Ellen Hinsey: "Des Menschen Element. Gedichte"

Wenn eine Lyrikerin Lügen der Geschichte aufdeckt

Cover von Ellen Hinsey "Des Menschen Element", im Hintergrund ist ein serbischer Kämpfer aus dem Bosnienkrieg zu sehen
Schon lange verfolgt Ellen Hinsey die schwierigen und unwegsamen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa. © Matthes und Seitz / picture alliance / epa / Collage: Deutschlandradio
Von Claudia Kramatschek |
Die Lyrikerin Ellen Hinsey folgt den Spuren von Gewalt bis in die Sprache hinein. Auch in "Des Menschen Element" entlarvt sie den dünnen Mantel der menschlichen Zivilisation. Schmerzlich präzise sind ihre sprachlichen Analysen, aber sie könnten heilsam sein.
Als 1989 die Berliner Mauer fiel, schien das ein verheißungsvoller Schlusspunkt unter den politischen Kollaps, der die einstigen kommunistischen Regimes schon einige Jahre zuvor ereilt hatte. Verbunden mit diesem Kollaps war der Glaube, dass die Zukunft auch in Osteuropa unausweichlich auf einen politischen Frieden zulaufe, unterstützt durch die Segnungen der Demokratie.
Dieser Glaube hat sich als Illusion erwiesen, auch und vor allem in Osteuropa. Populismus, Nationalismus und Autoritarismus prägen allenthalben von Polen bis Ungarn die politische Szene. Diese Wiedergeburt eines rechtsgerichteten Illiberalismus beschäftigt auch die amerikanische Dichterin und Übersetzerin Ellen Hinsey: Anfang März 2017 erschien ihr Band "Mastering the Past", eine Sammlung persönlicher Reportagen und Interviews.
Schon lange verfolgt Hinsey – 1960 in Boston geboren, seit 1987 in Paris beheimatet – die schwierigen und unwegsamen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa, auch als Lyrikerin. Immer gilt ihr Augenmerk einer doppelten Versehrung: der traumatischen Bereitschaft zur Gewalt, die sich womöglich als des Menschen ureigenste Disposition erweist – und den Spuren dieser Gewalt bis in die Sprache hinein, wo das Trauma als Unsagbares wiederkehrt. Ellen Hinseys Suche gilt deshalb stets auch einer Sprache, die imstande wäre, von diesen Traumata Kunde zu geben.

Hinsey ist als Lyrikerin immer auch Philosophin

Ihr aktueller Gedichtband "Des Menschen Element" kreist um diese beiden Pole – in einer Sprache und einer Form, die ihresgleichen suchen. Denn Hinsey ist als Lyrikerin immer auch Philosophin: Noch dort, wo sie zurückgreift auf Zeugenvernehmungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, also Szenen von menschlicher Grausamkeit evoziert, überführt sie diese mithilfe einer dialogischen Struktur in die Sphäre der lexikalischen Reflexion: 'Historien', 'Annalen', 'Notizbuch' lauten die Überschriften dieser streng durchkomponierten Lyrik, die Notizen genauso enthält wie Aphorismen und – das ist das Glanzstück des Bandes – eine kurze Geschichte der Tyrannei.
Alles darin ist durch radikale Entschlackung hochverdichtet. Ihr genügt ein Wort, eine Wendung, um die Lügen der Geschichte, den dünnen Mantel der menschlichen Zivilisation zu entlarven: die erhobene Hand ist "gehüllt in den Duft barbarischer Notwendigkeit". Alles bei Hinsey ist losgelöst von einer individuellen Erzählung und eben deshalb von schmerzlicher Präzision:
"Genügt es nicht, dass dieser Körper, hölzerne Bürde der Hoffnung, sich den ewigen Gewalten von Zeit, Masse, Schwerkraft ergibt – Dass eine Hand, absichtlich – oder gleichgültig – erhoben Den Körper eines anderen beugen kann – oder dass durch die bloße Qual des Hungers alle Worte // Der Schriften ausgelöscht werden? Sodass was niedrig ist, weiter erniedrigt werden kann?" – so heißt es in "Zeugnis". Tatsächlich legt Ellen Hinsey Zeugnis ab – nicht zuletzt, um durch solches Zeugnis Vergebung und ergo Heilung zu ermöglichen.

Ellen Hinsey: Des Menschen Element. Gedichte
Aus dem Amerikanischen Englisch von Uta Gosmann
Mit einem Nachwort von Robert Chandler
DAAD Spurensicherung. Bd. 29, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017
156 Seiten, 22,00 Euro

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