusagen das falsche Ziel. Es gibt schlimmere Leute am rechten Rand, die man sich vorknöpfen sollte – und nicht im eigenen progressiven Lager Leute, die vielleicht ein bisschen andere Formulierungen verwenden.
Balzer: Aber die Diskussion, die sich danach entzündet hat, ist heftig verlaufen. Ich habe einmal einen Tweet von Jan Böhmermann herausgegriffen, der natürlich auch gern mal ein bisschen provoziert, das gehört zu seinem Geschäftsmodell, der schreibt: Nur gerecht, dass ein Tag, der – er hat diesen Tweet gestern geschrieben – mit einem rassistischen Elke-Heidenreich-Meltdown beginnt, mit einem Fackelmarsch vor dem Reichstag endet. Da bezieht er sich auf die Kritik an dem Trauerritual für die Gefallenen Afghanistan-Bundeswehrsoldaten, wo die Bundeswehr auch mit Fackeln vor dem Reichstag der gefallenen Kameraden gedacht hat.
Da ist schon ein Ton angeschlagen, wo er nicht der Einzige ist, der ziemlich heftig ist. Ihr Buch heißt ja "Die aufgeregte Gesellschaft – wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken". Ist einfach Twitter dieser ganz eigene Raum, ein medial abgeschotteter Raum, der für sich funktioniert, oder ist das auch ein Zeichen der allgemeinen Polarisierung?
"Übertreibung bekommt viele Likes"
Hübl: Die Aufgeregtheit, der Empörungsdiskurs ist typisch für die sozialen Medien. Man verwendet Empörung zur moralischen Selbstdarstellung, die Aussagen sind extrem übertrieben, weil Übertreibung besonders viele Likes und Klicks bekommt und besonders laute Stimmen sehr viel Aufmerksamkeit bekommen.
Wenn man das moralisch diskutiert, ist das total übertrieben, das ist von allen Seiten übertrieben. Es ist übertrieben zu sagen, dass diese Fackeldemonstration, die natürlich nicht schön aussieht, dass das irgendwas mit einem Rechtsruck oder mit Faschismus zu tun hat, das ist alles Übertreibung. Und das ist eigentlich Symbolpolitik.
Denn wenn man einen Schritt zurückgeht, muss man sich klarmachen, wir reden die ganze Zeit nur darüber, wer hat welche Wörter wo und wann falsch verwendet oder welche Bilder sind, wenn wir uns die noch mal aus einem anderen Blickwinkel anschauen, irgendwie auch falsch interpretierbar.
Wer wird am Arbeitsmarkt diskriminiert, wer wird am Wohnungsmarkt diskriminiert, wie können wir das ändern, wo sind wirklich die Leute, die rechtsradikal sind und Straftaten begehen – das sind die wirklich materiellen, schwierigen Fragen und die echten Probleme, worunter Leute leiden.
Und es gibt in diesem sprachlichen Medium Twitter eine Tendenz, die Sprache unglaublich überzubewerten, eine Tendenz, die man eher im linken Lager bisher gesehen hat, die jetzt aber die Rechten auch kopieren, sodass die anfangen, Twitter-Archäologie zu machen und zu schauen, was hat jemand vor 15 Jahren irgendwo mal getweetet, was ich vielleicht absichtlich falsch verstehen kann, um jemanden zu diskreditieren.
Balzer: Sie sagen, das sind eher so Stellvertreterdebatten, die da geführt werden, die aber dennoch offenbar die Gesellschaft erhitzen, auch außerhalb des Twitter-Raums. Ich meine, allein schon dadurch, dass wir beide hier miteinander reden, das schwappt ja durchaus auch in andere Medienbereiche.
Gibt es überhaupt noch einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, der jenseits dieser, was Sie Symbolpolitik nennen, jenseits dieser Bilder, dieser, ich sage mal, Oberflächlichkeiten, dieser kulturellen Codes überhaupt noch möglich ist oder ist das eine Illusion, der wir aufsitzen?
Symbolische Diskussionen
Hübl: Nein, das gibt es natürlich noch. Es gibt ja ganz viele Fragen, in den Gemeinden, in den Unternehmen, auf der Landesebene, auf der Bundesebene, wo man über politische Fragen diskutiert, die wirklich das Leben der Menschen beeinflussen.
Was soll man zum Beispiel ändern an der Steuer, wie soll man Unternehmen so umstrukturieren, dass sie diskriminierungsärmer sind, das sind wirklich Fragen, die eine Auswirkung haben zum Beispiel auf die Einstellungspraxis am Ende.
Die gibt es tatsächlich, man darf sich aber nicht zu sehr davon ablenken lassen, dass es daneben auch diese sehr starken symbolischen Diskussionen gibt. Wer hat was falsch gesagt und kann ich jemanden so falsch lesen, dass ich mich damit besonders gut darstellen kann.
Ich will nicht sagen, dass das alle immer machen, natürlich gibt es auch echte Kritik. Und die Worte von Elke Heidenreich waren auch teilweise wirklich falsch gewählt, ich stimme auch nicht überein mit den Sachen, die sie gesagt hat.
Aber diese Tendenz, Leute maximal negativ zu interpretieren, ist eine Tendenz, die im moralischen Diskurs nicht hilft, weil sie eher der Selbstdarstellung dient und nicht, um ein Problem besser zu verstehen oder vielleicht die Lebensbedingungen der Menschen tatsächlich zu ändern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.