Ellis Avery: "Die Tage des Rauchs"

Wie ein Stich ins Herz

Von Ingo Arend |
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"Die Tage des Rauchs" ist ein literarisches Ereignis, das viele Reportagen über 9/11 aufwiegt. Mit schmerzhaft dichten Skizzen und dem Blick in das Innere eines welthistorischen Sturms gelingt es der Autorin, Kunst und Authentizität zu verbinden.
"Zäsur" – das war die meistgebrauchte Vokabel für den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York. Das konkrete menschliche Leid hinter diesem Rauchzeichen des weltpolitischen Diskurses geriet jedoch schnell in Vergessenheit.
Das Gefühl einer Zeitenwende dämmerte zwar auch Ellis Avery an dem Morgen dieses unseligen Tages in Manhattan, als sie auf der Lafayette Street die schwarze Rauchwolke am "perfekt blauen" Himmel nicht zu deuten weiß.
Doch als die junge Autorin das Weiße in den Augen einer Frau sieht, die sich vom World Trade Center stadtaufwärts kämpft, wird ihr klar: "Wir steckten weiter in einer alten Welt, und diese Frau war schon in eine neue eingebrochen".

Zuflucht im Ritual einer Teezeremonie

Was das 9/11-Tagebuch, das Ellis Averys zu schreiben beginnt, so bezwingend macht, ist aber gerade das Fehlen einer politischen Großperspektive. Die Literaturwissenschaftlerin, Jahrgang 1972, beschreibt nur ihren Alltag und den ihrer Lebensgefährtin Sharon in den elf Tagen vom 11. bis 21. September.
Sie ist unfähig, zu begreifen, dass der Anschlag "wirklich passiert" ist. Sie sorgt sich um Familie und Freunde, bunkert Lebensmittel, fühlt sich hilflos in der Stadt, in der plötzlich keine U-Bahn mehr fährt.
Stumm stehen Ellis und Sharon vor den Porträtfotos der vielen Vermissten. Und weinen, als der Regen diese Gesichter langsam "zu Fetzen schmolz", als ob sie "gerade noch mal sterben".
Gegen die existenzielle Erschütterung suchen die beiden Zuflucht in dem Ritual einer Teezeremonie. Im Laufe der Tage wird die schwarze Rauchwolke weiß, bis sie schließlich verschwindet.

Der Nordturm – "ein Körper mit aufgesägter Brust"

Der Schrecken steht in diesen Notizen neben der Schönheit. Der Nordturm der Twin Towers erscheint Ellis wie "ein Körper mit aufgesägter Brust und flammendem Herzen". Dann freuen sie die fein geäderten Blütenblätter der blauen Prunkwinden an dem Haus, in dem sie wohnt.
Die politischste Regung ist noch, dass Ellis in der Stadt Schilder mit der Aufschrift "Gerechtigkeit ohne Gemetzel" aufzuhängen beginnt. Sie fürchtet einen blutigen Rachefeldzug der US-Regierung gegen die muslimische Welt.
Vor dem Hintergrund des Desasters in Afghanistan derzeit liest sich Averys damals Gefühl aufkeimender Angst vor einem sinnlosen Krieg nachgerade prophetisch.

Bewusstwerdung über globalen Mangel an Menschlichkeit

2019 starb die Autorin an einem unheilbaren Tumor. Ihr 2003 in den USA erstmals unter dem lapidaren Titel "The Smoke Week" erschienenes Buch wirkt noch 18 Jahre später wie ein Stich ins Herz, der so trifft wie das "herabgefallene Stück Fassadengitter einem Gebäude in der Flanke steckt", das Ellis am 19. September bei einem Besuch in dem "Höllenschlund" in Downtown betrachtet.
"Die Tage des Rauchs" ist ein literarisches Ereignis, das tausend Reportagen aufwiegt. Mit ihren winzigen, schmerzhaft dichten Skizzen, dem mikroskopischen Blick in das Innere eines welthistorischen Sturms, gelingt es der Autorin, zwei kaum vereinbare Kategorien zu verbinden: authentisch und kunstvoll.
Vor allem ist das Bändchen eine anrührende Erziehung der Gefühle und zur Empathie, eine Bewusstwerdung über den globalen Mangel an Menschlichkeit.
"Wie", sinniert Avery einmal über ihre Kernfrage, "bringt man sechseinhalb Milliarden Menschen dazu, sich gegenseitig wertzuschätzen?"

Ellis Avery: "Die Tage des Rauchs. 11.-21. September 2001"
Mit einer Nachbemerkung von Sharon Marcus
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Alex Stern
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2021
152 Seiten, 18 Euro

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